Berlin, 15. April 2020. Der "Tägliche Lagebericht des Robert-Koch-Instituts zur Coronavirus-Krankheit-2019" meldet steigende Infektionszahlen. Insgesamt 127.584 bestätigte Covid-19-Fälle haben die Gesundheitsämter dem RKI bis Mitternacht gemeldet, zum Vortag ein Plus von fast 2.500 neuen Infizierten. "Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation", schreiben die Autoren, "die Zahl der Fälle in Deutschland steigt weiter an."
"Die Welt hat sich für uns alle geändert angesichts einer weltweiten Pandemie, die alle Menschen auf der Welt gleichermaßen trifft, aber die Länder ganz unterschiedlich."
Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und Vizekanzler, während einer Pressekonferenz am 15. April 2020, auf der er die neuen Regelungen für das Leben in der Coronapandemie erläutert:
"Wir bewegen uns in eine neue Normalität. Eine Normalität, die nicht kurz sein wird, sondern die längere Zeit anhalten wird, bis es uns gelungen ist, bessere therapeutische Möglichkeiten zu haben und auch Impfstoffe zu besitzen, die uns helfen, die Ausbreitung der Pandemie in Deutschland und andernorts zu verhindern."
"Neue Normalität" – ein Begriff voller Tücken
"Neue Normalität", ein Begriff, der sich zum Synonym für die Covid-19-Pandemie entwickeln kann, noch vor "Social Distancing", R-Wert, "Homeoffice" oder einem der vielen hundert anderen Wörter, die binnen weniger Wochen die deutsche Sprache geschaffen hat mit dem Ziel, Corona und seine Folgen zu benennen, zu erklären und zu verstehen.
"Einzelne Wörter haben ja eine ganze Menge an Zusatzimage, das in ihnen transportiert wird. Und wenn ich das Wort ‚Normalität‘ höre, dann denke ich an eine Situation, in der alles recht überschaubar ist, planbar, ich nicht mit Überraschungen konfrontiert werde, Verlässlichkeit habe, Vertrauen. Das ist, glaube ich, das, was wir mit Normalität in Verbindung bringen - eine Art Grundzustand."
Sagt Prof. Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim:
"Wenn ich zum Beispiel die Normalität des Straßenverkehrs nehme und sage, eine völlig vereiste Straße nach einem Eisregen, das ist jetzt die neue Normalität. Dann würden wir uns erst mal recht stark wundern und wahrscheinlich uns auch nicht so ganz leicht darauf einstellen, dass zum Beispiel die Bremswege ganz andere sind, dass es mit dem Lenken nicht mehr so klappt und auch das Risiko insgesamt viel größer ist. Wir sind also in einer Situation in der neuen Coronanormalität, als ob wir die ganze Zeit auf Glatteis fahren."
Griffig ist der Begriff "Neue Normalität"; eine Alliteration, die leicht über die Lippen geht und so Gefahren und Risiken kaschiert. Man habe es mit einem Euphemismus zu tun, sagt der Wiener Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits in einem Interview mit dem Onlinemagazin Telepolis: Sobald etwas als "normal" deklariert werde, sei bereits die Komponente der sprachlichen Gewalt mit im Spiel. Herbert Kickl, Abgeordneter des Österreichischen Nationalrats, bringt es am 21. April 2020 so auf den Punkt:
"Neue Normalität bedeutet Kontaktverbote, bedeutet Ausgangsbeschränkungen, bedeutet Überwachung, bedeutet Massenarbeitslosigkeit, bedeutet gefährdete und zerstörte Existenzen am laufenden Band. Und mir graut vor dieser neuen Normalität!"
Kriege und Seuchen hinterlassen immer auch Sprachspuren
SARS-CoV-2 breitet sich weltweit immer schneller und immer weiter aus, jede noch so kleine Lockerung von Hygienevorschriften kann zu neuen Infektionen führen. Ein Drama, nur vergleichbar mit den Folgen von Weltkriegen und Seuchen, wie dem Schwarzen Tod, der im 14. Jahrhundert immerhin ein Drittel aller Bewohner Europas dahinraffte. Solche Katastrophen sind Jahrhunderte später nicht nur ökonomisch und sozial nachzuweisen, sie finden ihren Widerhall immer auch in der Sprache.
