Die Nachrichten, die zu dem Flugzeugabsturz aus Moskau kämen, seien "ambivalent". Präsident Wladimir Putin habe sein Beileid für die Angehörigen der Opfer bekundet, aber auch Schuldzuweisungen geäußert. Deshalb sei noch nicht absehbar, ob die Tragödie eine Deeskalierung bewirke oder ob sie vielmehr Anlass für eine Verschärfung der Krise sei. "Der Schlüssel dazu liegt bei Putin", erläuterte Kyryl Savin, der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, im Deutschlandfunk die ukrainische Sichtweise der Lage.
Savin betonte, die Regierung in Kiew sei zu Verhandlungen bereit. Seiner Einschätzung nach sind es die prorussischen Aktivisten, die derzeit nicht "mit der ukrainischen Führung an einem Tisch sitzen" wollten. Es müssten aber alle Parteien zu Gesprächen bereit sein, damit ein "vernünftiger Kompromiss" gefunden werden könne.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Über 25 Quadratkilometer sollen die Wrackteile verteilt liegen, die Teile des Wracks der abgestürzten Passagiermaschine der Malaysia Airlines. Darum sind auch noch lange nicht alle der fast 300 Opfer geborgen. Jetzt laufen die Bergungsarbeiten, aber auch die Untersuchungen sind nicht gerade problemlos, denn die Wrackteile liegen mitten im umkämpften Gebiet im Osten der Ukraine. Darum gibt es auch um die Frage Streit, wer sich dem Wrack wann nähern darf, um was zu tun. Natürlich genau immer noch wie um die politische Deutungshoheit und die Fakten.
Und zum Teil mindestens mitgehört hat Kyryl Savin, er ist der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew und wir erreichen ihn jetzt per Mobiltelefon in Charkiw im Osten der Ukraine. Guten Tag!
Kyryl Savin: Hallo, guten Tag aus Charkiw!
Experten haben noch keinen Zugang zum Unfallort
Schulz: Hallo! Wie erleben Sie die Situation jetzt im Osten des Landes?
Savin: Also, hier vor Ort ist eine sehr angespannte Situation. Wir haben gerade ein Treffen gehabt mit dem Gouverneur von Charkiw und er hat uns erzählt, dass alle Vorbereitungen getroffen sind, wir erwarten hier mehrere Gäste, vor allem Familienangehörige der Opfer, aber auch Experten, Militärexperten, Kriminalisten und so weiter. Es ist mit vielen Leuten zu rechnen. Aber die sind jetzt erst mal alle in Kiew, denn es macht noch keinen Sinn, nach Charkiw zu fliegen, denn dieser Absturzort ist immer noch unter Kontrolle der Terroristen oder Separatisten oder egal, wie man sie nennt. Und die ukrainischen Experten und ausländischen Experten haben erst mal noch keinen Zugang zum Unfallort. Und deswegen ist die Lage, wie gesagt, angespannt, alle sind in Bereitschaft, aber noch passiert hier nichts.
Schulz: Charkiw wird dann auch der Schauplatz der Trauerfeiern sein?
Savin: Ja, das wird ein Zentrum sein für Trauerfeiern, aber auch für diese staatliche oder internationale Expertenkommission, die die ganze Untersuchung machen wird.
Schulz: Die Lage in der Ukraine beschäftigt uns jetzt seit Monaten. Diese Katastrophe, dieser Flugzeugabsturz, ist das ein Wendepunkt?
Savin: Ich hoffe, dass es ein Wendepunkt sein wird. Noch ist nicht ganz klar, denn die Äußerungen von Präsident Putin, wie die Korrespondentin aus Moskau jetzt gerade berichtet hat, ist ein bisschen ambivalent. Einerseits beschuldigt er immer noch die ukrainische Seite, andererseits hat er auch Mitleid ausgesprochen an die Opfer. Und es gibt die Hoffnung, dass es ein Wendepunkt sein könnte, dass es Deeskalierung sein könnte, aber noch ist alles offen und noch ist keine Garantie dafür da.
Vermittlungsversuche der Kontaktgruppe abgelehnt
Schulz: Was zeichnet sich denn aus Ihrer Sicht ab, wer ist verantwortlich für den Absturz?
Savin: Aus meiner Sicht könnte es das weitere Szenario sein, auf jeden Fall einige Tage wird dieser Trauerakt hier sein, auch die Untersuchungskommission wird hier arbeiten, für die Zeit wird hier wahrscheinlich nicht viel passieren. Auch die Kampfhandlungen werden wahrscheinlich hier eingestellt oder auf jeden Fall nicht mehr so intensiv weitergeführt. Was danach kommt, das könnte entweder eine Eskalierung, Verschärfung der Krise sein oder auch eine Deeskalierung sein, und der Schlüssel liegt ja, wie bekannt, in Moskau, im Kreml bei Herrn Putin. Und wie seine strategische Planung ist, wissen wir leider nicht.
Schulz: Ja, das ist natürlich die ukrainische Sicht, naheliegenderweise, auf die Frage, wer den Schlüssel in seiner Hand hat. Müssen nicht beide Konfliktparteien nach diesem Exzess, nach dieser möglichen Zäsur umdenken?
Savin: Ja, natürlich muss auch die ukrainische Seite. Aber so wie ich das beobachte, die ukrainische Seite wäre zu Verhandlungen bereit. Es gibt die Kontaktgruppe und die bestätigt das, die Ukrainer machen gerne mit. Aber gerade die Terroristen lehnen jetzt permanent ab, alle möglichen Vermittlungsversuche von der Kontaktgruppe, und sie wollen gar nicht mehr am Tisch sitzen mit der ukrainischen Führung. Und das macht ja die Lage schwieriger. Weil, wenn sie nicht verhandeln wollen, die ukrainische Seite kann sie nicht zwingen oder nur militärisch zwingen zu irgendwelchen Verhandlungen.
Zumindest ein Waffenstillstand wäre wünschenswert
Schulz: Was wäre aus Ihrer Sicht denn der Ausweg? Dass die Kämpfe einfach immer und immer weitergehen?
Savin: Am liebsten nicht, am liebsten, wenn zumindest ein Waffenstillstand erklärt wird und alle Parteien inklusive der Russischen Föderation am Verhandlungstisch sitzen und einfach vernünftig verhandeln und einen Kompromiss finden. Ich glaube, die ukrainische Führung wäre dazu bereit, denn der Krieg kostet die Ukraine so viel, sowohl wirtschaftlich als auch menschliche Leben, und Poroschenko wäre aus meiner Sicht schon bereit zu ernsthaften Verhandlungen. Nur, diese Bereitschaft muss auf beiden Seiten sein, auch auf russischer Seite. Denn die Russische Föderation ist eine Konfliktpartei.
Schulz: Kyryl Savin, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, wir haben ihn heute Mittag erreicht per Mobiltelefon, daher die schwierige Telefonleitung im Osten der Ukraine. Haben Sie herzlichen Dank dafür!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.