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Flüchtlingssituation im Irak
"Es ist absoluter Horror"

Der österreichische Europaabgeordnete Michel Reimon beschreibt die Lage der Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge als dramatisch. Er hat vor Ort einen Evakuierungsflug begleitet. Die Behauptung der USA, die Situation wäre nicht so schlimm wie befürchtet, sei zynisch, sagte er im DLF.

Michel Reimon im Gespräch mit Christine Heuer |
    Zwar sei seit Kurzem ein Landkorridor aus dem Gebirge wieder offen und es würden auch Tausende Menschen gerettet. Trotzdem seien weiterhin Tausende Menschen der Hitze im Gebirge ausgeliefert und stünden vor dem Verdursten. "Es muss jetzt schnell geholfen werden," sagte Reimon, der für die österreichischen Grünen im Europaparlament sitzt.
    Die Menschen kämen in absoluter Todesangst auf die Helikopter zugelaufen und versuchten mit allen Mitteln an Bord zu kommen. "Jeder versucht, zu überleben." Dabei kommt es teilweise zu dramatischen Szenen: So seien bereits Menschen, die sich an die Hubschrauber gehängt hatten, aus der Luft in den Tod gestürzt.
    Die Behauptung der USA, die Lage der Flüchtlinge habe sich stark verbessert, hält Reimon für innenpolitisch motiviert. Man wolle nicht zu tief mit eigenen Truppen in den Konflikt verwickelt werden.
    Reimon hält die Lieferung von Waffen in die Region für richtig. Die Menschen wollten sich verteidigen, sie hätten Angst, "massakriert zu werden". Es gebe zwar ein Gefühl, dass Europa sich zu wenig engagiere, allerdings sei damit nicht die Erwartung verbunden, dass Europa den Konflikt löse: "Sie haben einen gewissen Stolz, sie wollen nicht nur von außen gerettet werden."

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Michel Reimon ist Grüner, österreichischer Grüner, er ist Abgeordneter im Europaparlament und dort Experte für Syrien und Irak. Er war selbst bis gestern in Erbil und mit einem irakischen Hilfsflug auch sogar im Sindschar-Gebirge. Michel Reimon ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Michel Reimon: Guten Morgen!
    Heuer: Diese Kehrtwende, die wir aus den USA berichtet bekommen, wie beurteilen Sie die? Haben Sie selber auch den Eindruck gehabt, dass es den Flüchtlingen zuletzt besser ging oder dass es deutlich weniger sind als noch in den vergangenen Tagen?
    Reimon: Na ja, das erste Opfer des Krieges ist bekanntlich die Wahrheit. Man kann keiner Informationen und keiner Zahl, die man bekommt, wirklich glauben und vertrauen. Wenn die Vereinten Nationen sagen, dass Zehntausende Flüchtlinge am Berg sind, dann sind die wahrscheinlich die mit dem geringsten Eigeninteresse, eine Zahl hoch- oder runterzurechnen. Und von einem Überflug kann man die Anzahl nicht beurteilen. Deswegen traue ich mich, keine eigene Schätzung abzugeben. Was sicher stimmt, ist, dass der Landkorridor, auf dem Flüchtlinge von den kurdischen Kämpfern gerettet werden, seit zwei Tagen wieder offen ist und dass tausende Leute gerettet werden. Die amerikanische Entscheidung, zu sagen, es sind nur noch - ihrer Meinung nach - wenige Tausend oben und deswegen ist eine Hilfsaktion nicht notwendig, ist aber zynisch. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe das Video gedreht von einer Rettungsaktion und kommentiert, die Situation auf dem Berg dort dann dargestellt, man kann sich dieses Video anschauen: Davon, dass keine Not herrscht und es keinen Grund gibt, diese Menschen so schnell wie möglich zu retten, kann keine Rede sein. Es hat dort 45 Grad mittags und am frühen Nachmittag auf diesem Berg, 45 Grad, die Menschen haben zu wenig Wasser, die Kinder sind kurz vor dem Verdursten. Es muss sofort und so schnell wie möglich geholfen werden. Es kann für viele Menschen zu spät sein, wenn man sich zwei Tage Zeit lässt.
    Heuer: Herr Reimon, diese Filmaufnahmen, die sind in Deutschland und Europa auch gezeigt worden, viele Hörer werden diese Bilder kennen. Nur noch mal kurz nachgefragt zu den USA: Wie erklären Sie sich dann diese Kehrtwende, wenn Sie sagen, die Lage ist wirklich dramatisch und bleibt es, obwohl einige Tausend gerettet werden konnten?
    Reimon: Ja, das kann ich mir jetzt nur innenpolitisch US-amerikanisch erklären, dass die Obama-Regierung großes Interesse hat, nicht zu tief verwickelt zu werden mit eigenen Truppen, mit eigenen Hilfstruppen.
    Mann vom Helikopter in den Tod gestürzt
    Heuer: Sie haben den Hilfsflug erwähnt, den Sie mitgemacht haben in einem Helikopter. Woran vor allem erinnern Sie sich von diesem Flug? Welches Bild bleibt Ihnen im Kopf?
    Reimon: Es sind zwei, also es sind zwei Mädchen, zwei Kinder, die von ihrem Vater hineingehoben wurden in den Helikopter, und als er einsteigen wollte, hat der Soldat an der Tür nicht verstanden, dass die Kinder schon im Helikopter sind oder es nicht gesehen und dachte, da steigt ein Mann alleine ein, und sie versuchen, das zu verhindern, sie versuchen eben, vor allem Frauen und Kinder an Bord zu kriegen und keine einzelnen Männer, die am stärksten sind körperlich und den ganzen Helikopter besetzen würden, und hat diesen Mann zurückgestoßen. Und er kam dann nicht an Bord, der Helikopter flog weg und die beiden Mädchen haben die ganze Zeit nach ihren Eltern gerufen und haben dann diesem Soldaten vorgeworfen, ihren Vater aus dem Hubschrauber geworfen zu haben. Und der hat zu weinen begonnen, fast hemmungslos zu weinen begonnen, obwohl er noch wenige Minuten davor am Maschinengewehr gestanden ist und auf die IS-Truppen schießen musste, und hat die Mädchen versucht zu trösten. Und hat dann eine Halskette abgenommen mit einem Kreuz, hat das einem der Mädchen geschenkt und hat sich den ganzen Flug rührend um diese Kinder gekümmert und hemmungslos geweint, als er am Schluss aus dem Hubschrauber ausgestiegen ist, weil er einfach es nicht verarbeitet hat, dass er Waisen geschaffen hat.

