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Folgen des Brexits
"Leider sind die Menschen so dumm, dass sie von der Geschichte eher nicht lernen"

Der Historiker Christopher Clark kritisiert, britische Spitzenpolitiker hätten "sehr arg geschlafwandelt" vor der Abstimmung über den Brexit. So habe beispielsweise Boris Johnson das Schicksal des Landes für den eigenen Ehrgeiz aufs Spiel gesetzt und wisse jetzt überhaupt nicht, was zu tun sei, sagte Clark im DLF.

Christopher Clark im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Der australische Historiker Christopher Clark sitzt in einer Diskussionsrunde bei der Auftaktveranstaltung des Philosophie-Festivals Phil.Cologne in Köln
    Clark: "Es handelt sich hier um einen wiedererwachten englischen Nationalismus." (picture alliance / dpa / Thilo Schmülgen)
    Thielko Grieß: "Die Schlafwandler - wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog", das ist der deutsche Titel eines Buches, das im englischen Original vor drei Jahren erschienen ist, und der Autor ist der australisch-britische Historiker Christopher Clark. Er lehrt neue europäische Geschichte an der Universität in Cambridge und ist jetzt am Telefon. Herr Clark, guten Morgen.
    Christopher Clark: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
    Grieß: Europa im Juni 2016, ein Europa, das wohl ohne Großbritannien auskommen muss in der Europäischen Union. Ist das wieder ein Kontinent der Schlafwandler?
    Clark: Ob das ein Kontinent der Schlafwandler ist, weiß ich nicht. Ich glaube, wahrscheinlich eher nicht. Dass man in Großbritannien sehr arg geschlafwandelt hat, ist allerdings wahr. Das sieht man auch an der Ahnungslosigkeit derjenigen, die für ein Ausscheiden aus der EU plädiert haben. Sie stehen da vor dem britischen Publikum und scheinen gar keine Ahnung zu haben, was als nächstes getan werden muss.
    "Sie haben das Land in diese Katastrophe geführt"
    Grieß: Haben die britischen Politiker - oder anders gefragt: Wen meinen Sie genau? Wer hat die Augen geschlossen in Großbritannien?
    Clark: Boris Johnson zum Beispiel, der wirklich eine führende Rolle gespielt hat, eine Spielernatur, der die Zukunft und das Schicksal Großbritanniens aufs Spiel gesetzt hat für die eigenen Ambitionen, für den eigenen Ehrgeiz und der jetzt scheinbar überhaupt keine Pläne hat, sich überhaupt keine Gedanken gemacht hat, was er als nächstes tun soll. Er erscheint kaum vor dem Publikum. Es gibt jetzt ein Vakuum, ein politisches Vakuum, da David Cameron schon zurückgetreten ist oder seinen Rücktritt gemeldet hat, und wir sehen, das sind wirklich Schlafwandler gewesen, insofern, dass sie das Land in diese Katastrophe geführt haben, ohne einen Plan darüber zu haben darüber, was als nächstes kommen sollte.
    Grieß: Was ist der Grund dafür, Herr Clark? Ist es kurzfristiges Denken, ist es begrenzter Horizont, oder schlicht Dummheit?
    Clark: Darüber rätseln natürlich alle und es ist faszinierend, wie die Antworten auseinanderlaufen. Die Linke neigt dazu, die Eliten dafür verantwortlich zu machen, und meint, die Eliten haben die Ahnungslosen zum Teil im Stich gelassen und die reagierten mit dieser Abstimmung gegen das Establishment sozusagen. Das ist so eine Art Revolte gegen die Eliten. Aber das ist nur ein Teil der Antwort, denn man kann ja nicht behaupten, dass 52 Prozent der englischen oder der britischen Bevölkerung, aber vor allem der englischen Bevölkerung - es handelt sich nämlich hauptsächlich um ein englisches Problem - arm und ahnungslos sind. Da sind auch viele wohlhabende Menschen dabei gewesen und sie haben nicht aus Armut oder so was oder Wut gestimmt, sondern auch wegen Ideologien. Sie meinten, es würde England in der Tat besser gehen, dass England eine tolle Nation ist, dass man ruhig Großbritannien opfern kann für England. Es handelt sich hier um einen wiedererwachten englischen Nationalismus.
