Es gehe um ganz wenige Flüchtlinge, sagte Keller. "Es wird kein Land überfordern. Alle sind Teil der EU, die nun mal auf Solidarität fußt. Alle müssen mal solidarisch geben und mal solidarisch nehmen", sagte sie an die Adresse von Tschechien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei. Diese Länder hatten am Dienstag gegen die Umverteilung gestimmt. Keller sagte, sie erwarte, dass der Beschluss von diesen Ländern dennoch umgesetzt werde. Unionsrecht gelte für alle Länder in der EU, sagte die Grünen-Politikerin.
Sie nannte es "bemerkenswert", dass erstmals ein EU-Beschluss mit vier Gegenstimmen verabschiedet worden sei. "Es ist wichtig, dass man das Mehrheitsrecht nutzt", sagte sie im Hinblick auf die Regelung im Lissabon-Vertrag. "Die Symbolkraft [der Entscheidung] ist groß, auch wenn es nur einmalig für 120.000 Flüchtlinge gilt", sagte Keller. Es sei ein wichtiger Schritt zu einer besseren Gesetzgebungsstrategie in der EU.
Asylsystem krankt
Keller wies darauf hin, dass es trotz dieser Entscheidung große Probleme gebe. "Das Asylsystem krankt an allen Ecken und Enden". Das Verteilsystem nach dem Dublin-Verfahren funktioniere nicht. Es müsse darum gehen, Menschen Schutz zu bieten und legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen. Es sei hingegen keine Lösung, eine Liste mit sicheren Herkunftsländern aufzustellen. "Das hat gar keine Priorität", sagte Keller.
Die EU-Innenminister hatten gestern mit einer Mehrheit und vier Gegenstimmen beschlossen, 120.000 Flüchtlinge innerhalb der EU umzuverteilen. Zu den Widerständlern gehören Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei
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Jasper Barenberg: Gewaltig geknirscht hatte es im Vorfeld. Die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union stand auf dem Spiel, weil viele Flüchtlinge kommen, aber zu Tausenden werden sie derzeit hin- und hergeschoben, weil einige wenige die Lasten tragen und die anderen sich verweigern. Bei ihrem zweiten Treffen hat die große Mehrheit der Innenminister gestern Abend die Ressortchefs aus Ungarn, Rumänien, Tschechien und der Slowakei überstimmt.
Am Telefon ist Ska Keller von den Grünen, im Europaparlament unter anderem Berichterstatterin für das Thema Flüchtlingspolitik und Quote. Schönen guten Morgen, Frau Keller.
Am Telefon ist Ska Keller von den Grünen, im Europaparlament unter anderem Berichterstatterin für das Thema Flüchtlingspolitik und Quote. Schönen guten Morgen, Frau Keller.
Ska Keller: Guten Morgen.
Barenberg: Dass sich nun eine Mehrheit gegen das Nein aus vier Mitgliedsstaaten durchgesetzt hat, wie bemerkenswert ist das aus Ihrer Sicht?
Keller: Das ist schon sehr bemerkenswert, denn der Rat versucht ja, in aller Regel alles im Konsens zu entscheiden. Dabei gibt es ja seit dem Lissabon-Vertrag dieses Instrument, auch mit Mehrheit entscheiden zu können. Es ist auch wichtig, dass man das nutzt, damit nicht alle Entscheidungen blockiert werden können.
Wir haben keine legalen Einreisemöglichkeiten
Barenberg: Luxemburgs Außenminister und Innenminister Jean Asselborn, der Ratspräsident, der die Verhandlungen vorbereitet hat und das Treffen gestern geleitet hat, er sagt, wir sind jetzt einen gewaltigen Schritt vorangekommen. Sehen Sie das auch so?
Keller: Es ist auf jeden Fall ein wichtiger Schritt. Klar sind 120.000 Flüchtlinge nicht viel. Wir haben gerade viel mehr in Europa. Wir haben immer noch ganz große Probleme, zum Beispiel, dass es keine legalen und sicheren Einreisemöglichkeiten gibt für Flüchtlinge, dass das Asylsystem, das wir bereits haben, an allen Ecken und Enden krankt, dass Dublin grundsätzlich nicht funktioniert, also das Verteilsystem von Flüchtlingen, das wir gerade haben. Es gibt ganz, ganz gewaltige Baustellen noch, aber da war die Entscheidung von gestern schon ein wichtiger Schritt.
Barenberg: Ist da denn aus Ihrer Sicht ein Schalter umgelegt worden auf dem Weg zu einer anderen Politik, was Asylsuchende und Flüchtlinge betrifft?