    Die Videoaufnahmen von Michel Reimon:

    Heuer: Verzweiflung - ist das die Gemütsverfassung der Flüchtlinge, oder wie würden Sie das beschreiben?
    Reimon: Ja, also die Menschen kommen in absoluter Todesangst auf diesen Helikopter zugelaufen, wenn der landet, versuchen, irgendwie an Bord zu kommen. Da setzen alle, sozusagen alle Gedanken oder so aus, das ist reine Panik um diesen Helikopter herum. Jeder versucht, zu überleben, weil das die einzige Chance ist, dort rauszukommen. Deswegen kann der auch nur kurz stehen bleiben und muss irgendwann abheben, ohne dass den Leuten gesagt werden kann, tretet weg, wir heben ab. Die Helikopter heben ab in der Menge, Menschen hängen halb dran und man versucht dann, so viele wie möglich davon noch reinzuziehen, und manche fallen runter. Einer der Hilfsmitarbeiter, mit denen ich geflogen bin, hat mir erzählt, am Flug davor ist ein Mann bis zu 100 Meter Höhe am Helikopter gehangen und dann konnte er sich nicht mehr halten, ist natürlich in den Tod gestürzt, und der Mitarbeiter ist dann an der Tür des Helikopters gestanden und musste ihm dabei zusehen. Also es ist absoluter Horror.
    "Ein Massenmord durch Hitze"
    Heuer: Herr Reimon, bei dem Flug, bei dem Sie dabei sind, da konnten 100 Flüchtlinge ungefähr mitgenommen werden. Was erzählen die denn über die IS-Dschihadisten?
    Reimon: Die haben dort keinen direkten Kontakt zu den Dschihadisten. Die Situation ist so: Die Dschihadisten haben ihre Städte und Dörfer eingenommen, diese Menschen sind in der Nacht geflohen, meistens noch mit Autos, vollgepackten Autos in dieses Bergmassiv gefahren - man sieht beim Hinflug ihre Autos an den Straßenrändern geparkt - so weit sie eben fahren konnten, und dann sind sie zu Fuß weiter auf den Berg hinauf gelaufen. Wenn die die Dschihadisten treffen würden von Angesicht zu Angesicht, würden sie ermordet werden. Was die Dschihadisten da machen, ist ein Massenmord durch Hitze. Sie umstellen dieses Bergmassiv und greifen nicht an und warten darauf, dass diese Menschen den Hitzetod, den Dursttod sterben. Das heißt, einen direkten Kontakt hatten diese jetzt hier auf dem Berg gar nicht, sonst wären sie tot.
    Heuer: Haben Sie selbst die Nähe der ISIS gespürt?
    Reimon: Die waren am nähesten Punkt 15 Kilometer an der Front und es ist alles, gut, am Berg sogar noch mehr, es ist dort alles voll mit - es ist eine unglaubliche Anzahl an Flüchtlingen. Und ich bin von diesem Helikopterflug sechs Stunden mit dem Auto zurück nach Erbil gefahren und das war eine Sechs-Stunden-Fahrt vorbei an Menschen, die am Straßenrand sitzen und kein Dach mehr über dem Kopf haben. Also das spürt man unmittelbar, ja.
    Heuer: Also und mittelbar dann dadurch auch die Islamisten. Haben die Menschen in der Region das Gefühl, dass Europa genug für sie tut?
