Der monatelange Distanzunterricht während der Corona-Pandemie scheint an vielen Schülerinnen und Schülern in Deutschland nicht spurlos vorbeigegangen zu sein. Kinder und Jugendlichen hätten zum Teil Probleme mit dem respektvollen Miteinander, würden weniger kommunizieren und insgesamt weniger aktiv sind, sagt Tobias Renner, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Tübingen. Von einer "verlorene Generation" könne man jedoch nicht sprechen. Kinder und Jugendliche seien in der Regel auch hoch widerstandsfähig. "Wenn wir jetzt die geeigneten Unterstützungen geben, dann bin ich da absolut optimistisch."
Das Interview im Wortlaut:
Tobias Renner: Es ist sicher schwierig, das zu verallgemeinern. Auf der anderen Seite ist es klar, dass wenn wenig sozialer Austausch möglich ist, dass dann auch die Umgangsformen und das soziale Miteinander dann sich verändern kann und da auch nicht mehr so eingeübt ist wie jetzt zu einer Zeit, wo man sich einfach sehr viel miteinander getroffen hat.
Tobias Renner: Es ist sicher schwierig, das zu verallgemeinern. Auf der anderen Seite ist es klar, dass wenn wenig sozialer Austausch möglich ist, dass dann auch die Umgangsformen und das soziale Miteinander dann sich verändern kann und da auch nicht mehr so eingeübt ist wie jetzt zu einer Zeit, wo man sich einfach sehr viel miteinander getroffen hat.
Gebert: Die Lehrkräfte berichten außerdem davon, dass ihre Schülerinnen und Schüler weniger miteinander kommunizieren und insgesamt weniger aktiv sind. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen so als Resultat der langen Kontaktsperren?
Renner: Dass Kinder und Jugendliche dazu neigen, weniger aktiv Hobbys zum Beispiel auszuführen, das wird auch vielfach berichtet. Das hat auch damit zu tun, dass eben Bewegung oder auch andere Aktivitäten in der Freizeit lange Zeit nicht so gut möglich waren. Hier ist es eben sehr wichtig, dass man da auch die Aktivierung wieder anregt. Wir haben zum Beispiel auch die Schulen dahingehend beraten, dass zum Beispiel auch mehr Bewegungseinheiten da sind, mehr Freude an Bewegung auch vermittelt wird.
"Sozialstunden mehr mit einbauen"
Gebert: Jetzt geht’s ja auch ums Kommunizieren und ums Miteinander-respektvoll-umgehen. Gibt es Möglichkeiten aus Ihrer Sicht, das im Klassenverband relativ bald wieder zu erlernen, wenn das sozusagen verlernt wurde?
Renner: Ja, das kann man ganz klar so sehen, dass sicher, wenn sich drum gekümmert wird, auch wieder respektvolles Miteinander gut möglich sein wird. Viele Schulen haben auch vermehrt Sozialstunden eingeführt, wo sie einfach genau diese Punkte direkt ansprechen, eben das Miteinander, positives Feedback geben und wie man zusammen als Gruppe auch gut interagiert. Hier lohnt sich sicherlich auch für die Schulen, aktiv zu investieren und zum Beispiel Sozialstunden mit einzubauen, vermehrt als vorher.
Gebert: Dabei müssen die Lehrer aber ja nicht nur die sozial-emotionale Entwicklung ihrer Schützlinge im Blick behalten, sondern eben auch Unterrichtsstoff vermitteln – also die Frage ist ein bisschen nach der Zeit. Was ist denn Ihre Einschätzung als Fachmann, was brauchen die Pädagoginnen und Pädagogen jetzt dafür, um wieder das Miteinander so zu gestalten, dass man auch unterrichten kann?
Renner: Auch hier haben wir als Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie ganz klar auch die Kultusministerien angeschrieben, dass eben auch in dieser nächsten Zeit diese sozial-emotionale Komponente sehr betont werden muss, neben dem Fachunterricht. Das ist auch etwas, was die Corona-Pandemie einfordert, hier muss man Schwerpunkte auch noch mal neu setzen.
Schwerpunkt auf sozial-emotionale Fertigkeiten notwendig
Und wir sind auch sehr froh, dass viele Schulen sich diesem Thema auch aktiv widmen und insbesondere nach dem Wiedereinstieg der Regelbeschulung dann auch aktiv vorangehen, dass dann die wenigen Lehrpläne, so wie sie früher Bestand hatten, dann reduziert werden. Das ist eine Seite, die da auch zum Tragen kommen wird. Es lohnt also nicht, beides im Dauerlauf aufzuholen und zu versuchen durchzusetzen, sondern es braucht jetzt insbesondere in den nächsten Monaten tatsächlich diesen Schwerpunkt auf sozial-emotionale Fertigkeiten.
