Ann-Kathrin Büüsker: Neun Organisationen kreuzen mit ihren zwölf Schiffen auf dem Mittelmeer, um dort Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. In den vergangenen Wochen wurden viele Vorwürfe an sie gerichtet. Sie würden zum Beispiel in lybische Hoheitsgewässer fahren, um den Schleppern dort Flüchtlinge abzunehmen, sie würden quasi mit den Schleusern zusammenarbeiten. Die italienische Regierung will deshalb, dass die Flüchtlingshelfer einen Kodex unterschreiben, sich strikten Regeln unterwerfen, was die Arbeit der Organisationen durchaus einschränken würde. Und ein Teil der Organisationen weigert sich auch konsequent dagegen, den Kodex zu unterschreiben. Auch die Ärzte ohne Grenzen. Warum, darüber möchte ich mit dem Geschäftsführer der deutschen Sektion sprechen, mit Florian Westphal. Guten Morgen!
Florian Westphal: Guten Morgen!
Büüsker: Herr Westphal, wir haben uns gestern Nachmittag verabredet, um über den Kodex zu sprechen, und dann kamen am späten Nachmittag Meldungen, dass die italienischen Behörden das Boot der Rettungsorganisation Jugend rettet beschlagnahmt haben wegen des Verdachts der Beihilfe zu illegaler Migration. Wie sehr erschreckt Sie das?
Westphal: Ich muss sagen, dass ich zu den näheren Umständen jetzt auch keine weiteren Informationen habe. Aber es ist ja so, dass bis jetzt jedes Mal, wenn diese Art von Anschuldigungen gegen eine Organisation erhoben wurden, dass noch nie irgendwelche stichhaltigen Belege oder Beweise vorgebracht wurden. Und solange das weiterhin nicht der Fall ist, gehe ich davon aus, dass Jugend rettet wie auch andere vor allem im Mittelmeer sind, um dort Leben zu retten.
"Unsere Arbeit wird völlig transparent durchgeführt"
Büüsker: Verstehen Sie denn so was wie diese Beschlagnahmung als eine Art Einschüchterungsversuch?
Westphal: Ich kann das jetzt nicht weiter interpretieren. Ich würde nur darauf drängen, dass man keine Vorverurteilung vornimmt. Die Arbeit, die wir jetzt als Ärzte ohne Grenzen seit 2015 im Mittelmeer durchführen, wird völlig transparent durchgeführt. Jeder kann sogar über das Internet verfolgen, wo sich unsere Schiffe bewegen. Wir haben immer mit der italienischen Leitstelle für Seenotrettung gearbeitet, die ja unsere Einsätze größtenteils angeordnet und koordiniert hat. Wir haben also nie was verborgen, und deswegen würde ich einfach drauf drängen, dass man einfach versucht, sich auf Fakten und Information zu berufen, anstatt jetzt von vornherein Urteile zu fällen über jene Organisationen, die eben versuchen, die ja völlig unzureichende Kapazität der Seenotrettung im Mittelmeer auszugleichen, weil die europäischen Staaten es leider nicht tun.
Büüsker: Ich habe eben schon den Kodex Italiens angesprochen. Italien möchte ja, dass die Flüchtlingsretter sich strikten Regeln unterwerfen. Die Ärzte ohne Grenzen unterschreiben das nicht. Warum?
Westphal: Die meisten dieser Regeln befolgen wir eh schon. Es gibt zwei ganz präzise Gründe, warum wir den Kodex nicht unterschreiben, und die haben wir natürlich auch mehrfach in direkten Gesprächen mit den italienischen Behörden angesprochen. Der erste Grund ist der, dass der Kodex eine Regel vereinbaren will, die alle Rettungsschiffe dazu verpflichtet, die geretteten Menschen direkt in einen Hafen zu bringen und es unmöglich macht für kleinere Schiffe zum Beispiel, gerettete Menschen an größere Schiffe zu übergeben. Das würde einfach dazu führen, dass weniger Schiffe, die eben wirklich retten können, in dem betroffenen Gebiet präsent wären, weil sie mehr damit zu tun hätten, immer wieder nach Italien in einen Hafen einzulaufen. Also weniger Kapazität, um Menschenleben zu retten.
