Freitagnachmittag in einer Sozialbausiedlung der Kleinstadt Lagny-sur-Marne, 40 Kilometer östlich von Paris: Zwischen den Plattenbauten, auf einem kleinen asphaltierten Platz, spielen Kinder. Ein paar Teenager lehnen an einer Mauer. Sie nehmen kaum noch Notiz von dem Dutzend Männer, das sich, wie jeden Tag um diese Zeit, auf der Platzmitte versammelt!
Männer um die 50 und älter. Sie tragen Mützen oder Kappen, einige von ihnen lange Kleider und – unter den Armen – aufgerollte Gebetsteppiche. Die breiten sie nebeneinander auf dem Asphaltboden aus, knien sich hin, in Richtung Mekka. Nach dem Gebet schlüpft Monsieur Traore wieder in seine braunen Schuhe. Abends, wenn die jungen Leute von der Arbeit zurück sind, sagt er, seien sie 50 bis 60 Gläubige, die hier beten.
"Straßengebete nennt man, was wir hier machen. Das ist kein Vergnügen, jeden Tag draußen zu beten, bei Wind und Wetter. Wir machen das, weil wir keinen Raum mehr zum Beten haben."
Dabei gibt es eine Moschee in Lagny-sur-Marne. Doch seit über einem Jahr haben die Muslime kein Recht mehr, dort zu beten. Ihre Moschee wurde im Dezember 2015, zwei Wochen nach dem IS-Attentat auf das Pariser Bataclan, von der Polizei zuerst durchsucht und dann verriegelt. Ohne richterlichen Beschluss, im Rahmen des staatlichen Ausnahmezustands: Die Moschee der Kleinstadt sei ein Hort gefährlicher Salafisten, informierte der französische Innenminister anschließend die Presse, ein ehemaliger Imam der Glaubensgemeinde habe dort für den Dschihad rekrutiert. 22 Ausreiseverbote wurden gegen Mitglieder der muslimischen Gemeinde verhängt, acht Verdächtige unter Hausarrest gestellt.
Natürlich müsse die Regierung den IS-Terror bekämpfen, sagt Monsieur Traore. Was die Muslime in Lagny-sur-Marne aber nicht verstehen: Warum die gesamte muslimische Gemeinde – rund 300 Gläubige – seit über einem Jahr auf ihre Moschee verzichten muss?
"Das ist nicht normal. Wenn es hier Muslime gibt, gegen die etwas vorliegt, dann können sie die doch verhaften. Aber die Moschee für alle zu schließen, damit bin ich nicht einverstanden."
Der hagere bärtige Mann neben ihm – sein Vorname ist Ramadan – schimpft über einen Skandal: Bis heute sei nicht einmal geklärt, ob die Radikalismus-Vorwürfe des Innenministers gegen die Moschee fundiert waren.
"Es hat nie ernsthafte Ermittlungen geben. Das ist das Dramatische an der Geschichte. Es gibt keine echten Ermittlungen und keinerlei Beweise."
Die Muslime haben einen Rechtsanwalt engagiert. Und sie haben an die Rathaustür ihrer Stadt geklopft. In der Hoffnung, sagt Monsieur Traore, dass der Bürgermeister ihnen einen Ersatzraum zur Verfügung stellt.
"Sie haben uns im Rathaus gut behandelt. Der Bürgermeister kennt uns auch, wir hatten schon mehrere Termine mit ihm. Aber er sagt, wenn der Staat nicht bereit ist, die Moschee wieder freizugeben, darf er uns auch keinen Raum zum Beten geben."
Bürgermeister der Stadt forderte von Innenminister eine Lösung
Stattdessen hat Bürgermeister Jean-Paul Michel den Innenminister mehrfach öffentlich aufgefordert, eine Lösung für die muslimische Gemeinde seiner Stadt zu finden. Der Bürgermeister ist nicht im Rathaus, Pierre Tebaldini - seine rechte Hand - vertritt ihn.
Im Februar hat es ein Gespräch mit dem Innenminister in Paris gegeben. Aber der Bürgermeister habe nichts erreichen können, bedauert Tebaldini, der das Dossier in- und auswendig kennt.
"Der Innenminister hat uns die gleiche Antwort gegeben: Bis auf Weiteres bleibt die Moschee geschlossen. Gleichzeitig hat er abgelehnt, etwas gegen die Straßengebete der Muslime zu unternehmen."
Doch sorgen die Straßengebete schon seit Monaten für Spannungen in der Stadt. Im Rathaus häufen sich Beschwerden über 'unrepublikanische' Glaubenspraktiken. Die Regierung lasse sie einfach mit den Problemen allein, kritisiert Pierre Tebaldini. Auch den Vorschlag des Bürgermeisters mit vertrauenswürdigen Vertretern der muslimischen Gemeinde zusammenzuarbeiten, damit sie künftig die Leitung der Moschee übernehmen, lehne das Innenministerium ab.
"Uns – und übrigens auch dem Innenministerium – ist klar: Nicht alle Muslime, die die Moschee besucht haben, sind radikalisierte Gläubige. Deswegen haben wir zur muslimischen Gemeinde Kontakt gehalten, mit ihnen diskutiert. Wir haben dem Innenministerium vorgeschlagen, dass wir ihnen die Namen unserer Gesprächspartner nennen, und sie uns darüber informieren, ob die Personen okay sind oder nicht", sagt Tebaldini.