Für die Lehrkräfte ist es so, dass auch hier – auch bundesweit, aber auch auf Länderebene – Initiativen entstanden sind, die Lehrer noch mal beraten, niederschwellig sehr oft online basiert auch, wie man zum Beispiel mit herausforderndem Verhalten umgehen kann, wie man auch ängstliche Kinder stärker fördern kann. Hier wird auch sowohl von den Kultusministerien, aber auch von den Fachgesellschaften, von den Unterstützern im Bereich sozial-emotionales Lernen viel geleistet, zusätzlich geleistet und viel an Beratungsarbeit auch geleistet.
"Enorme Zunahme bei Angstproblematiken und Essstörungen"
Gebert: Mit welchen Problemen – weil Sie gerade Ängste ansprechen –, mit welchen Problemen werden denn bei Ihnen im Moment in der Kinder- und Jugendpsychiatrie jetzt vermehrt Schüler vorgestellt? Gibt es da eine Entwicklung, die sich deutlich der Pandemie zuordnen lässt?
Renner: Tatsächlich haben wir solche Entwicklungen. Zum einen sind vermehrt Angstproblematiken, die jetzt in den letzten Monaten auch sehr auf schulische Inhalte bezogen sind, also Angst davor, wie es in der Schule weitergehen kann, ob man vielleicht anschließen kann an die Leistungen früher, auch Angst, wie es in der Gruppe sein wird – deswegen auch die Wichtigkeit dieser Sozialstunden.
In weiteren Punkten müssen wir sehen, dass es eine enorme Zunahme von Essstörungen gab, die in dieser Zeit, in der Pandemiezeit sich mehr als verdoppelt haben, sodass wir da auch feststellen, dass diese Alltagsstruktur, die eben Schule oder normale Abläufe bieten, wenn die wegfallen, dass dann Kinder und Jugendliche, die da vermehrt zu dieser Erkrankung neigen, dann tatsächlich auch an Magersucht erkranken.
Gebert: Und hinzu kommt ja bei vielen Jugendlichen seit dem Homeschooling offenbar die verstärkte Nutzung des Computers oder anderer Digitalgeräte. Wie ist denn da Ihre Prognose, ist die Gefahr jetzt größer, dass mehr und mehr Kinder tatsächlich eine Sucht entwickeln?
"Der Begriff der Lost Generation ist absolut verfehlt"
Renner: Also dass die Mediennutzung während der Lockdowns nach oben ging, ist eine natürliche Folge des Wunsches, sich auszutauschen. Also das ist erst mal nichts Pathologisches, im Gegenteil, kann man gut verstehen.
Auf der anderen Seite gibt es auch eine Untersuchung, die zeigt, dass die Nutzung der Medien während der Pandemiezeit auch dazu gedient hat, um Zeit totzuschlagen, schlechte Gefühle weg zu machen oder dem Alltag zu entfliehen. Und das sind eben Mechanismen, wo wir von einer dysfunktionalen Nutzung sprechen, also von einer Nutzung, die dazu führt, dass eben die Alltagsfunktionen nicht mehr gut wahrgenommen werden können, und da müssen wir gut aufpassen, die Jugendlichen auch unterstützen, dass sie da jetzt nicht diesen Medienkonsum, der angestiegen ist während der Pandemiezeit, auch weiterführen, sondern eben tatsächlich darauf achten, dass sie andere, nicht medienbezogene Freizeitaktivitäten wieder aufnehmen. Dazu gehört der Sportverein, dazu gehören andere Interessen, wo man sich sozusagen im echten Leben auch wieder draußen trifft.
Gebert: Aber Sie sagen nicht, wie verlieren jetzt eine komplette Generation an die Spielsucht zum Beispiel oder an die Computersucht?
Renner: Absolut nicht, und den Begriff der Lost Generation, der häufig zu finden ist, ist absolut verfehlt. Wir haben hier Kinder und Jugendliche, die sich gut entwickeln, die jetzt eine schwierige Phase haben, wo wir jetzt auch für sie da sein müssen, aber wir dürfen bei all dem auch nicht vergessen, dass Kinder und Jugendliche in der Regel auch hoch resilient sind, also hoch widerstandsfähig. Und wenn wir jetzt die geeigneten Unterstützungen geben, dann bin ich da absolut optimistisch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.