Und außerdem gibt es ja auch kleinere Schiffe, die dort Leben retten und die sich vor allen Dingen darauf konzentrieren, mit Erster Hilfe, mit Rettungswesten, mit Rettungsinseln die Menschen zu sichern, bis dann ein größeres Schiff kommt, um sie zu übernehmen. Und diese Regelung führt nicht dazu, dass mehr Menschenleben gerettet werden können, sondern im Zweifelsfall vielleicht sogar eher das Gegenteil. Der zweite Punkt betrifft die Präsenz von bewaffneten Polizisten an Bord. Wir haben eine generelle Regel bei Ärzte ohne Grenzen in unseren Projekten weltweit, viele davon in Konfliktgebieten: Es werden nie Waffen an den Projektorten zugelassen. Dies würde unsere Neutralität, unsere Unabhängigkeit in Frage stellen und uns gegebenenfalls auch direkten Risiken aussetzen.
"Hilfeleistung darf nicht durch Polizeipräsenz behindert werden"
Büüsker: Aber unbewaffnete Polizeikräfte wären okay?
Westphal: Ja, wir haben immer gesagt, dass unbewaffnete Polizeikräfte für uns per se kein Problem darstellen, solange klar ist, dass die medizinische Hilfe, die wir ja vor allem an Bord leisten für Menschen, die in extrem besorgniserregendem Gesundheitszustand sind sehr oft, dass die nicht durch die Polizeipräsenz behindert wird. Aber die Bewaffnung als solche hat das Hauptproblem dargestellt.
Büüsker: Finden Sie das denn grundsätzlich nachvollziehbar, dass Italien die Einsätze der Hilfsorganisationen reglementieren will?
Westphal: Italien hat in punkto Seenotrettung wirklich extrem viel geleistet. Die italienische Küstenwache hat sehr viele Menschenleben selbst retten können. Die Koordinationsstelle, die Leitstelle ist wirklich wesentlich in der Koordination dieser Einsätze. Aber das Problem ist ja, dass Italien mit dieser Verantwortung weitestgehend alleingelassen wird vom Rest der Europäischen Union, von den anderen Mitgliedsstaaten. Dass die Europäische Union und ihre Staaten sich weigert, die ja eigentlich staatliche Verantwortung Seenotrettung durchzuführen, endlich wahrzunehmen und stattdessen, weil das eben nicht geschah, sind wir und andere Nichtregierungsorganisationen dort angetreten, um das zu tun.
Aber die Staaten können sich dieser Verantwortung nicht entziehen und sozusagen uns aufzufordern, transparent zu sein über das, was wir tun und wie wir das tun, ist absolut in Ordnung. Aber das ändert nichts daran, dass wir überhaupt nicht dort präsent sein sollten, sondern dass das die Verantwortung der Staaten ist, dort dafür zu sorgen, dass nicht Tausende von Menschen ertrinken.
"Wir wissen um die Situation der Menschen in Libyen"
Büüsker: Es gibt ja immer wieder Vorwürfe, die Rettungsorganisationen würden den Schleppern das Geschäft erleichtern, indem sie eben da sind, indem sie die Flüchtlinge eben aufnehmen. Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um?
Westphal: Wir wissen ziemlich genau, auch aus erster Hand dank der Tätigkeit unserer Mediziner in Gefängnissen in Libyen, wie sich die Situation für die Menschen in Libyen darstellt, vor der sie fliehen. Wir wissen von den Misshandlungen, von der Folter, von der sexuellen Gewalt, Zwangsarbeit, völlig willkürliche Verhaftungen, denen viele dieser Flüchtlinge und Migrantinnen ausgesetzt sind, die hinterher im Endeffekt von uns gerettet werden. Diese Menschen fliehen, weil sie aus Libyen weg fliehen müssen, weil sie dort Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind. Das ist der Grund, aus dem sie fliehen. Und wenn man sie daran hindert, dann verdonnert man sie im Endeffekt dazu, weiter dieser Gefährdung in Libyen ausgesetzt zu sein. Und das kann nicht richtig sein.
Büüsker: Nun arbeiten ja viele der Hilfsorganisationen im Mittelmeer mit Freiwilligen, die sich an Bord der Schiffe befinden. Wie lässt sich da ausschließen, dass vielleicht hier und da doch mal die Grenzen des Erlaubten überschritten werden, zum Beispiel, dass in lybische Hoheitsgewässer eingedrungen wird?
Westphal: Wir arbeiten nur mit unseren eigenen Mitarbeitenden. Die werden nach genau den gleichen Kriterien ausgewählt wir für alle anderen Projekte. Da gibt es eine Organisation, eine Struktur, auch durchaus eine gewisse Disziplin, die befolgt werden muss. Und wer sich nicht an die Regeln hält, der wird nach Hause geschickt. Das ist ganz klar.
