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Flüchtlingspolitik
"Zu mehr Großzügigkeit zurückkehren"

Der Gründer der Flüchtlingshilfeorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, fordert mehr Rechte für Flüchtlinge in Deutschland. Die Deutschen seien zwar aufnahmebereit und hilfswillig - die Flüchtlinge würden jedoch mehr respektiert, wenn sie beispielsweise früher arbeiten dürften, sagte er im DLF. Neudeck war 1945 selbst auf der Flucht - und hatte Glück im Unglück.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Cap Anamur".
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Cap Anamur". (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    Christoph Heinemann: In diesem Jahr 2015 werden wir an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern. Vor 70 Jahren waren bereits unzählige Menschen in dem von Hitlerdeutschland ausgelösten Angriffskrieg ums Leben gekommen oder in den nationalsozialistischen Lagern ermordet worden. Viele junge Männer saßen in Gefangenschaft und viele Millionen Deutsche befanden sich auf der Flucht, so auch die Familie Neudeck aus Danzig. Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, hat hat kürzlich Stationen dieser Flucht noch einmal aufgesucht. Ich habe ihn vor dieser Sendung nach seinen Erinnerungen an die Flucht gefragt.
    Rupert Neudeck: Ich habe Erinnerungen an den Januar 1945, da begann sich der Ring der Roten Armee um Danzig, meine Heimatstadt, zu schließen. Es kam abends ein Goldfasan, also ein Parteimitglied an die Tür und riss sie auf und sagte, alle, die im Altreich noch Verwandte haben, sollen jetzt verschwinden. Das heißt, bis dahin durfte man nicht weggehen. Altreich hieß das alte Deutschland, das Mittel-, Westdeutschland. Und wir haben uns dann am 31. Januar 1945 auf den Weg gemacht, um ein Schiff zu erreichen. Vorher gab es aber noch ein ganz furchtbares Erlebnis, das ich als Kind auch in Erinnerung habe und nie vergessen werde: Wir rannten aus dem Haus raus in Danzig-Langfuhr und an einem Baum, an einer Pappel hing ein Soldat, und da drunter war eine Inschrift, die meine Schwester, die schon lesen konnte, entziffern konnte, und da stand drauf: "Ich bin ein Verräterschwein!" Das war ein deutscher Soldat, der hatte desertieren wollen, weil er die Aussichtslosigkeit der Kämpfe erkannt hatte. Und das ist ein Bild, was ich mein ganzes Leben nie vergessen werde.
    Heinemann: Was war damals das Schlimmste für Sie?
    Neudeck: Die Mütter und die Frauen waren alle alleine, weil die Männer waren noch irgendwo im Krieg. Ich weiß, dass wir nur noch von der Vorstellung um Essen besorgt waren. Wir haben Spinat gehabt, der aus Brennnesseln gemacht wurde. Die Mutter hatte nichts anderes mehr zu kochen. Und wir wurden immer dünner und kleiner im Grunde. Und die Eltern, das heißt, hier jetzt nur wieder die Mutter, konnte uns auch nichts sagen. Das ist das Furchtbare bei so einer Situation. Die Erwachsenen waren nicht in der Lage, das zu leisten, was Kinder von ihnen erwarten, nämlich Schutz.
    "Für Flüchtlinge in Not ist nicht das Materielle entscheidend"
    Heinemann: Waren Sie, als Sie dann in das Altreich, das sogenannte, kamen, waren Sie damals willkommen?
    Neudeck: Man kann nicht willkommen sein, wenn man 1945 in einer ausgebombten Wirtschaft in Westdeutschland ankommt. Das geht eigentlich gar nicht. Also diese Emotionalität zu erwarten, ist fast unmöglich. Deshalb war es sehr gut, dass wir damals 1945, 46, 47 eine Zwangsbewirtschaftung hatten. Es gelang diese Aufnahme von einer gewaltigen Zahl, die in der Zeitgeschichte niemals wieder erreicht worden ist. Es gelang, uns aufzunehmen, weil wir - zum Beispiel meine Familie, wir waren vier Kinder, die Mutter, der Vater kam dann dazu, also sechs Personen. Wir bekamen nach einem Übergang von drei Wochen in einem Flüchtlingslager, wir bekamen zwei Zimmer zugewiesen in einem Haus, das einer reichen Familie in Schwerte an der Ruhr gehörte. Jetzt sagen alle, die das heute hören: Das war ja ganz furchtbar für eine so große Zahl von Menschen! Nein, das war nicht furchtbar. Für Flüchtlinge, die in Not sind, ist nicht das Materielle das Entscheidende, sondern die Klarheit des Status, dass sie wissen: Hier sind sie jetzt aufgehoben und hier kann sie niemand mehr wieder wegbringen und sie sind in Sicherheit. Das ist für Flüchtlinge, für Menschen, die auf der Flucht sind, für Menschen, die in Not sind, das Allerwichtigste.