"Also zum Beispiel bei der Großen Pest oder Schwarzer Tod, das ist ja an sich auch schon eine Sprachspur, die auf dieses Ereignis verweist, Brunnenvergifter zum Beispiel ist ein Ausdruck aus dieser Zeit. Man hat wie heute auch nach Schuldigen gesucht, und das war sozusagen der Verschwörungsmythos der Großen Pest im ausgehenden Mittelalter, Brunnenvergifter zu sagen."
Erläutert Heidrun Deborah Kämper, Professorin für Germanistik an der Universität Mannheim und Leiterin des Arbeitsbereichs "Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts" am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
"Dann aus unserem Jahrhundert gibt es ganz viele Spuren, also ‚Fringsen‘ zum Beispiel, frühe Nachkriegszeit: Der Kardinal Frings hat es für erlaubt erklärt, dass Menschen, um sich zu ernähren, mal das eine oder andere Lebensmittel mitgehen lassen. Oder ‚Steckrübenwinter‘, oder aus der Nachkriegszeit ‚Rosinenbomber‘. Also solche Wörter, in denen sich das persönliche Erleben so ganz elementar verdichtet, die haben sicher eine gute Chance, auch weiter tradiert zu werden und übertragen zu werden auf andere Bereiche."
Gibt es heute in Zeiten der Corona-Pandemie Wörter, in denen sich ebenfalls "das persönliche Erleben elementar verdichtet"? Begriffe, die sich tief ins sprachliche Gedächtnis eingraben und vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren noch gebräuchlich sind? Antworten auf diese Fragen sind pure Spekulation, viel hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab: Je länger sie dauert und je mehr Opfer sie fordert, desto wahrscheinlicher lassen sich spätere Sprachspuren nachweisen. Eines lässt sich aber jetzt schon sagen: Wörter und Wendungen, die erst durch Corona entstanden sind beziehungsweise durch Corona eine neue Bedeutung gewonnen haben, gibt es erstaunlich viele.
Das Coronalexikon hat hunderte Einträge
"Zurzeit haben wir etwas über 500, die verbucht sind in unserem Wörterbuch oder unserer Liste, aber wir haben wieder etliche in petto, die wir in Kürze freischalten, und dann sind wir bei annähernd 600."
Annette Klosa-Kückelhaus, Leiterin des Programmbereichs Sprachdokumentation und Lexikografie am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, erstellt Deutschlands Coronalexikon. Neben Begriffen, die ohne Covid-19 nicht existieren würden – "Abstandssommer" etwa, "Coronamode", "Ellenbogengruß", "Hygienedemo" oder "Wuhansyndrom" – hat sie altbekannte Wörter gefunden, die im Zuge der Pandemie in ihrer Bedeutung aber neu besetzt worden sind:
"Ein ganz aktuelles Beispiel ist die ‚Dauerwelle‘, wo jeder zunächst an die Frisur denkt, aber es ist jetzt im Coronakontext neu besetzt worden oder hat eine neue Bedeutung bekommen: Dahingehend, dass wir eigentlich gar nicht von einem wellenförmigen Verlauf ausgehen können, sondern eben von einer Dauerwelle."
"Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten", so Klosa-Kückelhaus, führen zu einer permanenten Anpassung des Wortschatzes. Und zwar in enormer Geschwindigkeit, fast möchte man von Echtzeit sprechen. Es zählt zu den herausragenden Fähigkeiten von Sprachen – nicht nur des Deutschen – unmittelbar auf Veränderungen zu reagieren. Diese Fähigkeit ist Teil einer permanenten Überlebensstrategie: Was Menschen nicht benennen und kommunizieren können, kann tödliche Folgen haben – sei es nun die unausgesprochene Warnung bei der Jagd von Neandertalern, dass sich von rechts ein wildes Tier nähert, oder die nicht mitgeteilte Bedeutung der Mund-Nasen-Maske. Ein paar Beispiele aus dem Coronalexikon:
"Alltagsmaske, Abstandssommer, Besuchstandem, Coronabrutstätte, Coronaetikette, Coronaradweg, Coronasex, digitaler Fan, Distanzschlange, Einkaufsheld, Herdenimmunität, Immunitätspass, lokaler Lockdown, Nullsemester, Pflegebonus, Schnutenpulli, Zoomcall, zweite Welle".
Solche Wörter zu bilden, ist ein Kinderspiel. Jeder kann es, was übrigens auch ein Beleg für die überragende Bedeutung dieser Fähigkeit ist: Etwas für Menschen so Wichtiges darf einfach nicht kompliziert sein!
Gesellschaftliche Veränderungen produzieren neue Wörter
"Wir können sie zusammensetzen, wir können Ableitungen bilden, und genau das wird jetzt gemacht. Und immer da, wo ein neues Bezeichnungsbedürfnis entsteht, können Menschen das. Das können, ehrlich gesagt schon Kinder im Spracherwerb lernen, diese Wortbildungsregeln, und gehen damit auch sehr spielerisch um. Das ist auch etwas, was im Deutschunterricht der Schulen thematisiert wird und auch geübt wird, Wortfamilien zu bilden. Sodass das, glaube ich, ganz fest in unseren mentalen Lexika verankert ist und so funktioniert."
Nun darf man sich das Coronalexikon der deutschen Sprache aber nicht als verstaubtes statisches Gebilde vorstellen. Es ist vielmehr eine Sammlung mit hoher Dynamik, die sich ständig ändert.
"Das kann man gerade sehr, sehr gut beobachten in den verschiedenen Wellen, welche Wörter so kommen. Am Anfang ging es um alle Phänomene der Schließung, des Herunterfahrens, des Zuhausebleibens usw. Dann kam die Phase, wo wir über Öffnungen und Lockerungen im weiteren Sinn diskutiert haben. Jetzt haben wir eine Phase, wo viel Wortschatz kommt, der sich damit befasst, wie bleiben wir denn sicher, obwohl wir uns jetzt wieder freier bewegen, aber wir müssen noch den Abstand halten."
Womit Annette Klosa-Kückelhaus einen ersten Hinweis gibt auf das Schicksal ihres akribisch zusammengestellten Lexikons. So wie viele der Begriffe situationsabhängig blitzschnell entstehen, verschwinden sie auch wieder, sobald sich die Situation ändert:
"Ich denke, dass viele verschwinden werden mit den Dingen, die dann auch verschwinden. Zum Beispiel, wenn wir irgendwann keine Masken mehr tragen müssen hoffentlich, dann werden auch die vielen verschiedenen Bezeichnungen dafür zurückgehen in der Frequenz, das ist ein ganz normales Phänomen."
Corona reduzierte das benutzte Vokabular in Onlinemedien
Hunderte, wahrscheinlich tausende neue Wörter rund um Corona reichern zurzeit die deutsche Sprache an. Ein Gewinn, keine Frage, auch wenn viele Begriffe irgendwann im linguistischen Orkus landen. Für den Moment müsste die deutsche Sprache bezogen auf den benutzten Wortschatz in Medien also reicher sein. Das klingt logisch, ist aber falsch. Tatsächlich hat sich während der Pandemie das benutzte Vokabular zumindest in den Onlinemedien reduziert. Der Grund liegt auf der Hand: Es wurde kaum noch über andere Themen berichtet. Ein Phänomen, das sich im Rahmen einer quantitativen Analyse mit drei Maßeinheiten beweisen lässt. Carolin Müller-Spitzer, Professorin für Germanistische Linguistik am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim:
"Einmal Redundanz, dann gibt es noch ein Maß für lexikalische Vielfalt, fachsprachlich nennt man das Type-token-ratio, da teilt man die Anzahl der Worttypen, also der unterschiedlichen Wörter, durch die laufenden Wörter. Und dann guckt man auch noch zusätzlich, wieviel Anteil die häufigsten Wörter haben. Und in all diesen drei Maßen können wir ganz stark feststellen, dass so Mitte März der Höhepunkt dieser Monothematik erreicht ist, also dass Corona das beherrschende Thema ist, dass sich der Wortschatz ganz stark einschränkt."