Keller: Ich denke schon. Obwohl die Zahl gering ist, ist die Symbolkraft groß. Es geht hier um einen Verteilschlüssel, der zwar nur für den Notfall und für die einmalige Situation gilt, aber der schon was Neues darstellt. Wir hatten ja erst den Beschluss von 40.000 Flüchtlingen, die verteilt werden sollen. Das ist aber durch eine andere Art und Weise zustande gekommen, sodass zum Schluss nicht die 40.000 von der Kommission da waren, sondern nur 32.000 Flüchtlinge umverteilt werden sollen. Jetzt gibt es eine neue Art von Beschluss. Es gibt den Beschluss mit qualifizierter Mehrheit. All das sind wichtige Schritte hin auch zu einer besseren Gesetzgebungsstrategie in der Europäischen Union.
EU fußt auf Solidarität
Barenberg: Sie bewerten das jetzt vergleichsweise positiv, sehen das positive Element, dass man in Streitfragen auch eine Entscheidung herbeiführen kann. Auf der anderen Seite treibt dieses Thema ja weiter einen Keil durch die Union. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass jetzt viel gewonnen ist?
Keller: Weil der Keil nicht wirklich reingetrieben werden konnte, weil es zum Schluss eine Mehrheitsentscheidung gab, auch eine mit großer Mehrheit, und natürlich ist das nicht schön für die Länder, die verlieren, aber sie haben auch dem Instrument der qualifizierten Mehrheitsentscheidung zugestimmt. Alle sind Teil der Europäischen Union, die nun mal auf Solidarität fußt. Sonst kann sie nicht funktionieren. Wir alle müssen mal Solidarität geben und mal Solidarität nehmen. Und ich kann nur hoffen, dass die Mitgliedsstaaten, die da gestern nicht mitgestimmt haben, nicht dafür gestimmt haben, dass die einsehen, dass Unionsrecht auch für alle gilt.
Barenberg: Wie sinnvoll ist es denn, Schutzsuchende in Länder wie Tschechien, Ungarn oder die Slowakei zu verteilen, Länder, die diese Flüchtlinge nicht haben wollen?
Keller: Das kommt jetzt sehr stark auf die Länder selbst an. Natürlich kann man gegen eine Entscheidungsvorlage sein, muss aber trotzdem anerkennen, dass erstens die Flüchtlinge nicht schuld daran sind, und zweitens kann man trotzdem ein funktionierendes Asylsystem haben oder zumindest aufbauen. Ich hoffe und erwarte auch, dass diese Länder Beschlüsse umsetzen. Es geht hier in Tschechien zum Beispiel um ganz wenige Dutzende und Hunderte Flüchtlinge. Das wird kein Land überfordern und da hoffe ich, dass die Einsicht da ist, dass man Recht auch umsetzen muss.
Verteilschlüssel muss auf den Tisch
Barenberg: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat gesagt, das kann nur ein erster Schritt sein, weitere müssen folgen, und er meint das vor allem so, dass zu der Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, jetzt auch die Bereitschaft und die Entschlossenheit kommen muss, Menschen ohne Schutzrecht abzuweisen. Wird das die nächste Herausforderung sein?
Keller: Aus meiner Sicht geht es vor allem darum, dass man die Menschen, die herkommen, dass man denen Schutz bietet. Wir haben immer noch das Problem, dass Menschen im Mittelmeer sterben gerade, weil es keine legale Einreisemöglichkeit für sie gibt oder kaum eine legale Einreisemöglichkeit, und da muss man dringend was tun. Man muss dringend die Asylstandards anheben in den Mitgliedsstaaten. Wir haben zwar bereits gemeinsame Mindeststandards, aber die werden kaum umgesetzt. Und der Verteilschlüssel muss neu auf den Tisch. Das sind aus meiner Sicht die Probleme und nicht, Menschen noch schneller zurückzuschieben in zweifelhafte Umstände. Ich halte auch nichts von dem Vorschlag, eine europäische Liste der sicheren Herkunftsländer aufzustellen, denn kein Land kann man einfach so als sicher erklären, zumal ja die Kommission vor allem auch die Türkei darauf tun will, wo wir ja wissen, was da gerade für Zustände herrschen. Das ist aus meiner Sicht überhaupt gar keine Priorität, sondern wir sollten uns wirklich auf die eigentlichen Probleme konzentrieren.
Barenberg: ... sagt Ska Keller, die grüne Europaparlamentarierin, heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.