Seit Beginn des Jahres haben circa 31.500 Migranten versucht, von Frankreich nach Großbritannien zu kommen. Die Zahl hat sich seit August verdoppelt. Filmaufnahmen von illegalen Überfahrten zeigen, wie Menschen mit Schwimmwesten, auch Kinder an der Hand ihrer Eltern, an den Strand kommen und dicht gedrängt in riesige Schlauchboote gesetzt werden. Diese Gummiboote sind ungeeignet für die Überfahrt über den Ärmelkanal, die zwischen sechs und zehn Stunden dauert. Zudem sind viele große Tanker unterwegs, die eine zusätzliche Gefahr bedeuten.
Am 24.11.2021 ist ein Schlauchboot mit Migranten im Ärmelkanal gekentert. Dabei starben mindestens 27 Menschen, zwei Migranten konnten gerettet werden. Dies ist das schwerste Unglück seit 2018. Seitdem verschärft sich der Streit zwischen Frankreich und Großbritannien darüber, wie mit der Flüchtlingssituation umgegangen werden soll. "Es ist Fakt, dass Menschen aus Nahost, aus Nordafrika, aus dem Sudan, sogar aus Asien, die in Europa angekommen sind, dass deren Kompass nach Europa gestellt ist, ähnlich wie das 2015 für Deutschland war",
sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn am Montag (29.11.2021) im Dlf
.
Asselborn: Es braucht eine europäische Migrationspolitik
Einig sind sich die Großbritannien und Frankreich darüber, dass entschiedener gegen Schleuser vorgegangen werden muss. Doch bezüglich des Verbleibs der Flüchtlinge bestehen große Differenzen. Asselborn sagte, die Briten hätten den Franzosen umfangreiche Finanzhilfen zur Überwachung der gemeinsamen Grenze zugesagt. Davon stünden in diesem Jahr noch 60 Millionen Euro aus. Allein werden die Briten das Problem nicht meistern. Er sprach sich für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik aus. "Wenn man alles nur dicht macht, koste was es wolle an den Grenzen, ohne Ventile aufzulassen, führt das zur humanitären Katastrophen, wenn wir keine humanitären Visa ausstellen und keine legale Migration tolerieren", sagte Asselborn.
Warum riskieren die Menschen die gefährliche Überfahrt?
Pure Verzweiflung oder Perspektivlosigkeit spricht immer wieder aus den Geschichten, die Flüchtlinge erzählen. Sie verlassen Länder, in denen sie aus unterschiedlichen Gründen keine Zukunft für sich sehen. Die meisten, deren Ziel Großbritannien ist, haben dort schon Familie. In Frankreich können einige gar nicht bleiben, weil sie dort kein Asyl bekommen würden. Und wenn sie nach einem sehr langen, sehr beschwerlichen und gefährlichen Weg das Ziel Großbritannien so nahe vor Augen haben, scheint das Risiko überschaubar, und sie begeben sich auf diese gefährliche Reise.
Worüber streiten Frankreich und Großbritannien?
Es gibt ein Abkommen zwischen Frankreich und Großbritannien, das auch immer wieder nachgebessert wurde: Das sogenannte Abkommen von Touquet sieht vor, dass Frankreich die Grenze mit Blick auf illegale Migration stärker kontrolliert und Großbritannien den Grenzschutz mitfinanziert. Doch immer wieder kommt es zu Konflikten. Zuletzt hatte London gedroht, bereits vereinbartes Geld nicht auszuzahlen. Der Vorwurf der britischen Seite: In Frankreich halte man nicht genügend Migranten von der Überfahrt ab.
Karl Kopp (Pro-Asyl): "Es fehlt ein gemeinsames Konzept des Flüchtlingschutzes"
Frankreich hingegen verweist auf die Boote, die man sehr wohl zurückgehalten habe. In diesem Jahr seien schon 1.500 Schlepper verhaftet und 44 Netzwerke zerschlagen worden. Zudem verweist man darauf, dass Frankreichs Küste 200 Kilometer lang ist und unmöglich komplett zu kontrollieren – es gebe schließlich keine Mauer. Frankreich fordert von Großbritannien, legale Wege der Immigration zulassen. Doch das widerspricht dem Kurs der Regierung in London, die immer mehr auf Abschottung setzt. So schlägt Premierministers Boris Johnson in einem persönlichen Schreiben an Macron, das er selbst am 25.11.2021 auf Twitter veröffentlichte, ein Abkommen vor, "das es erlaubt, dass alle Migranten, die illegal über den Ärmelkanal kommen, zurückgebracht werden". In Paris wird der Vorschlag der Rückführung als nicht zielführend gewertet und die Kommunikation über Twitter als "unseriös" kritisiert.