Die Coronapandemie – so Carolin Müller-Spitzer – beherrschte im März 2020 die gesamte Berichterstattung. Weder Kultur noch Sport, weder Reisen noch Mode – um nur ein paar Themen zu nennen – fanden Eingang in die Medien, womit deren Vokabular natürlich ebenfalls entfiel:
"Wir haben zusätzlich aber auch geguckt, wie sieht es denn aus mit Wörtern wie 'systemrelevant' oder auch solche Sache wie 'Mehl' und 'hamstern', kann man irgendwie zeigen, dass sich das irgendwie in ungewöhnlichem Maße verhält? Und man sah auch da, dass zum Beispiel das Wort ‚systemrelevant‘ oder die Verbindungen daraus im März, April den Höhepunkt haben. Und auch die Hamsterkäufe werden selbst in diesen Kurznachrichtensendungen ganz stark thematisiert."
Mittlerweile ist der Höhepunkt überschritten; "flatten the curve" möchte man im schönsten Corona-Neudeutsch sagen. Andere Themen sickern wieder in die Berichterstattung, vielleicht hat aber auch niemand mehr Lust auf die Corona-Dauerberieselung. Beendet ist das Forschungsprojekt von Carolin Müller-Spitzer aber noch nicht. Im November gibt es das nächste Großereignis:
"Es wird jetzt spannend sein zu sehen, wenn wir diese Datengrundlage weiterverfolgen, ob wir zum Beispiel bei der Präsidentschaftswahl der USA auch so einen Effekt finden können. Das wissen wir jetzt natürlich noch nicht. Also, wieviel stärker ist der Einfluss der Coronapandemie als andere große Ereignisse, das wird die Zukunft zeigen, das werden wir sicherlich weiterverfolgen."
In eine andere Richtung zielt die Forschung von Christine Möhrs. Sie ist Wissenschaftliche Referentin der Direktion des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und hat sich seit Beginn der Pandemie mit Glossaren zum Thema Corona beschäftigt. Glossare sind in gedruckten und elektronischen Medien gleichermaßen Texte und Grafiken, die abgesetzt von der Berichtserstattung Begriffe und Zusammenhänge möglichst knapp und verständlich erklären. Was ist ein Virus? Was eine Pandemie? Welche Infektionswege gibt es? Welche Bedeutung hat der R-Wert? Und so weiter:
"Der Spiegel und GEO und Bild der Frau, aber auch tagesschau.de, auch der Deutschlandfunk, die Berliner Morgenpost und so weiter, diese Organe haben alle das Bedürfnis der Bevölkerung aufgegriffen. Zu vielen, vielen Wörtern, die entweder teils neu waren, oder alten Begriffen, die schon vorher existiert haben, die aber plötzlich eine Hochkonjunktur hatten. Das waren natürlich vor allem Begriffe aus dem Fachwortschatz, dass man sich gefragt hat, was war denn jetzt eigentlich noch mal Pandemie im Vergleich zur Epidemie?"
Glossare in Medien liefern Aufklärung über Corona
Mit dem Beginn des harten Lockdowns in Deutschland, am 23. März 2020, schossen Glossare wie Pilze aus dem Boden, so Christine Möhrs. Nach genauer Analyse stellte sie zunächst einmal erstaunt fest, wie sehr sich doch viele Glossare ähneln.