    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben kürzlich die alte Heimat und die Stationen Ihrer Flucht noch einmal besucht. Welche Eindrücke haben Sie auf dieser Reise gewonnen?
    Neudeck: Ja, gewaltige. Ich hatte vor meinem Haus, in dem wir geboren sind, in der wir in der ersten Etage in Danzig-Langfuhr gelebt haben, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es nicht nur so ist, dass es ganz furchtbar war, was wir da erlebt haben. Sondern dass ich jetzt wieder erleben muss, dass hunderttausende von syrischen Kindern, von irakischen, von jesidischen, von christlichen, von muslimischen Kindern in der gleichen Situation sind, der Ausgesetztheit, der völligen Schutzlosigkeit. Und das Zweite war: Im Hafen von Gdingen, was jetzt Gdynia heißt, was damals den Nazi-Namen Gotenhafen trug - da sind wir am 31. Januar 1945 gewesen und haben - und ich sah das eigentlich noch mal wieder vor mir, als wir an den Landungsbrücken dort standen - wir haben damals um zwei Stunden die Wilhelm Gustloff versäumt. Wir sind zu spät gekommen.
    Heinemann: Gott sei Dank!
    Neudeck: Die Wilhelm Gustloff war das Schiff, was dann am Abend desselben Tages in der Ostsee von drei Torpedos der sowjetischen Rotbannerflotte getroffen wurde, und über 9.500 meiner Landsleute, die sich auf dieses Schiff geflüchtet hatten, sind in den Fluten der Ostsee ertrunken und erfroren. Und wir kamen einfach zwei Stunden zu spät. Wir hatten sogar Karten über einen Onkel für dieses Schiff bekommen - es gab immer noch eine ziemliche bürokratische Ordentlichkeit -, wir hatten Karten für dieses Schiff. Und mir wird ganz schwarz vor Augen, wenn ich mir vorstelle, wir wären zur Zeit gekommen in den Hafen von Gdynia. Dann könnte ich mit Ihnen hier das Interview nicht machen.
    "Unterbringung in Privatquartieren für Integration besser"
    Heinemann: 40 Jahre später haben Sie selbst Flüchtlingen geholfen als Gründer von Cap Anamur, der Organisation, die dann Tausende Vietnamesen aus dem Chinesischen Meer gerettet hat. Haben Ihnen die eigenen Fluchterfahrungen dabei geholfen?
    Neudeck: Ganz sicher. Ich glaube auch, dass es Millionen meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger - für die war es ganz wichtig, sich zurückzuerinnern an die Zeit, als es uns so wahnsinnig schlecht ging in Deutschland, als wir auf der Flucht waren, als wir auf dem Treck waren, als wir nicht mehr weiter konnten. Deshalb ist die Bundesrepublik mit ihrer Bevölkerung die aufnahmebereiteste und hilfswilligste Bevölkerung, die spendenfreudigste Bevölkerung in Europa geworden und geblieben. Und das ist etwas, was man auch mal sagen muss, auch wenn man große Schwierigkeiten hat, das heute zu sehen. Es ist weiter so, dass die Mehrheit meiner Bevölkerung eigentlich lieber diesen Menschen wohlwill und ihnen helfen will, und einige Schreihälse in unserem Land wollen das ein bisschen verdecken, und die haben leider etwas zu viel Ehre in den Medien.
    Heinemann: Wir hören häufig über Missstände bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Andersherum gefragt jetzt mal: Was klappt?
    Neudeck: Also es klappt erst mal, dass, wenn eine große Notsituation ist, dass diese meine Regierung und meine Bevölkerung bereit sind zu Großtaten. Die Großtat war zum Beispiel, am Ende des Bosnienkrieges 360.000 Menschen mit einem Schlag einfach hier aufzunehmen, muslimische Bosnier, das muss man sich klar machen. Das waren Muslime, die damals in dem Krieg in Gefahr waren, vernichtet und verfolgt und vertrieben zu werden. Das hat diese Gesellschaft, keine andere Gesellschaft in Europa geschafft. Und das ist auch heute weiter so. Wir haben auch in Bezug auf Syrien - auch, wenn wir fordern, dass mehr geschieht, ist es weiter so, dass wir dennoch im europäischen Maßstab gut dastehen und uns sehen lassen können. Es klappt auch da, wo die Gemeinden und wo die Verwaltungen bereit sind, die Bedürfnisse dieser Flüchtlinge als Menschen zu akzeptieren. Also ich war in einer Gemeinde in Minden, Westfalen, da hat es geklappt, dass die Gemeindeverwaltung alle bisher angelieferten Flüchtlinge und Asylbewerber in Privatquartieren untergebracht hat, aus der Einsicht heraus, dass das für die Integration dieser Menschen in die Bevölkerung von Minden, Westfalen, besser ist, als wenn sie in irgendwelchen Heimen oder Großsiedlungen untergebracht werden. Das geht. Man kann auch mit diesen Menschen einen guten Kontakt haben, man kann sie einbeziehen. Das ist alles möglich. Und ich bin so sehr davon überzeugt, dass wir diese positiven, diese gut laufenden erfolgreichen Beispiele weitertragen müssen, weil andere Gemeinden warten wahrscheinlich nur darauf, dieses Erfolgserlebnis mal mitzubekommen.