Bis heute weiß das Rathaus offiziell so gut wie nichts über den Ermittlungsstand. Nicht einmal, wer zum Verdächtigenkreis gehört, wer unter Hausarrest steht oder mit Ausreiseverbot belegt wurde. Auf ihre Fragen bekämen sie aus dem Innenministerium die immer gleiche Antwort:
"Verteidigungsgeheimnis. Sie geben uns überhaupt keine Informationen. Alles wird sehr sehr geheim gehalten. So geheim, dass wir sofort zurechtgewiesen werden, wenn wir aus anderer Quelle eine Information haben. Weil wir nicht das Recht dazu hätten, über Informationen zu verfügen. Es ist wirklich sehr kompliziert, an der Sache zu arbeiten."
"In Wahlkampfzeiten ist es politisch sehr heikel, die Moschee wieder freizugeben"
Mangelnde Transparenz und fehlende Kooperation nähren im Rathaus schon länger den Verdacht, dass es der Regierung in Lagny-sur-Marne nicht allein um Terrorismusbekämpfung geht. Rathaussprecher Tebaldini:
"Nach dem Bataclan-Attentat wollte die Regierung den Franzosen demonstrieren, dass sie handelt. Und es liegt auf der Hand, dass auch die französischen Präsidentschaftswahlen eine Rolle spielen. In Wahlkampfzeiten ist es politisch sehr heikel, die Moschee wieder freizugeben, oder aber mit Polizeikräften die betenden Muslime aus dem öffentlichen Raum zu verjagen."
Der Fall Lagny-sur-Marne wurde schon Anfang 2016 im Jahresbericht von Amnesty International kritisiert. Die Sache war eindeutig, sagt Nicolas Krameyer, Sprecher von Amnesty International Frankreich:
"Wir haben den Fall damals untersucht. In den Pressemitteilungen des Innenministeriums war die Rede von einer extrem radikalen Moschee, die für den Dschihad rekrutiere. Tatsächlich hatte die Polizei aber bei den Durchsuchungen der Moschee und den Privatwohnungen absolut nichts gefunden. Keinerlei belastendes Material, das vor einem ordentlichen Gericht verwertbar gewesen wäre."
Ob sich inzwischen die Beweislage in Lagny-sur-Marne geändert hat, die Moschee aufgrund neuer Erkenntnisse geschlossen bleibt, darüber hat Amnesty International keine Informationen. Auch aus dem Innenministerium gibt es dazu keine Auskunft: Ein Interview hat das Ministerium abgelehnt. Tiefe Eingriffe in individuelle Grundrechte, wie Hausarrest oder auch nächtliche Hausdurchsuchungen, seien unter dem Regime des Ausnahmezustands längst außer Kontrolle geraten, beklagt Amnesty International.
"Normalerweise muss ein begründeter Verdacht gegen die Person vorliegen, gestützt von Beweiselementen. Bestätigt sich der Verdacht bei den anschließenden Strafermittlungen, kommt es zur Anklage. Seit Beginn des Ausnahmezustands wurde von den Behörden Innenministerium 710 Mal Hausarrest verhängt beziehungsweise verlängert. Aber bis heute konnte in keinem einzigen dieser Fälle Klage wegen Straftaten mit terroristischem Hintergrund erhoben werden."
Die harten Maßnahmen des Ausnahmezustands würden auch dann eingesetzt, wenn keine Gefahr im Verzug ist, eine Strafverfolgung nach herkömmlichem französischen Recht völlig ausreichend sei, beanstandet die Menschenrechtsorganisation. Außerdem vermengten die Behörden des Innenministeriums immer wieder Terrorismus und Religionspraktiken strenggläubiger Muslime.
"In einigen der Fälle, die wir dokumentiert haben, sind Muslime nur aufgrund ihrer religiösen Praktiken ins Visier der Behörden geraten. Etwa, weil sie bestimmte Moscheen besucht haben sollen, weil sie einen typischen Bart tragen, oder – im Fall einer Frau - weil sie sich verschleiert. Dass sich Behörden auf angeblich verdächtige Religionspraktiken berufen, ist absolut diskriminierend."
Forderung nach Aufhebung des Ausnahmezustands
Amnesty International und zahlreiche andere Bürger- und Menschenrechtsorganisationen fordern nicht nur mehr rechtsstaatliche Kontrolle bei Hausdurchsuchungen oder dem Verhängen von Hausarrest. Sie verlangen seit Monaten die Aufhebung des Ausnahmezustands.
"In einem Rechtsstaat wird der Ausnahmezustand nur für extrem kurze Perioden und in Fällen außergewöhnlicher Bedrohung erlaubt. - Wenn der Staat nicht mehr die Mittel hat, in einer Notsituation zu reagieren. Wird der Ausnahmezustand aber über längere Zeit aufrechterhalten, schwächt er fundamentale Garantien des Rechtsstaates."
Der Ausnahmezustand sei keine Lösung für die Terrorismusbekämpfung, sondern Wasser auf den Mühlen des IS, kritisierte auch der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, vergangenen November bei einen offiziellen Besuch in Paris: Zwar sei Frankreich nicht die Türkei – aber je länger der Ausnahmezustand dauere, desto höher sei das Risiko für Demokratie und Menschenrechte. Die Regierung hatte die Aufhebung des Ausnahmezustands mehrmals vertagt. Nach den französischen Wahlen, im Juli 2017, soll es so nun weit sein. Nicolas Krameyer von Amnesty international ist jedoch skeptisch: Ob die neugewählte Regierung sich daran halten wird, stehe noch in den Sternen. Vage Aussichten auch für Monsieur Traore: Dass er wieder in seiner Moschee in Lagny-sur-Marne beten darf, bevor der Ausnahmezustand aufgehoben ist – das ist sehr unwahrscheinlich.