"Was wir auch festgestellt haben, ohne dass ich das total negativ werten möchte, dass viele Glossare aus der Presse, also zum Beispiel von der Tagesschau, über die Neue Zürcher Zeitung, aber auch über Süddeutsche, aber auch RP Online teilweise wahrscheinlich auch mehr oder weniger voneinander abgeschrieben haben. Was vielleicht auch nicht verwunderlich ist, man schlägt dann irgendwie nach und guckt im Netz, was ist denn da und pickt sich das dann etwas raus."
Neben allgemeinen Glossaren fand Christine Möhrs aber auch Spezialglossare von erstaunlich hoher Qualität. Da ist zum Beispiel das Kinderglossar des Bayerischen Rundfunks. "Sprichst Du coronisch?", fragen die Autoren.
"Dieses Glossar muss man sagen, ist im Vergleich zu anderen Glossaren vom Umfang her sehr klein. Das waren tatsächlich vom Umfang her nur sehr wenige Begriffe, da wurden Begriffe wie Ausgangsbeschränkung, Homeoffice, aber auch Pandemie oder Katastrophenfall erklärt, aber zum Beispiel auch das Wort hamstern. Das heißt, in den Kinderglossaren wurden auch schon Begriffe aufgenommen, die auch in anderen Glossaren vorkommen, die aber gerade für Kinder eine Rolle spielen."
Corona verschiebt Diskurse
Viele Veränderungen des Sprachgebrauchs während der Covid-19-Pandemie geschehen an der Oberfläche und lassen sich vergleichsweise einfach beobachten. Allerdings gibt es auch Aspekte, die bis in tiefere Schichten der Wirkung von Sprache reichen. Da sind zum Beispiel sogenannte Diskursverschiebungen - also die Frage, wie die Coronakrise gesellschaftliche Debatten beeinflusst.
Heidrun Deborah Kämper, Leiterin des Arbeitsbereichs "Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts":
"Ich sehe im Grunde zwei verschiedene Arten von Diskursentwicklungen. Einmal, dass latente Diskurse sichtbar werden, und dazu würde ich den Diskurs über die Verschwörungsmythen zählen."
Dass Bill Gates das Coronavirus erschaffen hat, um die Weltherrschaft zu erringen. Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Ausbruch des Coronavirus und dem superschnellen 5G-Mobilfunknetz. Aber auch, dass jüdische Organisationen den Ausbruch von Covid-19 forciert haben; dass Corona ein biologischer Angriff der USA und Israels auf die Welt sei; dass hinter dem Coronaausbruch der perfide Plan kommunistischer Bewegungen steht und so weiter.
"Die andere Entwicklung ist, dass vorhandene Diskurse mit Corona angereichert werden. Ich gebe mal ein Beispiel: Wenn wir in die Parlamentsprotokolle schauen - ich beziehe mich jetzt auf das Parlament von Baden-Württemberg - da gibt es natürlich auch Coronadebatten. Und da sehen wir beim Migrations- oder Geflüchtetendiskurs, wenn der das eigentliche Thema ist, wird dieser Diskurs speziell von der AfD angereichert mit dem Corona-Argument, also: ‚Afrikaner bringen das Virus ins Land‘. Oder genauso der nationalistische Diskurs wird mit Corona angereichert: Das Virus ist aus dem Ausland gekommen, man spricht dann auch nicht von Corona, sondern vom Wuhanvirus, vom Chinesischen Virus, von der Wuhankrise. Es wird sozusagen dieses Ereignis angepasst an die Diskurse, die man ohnehin führt."
"Freiheit oder Sicherheit?"
Gleiches gilt für Debatten um nationale Themen. Diese Debatten inklusive der darin transportierten Diskursverschiebungen haben großen Einfluss auf das alltägliche Leben aller Bewohner Deutschlands.
"Zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Grundrechtediskurs. Da haben wir ein Muster, das uns begleitet im Grunde bei ganz unterschiedlichen Diskursen, und zwar meine ich das Muster ‚Freiheit statt Sicherheit‘, ‚Freiheit und Sicherheit‘, ‚Freiheit oder Sicherheit‘; das spielt jetzt auch mit Corona wieder eine Rolle. Wir hatten es sonst im Zusammenhang mit den Terrorismusdebatten, dass hier eben das eine gegen das andere ausgespielt wird, oder auch nicht - aber es immer ein Thema."