Johnsons Kalkül wird wahrscheinlich aufgehen - Kommentar von London-Korrespondentin Christine Heuer
Wie wollen die Länder weiter vorgehen?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach der Bootskatastrophe schnell reagiert und mitgeteilt, Frankreich werde den Ärmelkanal nicht zum Friedhof werden lassen. Er forderte eine Dringlichkeitssitzung von europäischen Ministern, die von dieser Herausforderungen der Migration betroffen sind. Er rief dazu auf, die kriminellen Netzwerke schneller zu zerschlagen - zusammen mit Großbritannien, Belgien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Zudem verlangte er von anderen europäischen Staats- und Regierungschefs, die Mittel für die europäische Grenzschutzagentur Frontex unmittelbar zu verstärken.
Der britische Premierminister Johnson hat nach eigener Aussge neben der Rückführung weitere Maßnahmen vorgeschlagen, um die illegalen Überfahrten zwischen beiden Ländern zu verhindern. Dazu gehöre der Vorschlag gemeinsamer Polizeistreifen an französischen Stränden und Patrouillenfahrten in den Hoheitsgewässern des jeweils anderen Landes, was Frankreich bisher abgelehnt hatte.
Beide Länder haben Schleppern den Kampf angesagt: So versicherte Macron, es werde alles getan, um die Verantwortlichen der Bootskatastrophe zu finden und zu verurteilen. Ähnlich äußerte sich Innenminister Gérald Darmanin. Man will mit Härte gegen die Schlepper reagieren. Auch der britische Innen-Staatssekretär Kevin Foster sagte der BBC, die Regierung sei entschlossen, das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler zu zerstören. Dies sei nicht allein Aufgabe Frankreichs. Vielmehr sei ein gemeinsamer europäischer Ansatz nötig.
Warum ist das Vorgehen gegen Schlepper so schwer?
Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin schildert, wie schwer der Kampf gegen das Geschäft mit den Menschen ist: „Wir kennen diese mafiösen Organisationen. Leider sind sie international und haben viel Geld. Und leider nutzen sie verschlüsselte Telefone." Die Situation sei komplex – wie beim Kampf gegen den Drogenhandel, sagt auch Didier Leschi, Generaldirektor des französischen Amtes für Migration und Integration: „Wir haben 200 Kilometer Küste und leider eine Professionalisierung der Schlepper. Wir haben keine Mauer am Ärmelkanal. Man sagt uns, die Schlepper kommen aus Deutschland. Ja, denn wir haben keine internen Grenzen in der EU, an denen alle Leute, die in Lastwagen sind, oder das Material, das hier ankommt, kontrolliert werden.“
Was fordern Hilfsorganisationen?
Immer wieder zerstören französische Sicherheitskräfte die Camps von Migranten entlang der Küste – mit dem Argument, die Menschen würden sich dann in Auffangzentren begeben. Die Camps seien die Manövrierbasis für die schmutzige Arbeit der Schlepper. Kritiker bemängeln jedoch, die Zerschlagung bringe die verzweifelten Männer, Frauen und Kinder erst recht dazu, sich in die Hand von Schleppern zu begeben. Claire Millot von der Organisation Salam, die sich für eine humane Migration einsetzt, spricht sich dafür aus, die Migranten aufzunehmen, anstatt ihnen Auffanglager anzubieten:
„Je mehr wir die Migranten davon abhalten wollen, den Ärmelkanal zu überqueren, desto mehr Risiken werden sie eingehen. Sie sind in den Lastwagen gefahren – das war gefährlich. Sie überqueren das Meer, das ist noch gefährlicher. Wenn wir sie davon abhalten, auf die Boote zu gehen, werden sie schwimmen. Dann haben wir hundert Prozent Tote. Natürlich wollen sie die Unterkünfte nicht. Wir müssen sie ganz ernsthaft aufnehmen.“
Quelle: Christiane Kaess