Vorwürfe belegen und transparent vorlegen
Büüsker: Das heißt aber, für Ihre Kollegen, die da unterwegs sind auf dem Mittelmeer, können Sie nicht die Hand ins Feuer legen, für die anderen Organisationen?
Westphal: Ich kann natürlich nur über die Organisation Ärzte ohne Grenzen urteilen, die ich selbst vertrete, weil da sind wir ständig an Bord präsent. Ich möchte aber wiederum darauf hinweisen, dass, wenn man Vorwürfe gegen andere Organisationen hat, dann soll man die belegen und transparent vorlegen, aber nicht einfach irgendwelche Gerüchte streuen. Was den Vorwurf wegen der libyschen Gewässer angeht, will ich nochmal darauf hinweisen: Letztes Jahr waren wir ja teilweise mit bis zu drei Rettungsschiffen im Mittelmeer. Es hat genau drei Vorfälle gegeben, wo wir etwa eine halbe Seemeile in libysche Gewässer eingetreten sind, um direkt eine akute Rettung durchzuführen. In jedem dieser Fälle haben wir das getan mit ausdrücklicher Genehmigung der italienischen Leitstelle für Seenotrettung. Also da war nichts, das irgendwie im Versteckten oder im Verborgenen abgelaufen ist, und wie gesagt, dreimal bei etwa 200 geschätzten Einsätzen.
Büüsker: Sie haben eben in unserem Gespräch gewürdigt, was Italien bisher geleistet hat für die Rettung auch der Flüchtlinge. Ein Beispiel ist da sicherlich die Operation Mare Nostrum, die ja eingestellt worden ist. Nun hat das Parlament in Italien gerade beschlossen, dass der Marineeinsatz wieder ausgeweitet wird, und zwar bis in libysche Hoheitsgewässer hinein. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Westphal: Das lässt sich im Moment noch nicht so recht beurteilen. Wenn das dazu führt, dass im Endeffekt durch diese italienischen Kriegsschiffe mehr Menschen, die in akuter Seenot sind, gerettet werden, dann ist das eine gute Sache. Das bedeutet dann im Zweifelsfalle, würde bedeuten, dass wir weniger Menschen retten müssten. Was wirklich problematisch und höchst kritisch wäre, ist, wenn Menschen, die dort gerettet werden, dann nach Libyen zurückgebracht werden, ein Land, in dem sie keinen Schutz erfahren, in dem sie Repressalien, womöglich Gewalt und willkürlicher Festnahme ausgesetzt sind. Das wäre etwas, was natürlich dem legitimen Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit dieser Menschen überhaupt nicht entsprechen würde.
Wie stehen wir zum Beispiel da im Vergleich zu Uganda?
Büüsker: Und trotzdem wird ja darüber auch immer wieder gerade auch bei uns in Deutschland diskutiert. Und die Forderung kommt immer wieder auf, die Menschen zurück nach Libyen zu bringen. Wie erklären Sie sich, dass diese Forderung immer wieder kommt, obwohl wir wissen, was die Menschen dort erwartet?
Westphal: Ich glaube, es gibt hier unterschiedliche Perspektiven, ganz ehrlich gesagt. Ich glaube, wir haben wiederholt gesehen, in Deutschland, aber auch europaweit, eine Politik, die vor allem darauf abzielt, Menschen daran zu hindern, in Europa Sicherheit und Schutz vor Verfolgung zu finden. Und wenn man natürlich diese Perspektive einnimmt, dann versucht man, wie es auch immer geht, einfach Menschen dort zu halten, wo sie sind. Und ich glaube, die Perspektive macht es sich zu einfach. Sie verneint einfach auch die Tatsache, dass Europa wirklich nur marginal von dieser globalen Krise der Flucht und Vertreibung, die wir überall sehen, betroffen ist. Wie stehen wir zum Beispiel da im Vergleich zu dem Land Uganda, 35 Millionen Einwohner, das letztes Jahr alleine mehr Flüchtlinge aus dem Südsudan aufgenommen hat, als über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind. Wie wollen wir, das reiche Europa, eigentlich erklären, dass wir nicht bereit sind, unseren Teil der Verantwortung für diese globale Krise mit zu übernehmen?
Büüsker: Sagt Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk!
Westphal: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.