    Reimon: Ja und nein. Also die Menschen haben, das muss man auch sagen, sie haben einen gewissen Stolz und eine gewisse Selbstständigkeit und sie wollen nicht nur von außen gerettet werden. Die wollen das Problem schon selbst in den Griff kriegen und selbst Herr dieser Lage werden und bitten dann um Unterstützung. Da hat einer zu mir gesagt - das fand ich sehr interessant: In den politischen Gesprächen vor der Rettungsaktion habe ich ja mit sehr vielen Politikern mich getroffen drei Tage lang. Einer hat gesagt: Wir schauen voller Hingabe nach Europa - eure Völker haben Jahrhunderte lang Krieg geführt und jetzt löst ihr eure Probleme politisch. Warum sollen wir das im Irak nicht auch können, obwohl wir uns seit Jahrzehnten bekämpfen? Und wenn wir mit so viel Hingabe zu euch schauen, dann schaut doch auch zu uns und helft uns dabei. Also es gibt das Gefühl, dass wir, dass Europa sich zu wenig engagiert, ja. Aber es wird nicht erwartet, dass wir das Problem lösen, sagen wir so.
    "Die Menschen wollen sich verteidigen"
    Heuer: Frankreich liefert jetzt Waffen. Sie ahnen, dass das die Diskussion ist, auf die ich auch mit Ihnen noch zu sprechen kommen möchte, Herr Reimon. Frankreich liefert Waffen. Finden Sie, Deutschland sollte das auch tun?
    Reimon: Ich möchte eine Einschränkung machen, bevor ich das sage. Ich bin Politiker eines neutralen Landes und wir haben ein Waffengesetz, das Österreich den Export verbietet. Ich tue mich etwas schwer, andere Länder dann dazu aufzufordern. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich es richtig finde, dass es passiert, dann ja. Im Krieg ist es oder in der Realpolitik ist es halt oft so, dass man nicht zwischen einer guten und einer schlechten Möglichkeit entscheiden kann, man entscheidet hier zwischen einer schlechten und einer noch viel, viel schlechteren Möglichkeit. Waffen zu liefern in eine Region, in der praktisch jede Partei eigene Schutztruppen hat und die auch bewaffnet, ist keine gute Idee. Diese Waffen nicht zu liefern und die totale Überlegenheit dieser Fundamentalisten so bestehen zu lassen, diese Massenmorde so weitergehen zu lassen, ist aber die noch viel, viel schlechtere Idee. Wenn man mit den Menschen in Erbil spricht und in der Umgebung, dann hat das - nach meiner Wahrnehmung, nachdem ich eine Woche unten war - uneingeschränkte Zustimmung. Diese Menschen wollen sich verteidigen. Die haben Angst, massakriert zu werden und warten auf diese Waffen. Vielleicht zur Erklärung, warum diese Überlegenheit so extrem ist: Die irakische Armee, die Bundesarmee war aufgerüstet mit Waffen im Milliardenwert und an der syrischen Grenze stationiert, um sich gegen die ISIS zu verteidigen, die in Syrien sich gebildet hat. Und als die am 9. Juni über die Grenze gegangen sind, sind die irakischen Soldaten desertiert und haben die Waffen stehen gelassen. Und ISIS hat am 9. Juni Waffen in Milliardenwert erbeutet, während die kurdischen Kämpfer mit Kalaschnikows kämpfen, die 20 Jahre alt sind. Das erklärt diesen Blitzkrieg.
    Heuer: Vielen Dank für Ihre Einschätzungen und für Ihre Beobachtungen. Michel Reimon war das, er ist österreichischer Grüner, Europaabgeordneter und er war selbst im Sindschar-Gebirge und hat in Erbil Gespräche geführt. Nochmals vielen Dank, Herr Reimon!
    Reimon: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.