    "Politik hat dafür gesorgt, dass Menschen nicht für sich selbst sorgen dürfen"
    Heinemann: Herr Neudeck, bei den wöchentlichen Demonstrationen, die, wie Sie gesagt haben, zu viel Platz in den Medien einnehmen, hört man gelegentlich Sätze wie: "Die Ausländer bekommen das ganze Geld, wir nicht", oder es wird kritisiert, dass die meisten abgewiesenen Asylbewerber nicht zurückgeführt werden. So nehmen einige Menschen hierzulande die Asyl- und Einwanderungspolitik wahr. Was antworten Sie jetzt als ehemaliger Flüchtling und als humanitärer Helfer diesen Menschen?
    Neudeck: Also dem ersten sogenannten Argument würde ich fast zustimmen. Die Politik hat uns da hingetrieben, dass wir sehen, dass die Asylbewerber eben nicht das tun dürfen, was Menschen auf der ganzen Welt tun müssen, was ihr Menschenrecht ist, nämlich für sich selbst zu sorgen. Wir müssen unbedingt dazu kommen, dass diese Menschen - die wollen das auch -, dass sie sofort eine Arbeit kriegen können, dass sie eine Arbeit suchen können. Die nehmen auch Arbeiten an, die nicht ihre Traumberufe sind, die nehmen jede Arbeit an, wenn sie dafür ein paar Groschen kriegen, sind sie sehr gerne bereit, dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Die Politik und die Gesetze des Landes haben dazu geführt, dass diese Menschen weiter so veranlagt sind, dass sie eben dem Staat auf der Tasche liegen. Das ist aber nicht die Schuld dieser Menschen, nicht die Schuld dieser Flüchtlinge, nicht die Schuld dieser Asylbewerber. Das haben unsere Gesetze so gemacht. Und ich bin dafür, dass Anfang diesen Jahres gleich diese Gesetzesänderung stattfindet. Wir sind ja auf dem Wege dahin, schon nach drei Monaten dürfen in ausgewählten Situationen die Menschen schon arbeiten dürfen. Ich meine, das darf keine kleinliche Regelung sein, das muss eine ganz großzügige Regelung sein. Die Vietnamesen, die jetzt in einer Zahl von 50.000 bis 60.000 in Deutschland leben, sind deshalb die Lieblinge der Nation, weil sie vom ersten Moment des Betretens des deutschen Bodens hier alle Rechte hatten. Sie brauchten nicht mehr den Asylprozess durchführen, sie mussten nicht mehr betteln darum, dass sie hier vielleicht aufgenommen werden, sondern sie wurden mit einem Schlag aufgenommen. Das war die Großzügigkeit, von der die Väter des Grundgesetzes gesprochen haben, und zu dieser Großzügigkeit, meine ich, sollten wir in Politik, Gesellschaft und Regierung wieder zurückkehren.
    Heinemann: Und Sie haben hautnah erlebt, dass sich diese Großzügigkeit auszahlt. Sie haben im Vorgespräch erzählt, Sie sind von einem Menschen, den Sie gerettet haben, gerettet worden.
    Neudeck: Ja. Es gibt in Köln einen Kardiologen, der eine ganz besondere Technik hat, das sogenannte Vorhofflimmern, das ältere Leute manchmal haben - ich war auch mal nah dran -, der ist in der Lage, durch einen Eingriff mit einem Laser diese Krankheit zu beheben. Und das hat er bei mir getan, und deshalb habe ich scherzhaft gesagt: Wir sind jetzt mit den Vietnamesen quitt. Er hat mich gerettet, wir haben sie gerettet. Also können wir jetzt zu neuen Ufern voranstoßen.
    Heinemann: Dieser Arzt ist damals von Cap Anamur gerettet worden.
    Neudeck: Der Arzt ist damals von Cap Anamur gerettet worden.
    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.