    "Die EU ist kein perfektes Gebäude"
    Grieß: Wenn ich Ihnen zuhöre, finde ich interessant, Herr Clark, dass Sie die Versäumnisse fast ausschließlich in England sehen, in London sehen, aber nicht auf dem europäischen Festland, etwa in Brüssel oder in Berlin. Warum sind Sie so nachsichtig mit den Kontinentaleuropäern?
    Clark: Natürlich trägt die EU mit zum Teil Verantwortung daran. Ich meine, die EU ist kein perfektes Gebäude, auch kein fertiges Gebäude. Die EU ist eine Baustelle und auf dieser Baustelle sind auch viele Probleme, die noch gelöst werden müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Die Remain-Kampagne, die Kampagne für den weiteren Verbleib in der Europäischen Union, hat das auch nicht verheimlicht, und das ist vielleicht ein Teil des Problems, dass die Remain-Leute, ich würde nicht sagen, halbherzig, aber sie haben ehrlich mit den Tatsachen gearbeitet und gemeint, ja, es ist zwar nicht alles perfekt, aber das Projekt stimmt schon, die Richtung stimmt schon, die Werte sind richtig, das sind unsere Werte. Dagegen hat die Leave-Kampagne mit utopischen Argumenten und mit Emotionen, mit Identität argumentiert.
    Grieß: Es heißt häufig jetzt in der Nachbetrachtung, aber das hieß es auch schon vor dem Brexit-Referendum, Herr Clark, dass für die Europäische Union die Jahrzehnte gültige Friedenserzählung, die Verheißung auf Frieden und Wohlstand in der EU weitgehend nicht mehr funktioniere. Ist es ein Gesetz, dass jede neue Generation eine neue Erzählung braucht, damit sie ein Projekt sinnvoll findet?
    Clark: Ja, leider sind die Menschen so dumm, dass sie von der Geschichte eher nicht lernen. Sie lernen nur von den Geschichten, die sie selbst erlebt haben, und das ist eigentlich ein grundlegendes Problem für uns, dass die Generation, die den Krieg erlebt hat, nicht mehr da ist und dass damit ein gewisses Argument über die Frieden stiftende Rolle der EU an Prägnanz, an Plausibilität verliert. Und es ist in Großbritannien sehr oft das Argument gebracht worden, die EU hat mit Frieden nichts zu tun, von den Leave-Leuten natürlich, von den Ausscheidenden, dass die EU nichts mit dem Frieden zu tun hat, sondern die NATO ist dafür da, um uns zu schützen. Das beruht natürlich auf einem sehr schmalen und verarmten Verständnis der Friedensstiftung.
    "Ich kenne keinen, der nicht erschüttert ist"
    Grieß: Das bedeutet auch, dass das diese Tage für Sie, Herr Clark, ernüchternde Tage, resignative Tage sein müssen. Sie können ja schreiben was Sie wollen, aber gegen die, wie Sie es nannten, Dummheit der Menschen kommt niemand an?
    Clark: Das sind schreckliche Tage und natürlich nicht nur für mich. Ich kenne keinen, der nicht erschüttert ist durch dieses Ergebnis und auch durch den Umgang mit dem Ergebnis der politischen Führung. Mich erstaunt es zum Beispiel, dass man schon jetzt von einem Ausscheiden aus der EU als von einer vollbrachten, fertigen Tatsache spricht, wobei dieser Volksentscheid natürlich keine Entscheidung an sich ist und keinen verfassungsmäßigen Stand hat nach britischem Recht.
    Grieß: Der britische Historiker Christopher Clark bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch und Ihnen einen guten Tag.
    Clark: Vielen Dank.
    Grieß: Die schlechte Telefonqualität bitten wir zu entschuldigen. Auch das ist Realität in Europa im Sommer 2016.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.