Und was hat SARS-CoV-2, dieser 100-Nanometer-Winzling, in Deutschland noch geändert? Eines ist für alle sicht- und erlebbar: Die Kommunikation funktioniert anders.
"In unserem Alltagsleben ist es so, dass wir einerseits mit einer Maske im Gesicht, die unsere Mimik in der unteren Hälfte des Gesichts verdeckt, aufeinander zutreten und dabei auch akustisch weniger verständlich werden."
Sagt Prof. Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim.
"Ich finde, das ist eine sehr ungewohnte Art, miteinander zu kommunizieren, wenn man den Mund nicht erkennen kann, was ja übrigens auch für hörgeschädigte Personen ein großes Problem darstellt. Und wir in einer Situation sind, dass wir eigentlich sehr viel weniger genau und gut Schlussfolgerungen über den emotionalen Zustand des anderen im Gespräch ziehen können. Wir können nicht dieses kleine Zucken, Lächeln im Gesicht sehen, wir sind auf die Augen angewiesen."
Vermummungsgebot statt Vermummungsverbot
Welche Ironie der Geschichte: Jahrelang beschäftigten sich Politiker und Datenschützer, Polizeibeamte und Richter mit der Frage, ob Menschen in der Öffentlichkeit ihr Gesicht gezielt verdecken dürfen – sei es nun aus religiösen Gründen mit einer Burka oder mit einer Sturmhaube aus dem Wunsch heraus, auf Demonstrationen nicht erkannt zu werden. Der gesellschaftliche Trend war eindeutig: Gesichter sollten immer sichtbar sein, das entspreche der Kultur freiheitlicher Gesellschaftsordnungen. Corona hat dieses Vermummungsverbot binnen weniger Wochen in ein Vermummungsgebot gewandelt. Henning Lobin:
"Es ist eine ganz anders bewertete Vermummung natürlich, sie hat andere Gründe, und wir sehen daran, dass diese Gründe auf einmal dazu führen, dass die Vermummung als solche überhaupt nicht mehr hinterfragt wird. Und gleichzeitig sehen wir, es ist eine Vermummung, man kann den anderen Menschen oftmals gar nicht mehr so richtig erkennen, wenn er zu einer großen Maske dann auch noch eine Sonnenbrille trägt, dann bleibt ja gar nicht mehr viel übrig vom Gesicht."
Was bleibt von all dem, wenn der SARS-CoV-2-Erreger irgendwann besiegt ist? Wird ein Zurück zu Vor-Coronazeiten überhaupt möglich sein? Erleben wir eine Zäsur, wie sie radikaler nicht vorstellbar ist, vergleichbar allenfalls mit der Großen Pest im Mittelalter? Oder erinnern wir uns schon in wenigen Jahren nur noch dunkel an die Zeit der Shutdowns? An verzweifelte Eltern, die ihren Kinder parallel zum Homeoffice Mathematik beibringen mussten, und an seltsame Wortschöpfungen wie Balkongesang, Kneipenbox und Spuckschutztrennwand? Niemand weiß es! Allerdings gibt es für Henning Lobin eine Folge, die schon jetzt sichtbar und kaum umkehrbar ist: die Digitalisierung. Sie erlebt nicht nur in Wirtschaft, Verwaltung und Handel einen enormen Schub, auch die private Kommunikation ändert sich. Durchaus grundlegend, allerdings weit weniger drastisch, als manche Kulturpessimisten glauben:
"Also ich glaube, das wird eher eine Mischung werden, wir werden es genauer abstimmen, welches Medium wir nutzen. Aber das ist ein Merkmal von jedem Medienwechsel, die eigentlich immer eine mediale Erweiterung darstellen. Wir nutzen die alten verfügbaren Medien und Möglichkeiten weiterhin, aber überlegen und differenzierter, was wir wann genau einsetzen."
Willkommen in der "neuen Normalität"!