Dass der Klimawandel etwa zum Abschmelzen der Eisschilde in Grönland führt, ist bekannt. Wie stark unterschiedliche vom Klimawandel betroffene Systeme sich gegenseitig beeinflussen und damit die Folgen verstärken, wurde nun in einer neuen Studie untersucht
Ricarda Winkelmann leitet am Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung das Future Lab zur "Resilienz des Erdsystems im Anthropozän". Sie ist Co-Autorin der aufwendigen Modellierungsstudie, bei der erstmals im Detail untersucht wurden, wie sich verschiedene kritische Elemente des Klimageschehens gegenseitig beeinflussen. Ein Ergebnis: Wir Menschen beeinflussen durch unser klimaschädliches Verhalten stark die Wahrscheinlichkeit von solchen Dominoeffekten. Es kommt dabei auf jedes Zehntel Grad an, um das die Klimaerwärmung verringert werden kann.
Ralf Krauter: Wie aussagekräftig sind solche komplexen Computersimulationen zum globalen Klimageschehen, wie Sie sie jetzt gemacht haben? Sind da nicht irrsinnig viele Unsicherheiten im Spiel, die klare Aussagen schwierig machen?
Ricarda Winkelmann: Ja, wir haben in der Klimaphysik festgestellt, wie wichtig es ist, dass wir nicht nur die einzelnen Elemente des Klimasystems uns anschauen, also zum Beispiel die Eisschilde auf Grönland und der Antarktis oder den Amazonas-Regenwald oder die Ozeanzirkulation, sondern sich besonders auf die Interaktionen auch zu konzentrieren und so zu verstehen, wie sich das Erdsystem oder das Klimasystem als Gesamtes verhält, und insbesondere, welche Veränderungen wir jetzt durch den globalen Klimawandel erleben.
"Mechanismen im Klimasystem immer besser verstanden"
Krauter: Nun wissen wir aber alle schon, dass Klimamodelle an sich schon eine komplexe Sache sind, Sie berechnen jetzt noch ganz viele zusätzliche Faktoren mit rein. Wie knifflig ist es da überhaupt, zu präzisen Aussagen zu kommen?
Winkelmann: Das Klimasystem ist natürlich voller komplexer Zusammenhänge, aber auf der anderen Seite ist die Physik, Mechanismen im Klimasystem, die sind immer besser verstanden. So ist es auch zum Beispiel bei den Kippelementen im Klimasystem. Auch wenn wir es hier mit Phänomenen zu tun haben, wo auch eine starke Komplexität und auch große Nichtlinearitäten eine Rolle spielen, so sind doch die Mechanismen dahinter sehr, sehr gut verstanden. Ich will vielleicht mal ein Beispiel nennen, das ist der Grönländische Eisschild: Der Mechanismus, der Grönland zu einem Kippelement im Klimasystem macht, das ist eigentlich einer, den kennen wir alle vom Bergsteigen. Nämlich wenn wir von dem Gipfel eines Berges ins Tal hinabsteigen, dann wird es um uns herum wärmer, also die Temperatur nimmt zu, und genauso ist es bei den Eisschilden auch. Das heißt, wenn an der Oberfläche Grönlands verstärktes Schmelzen auftritt und sich die Oberfläche dadurch nach und nach in tiefere Lagen absenkt, dann wird es an der Oberfläche wärmer, was wiederum zu mehr Schmelzen führen kann und so weiter und so fort. Das heißt, hier haben wir einen selbstverstärkenden Rückkopplungsmechanismus. Und das ist nur ein Beispiel für die ganz unterschiedlichen Rückkopplungen, die es im Klimasystem so gibt.
Wechselwirkungen zwischen den Elementen
Krauter: Sie haben sich jetzt in der aktuellen Studie verschiedene solche Rückkopplungseffekte angeschaut, die da auftreten können zwischen kritischen Komponenten des Klimasystems. Eine Komponente haben Sie schon genannt, die Eisschilde in Grönland, Sie haben auch die Eisschilde der Westantarktis untersucht, die Atlantikzirkulation und den Amazonas-Regenwald. Warum haben Sie gerade diese vier Komponenten ins Visier genommen?
Winkelmann: In unserer neuen Studie haben wir letztendlich das Risiko untersucht, dass es durch die Interaktion zwischen diesen vier Kippelementen zu möglichen Dominoeffekten im Klimasystem kommen kann, wo also durch das Kippen von einem der Elemente weitere Kippprozesse in anderen Elementen ausgelöst werden. Wir haben das Ganze mit einem neuartigen Netzwerkansatz untersucht, wo schlussendlich alles drinsteckt, was wir bisher über das Verhalten des Grönlandeises, des Antarktiseises, des Regenwalds und der Atlantikströmung im Klimasystem wissen, also mit all den Wechselwirkungen zwischen den Elementen und vor allem auch den Unsicherheiten, die wir kennen bezüglich der kritischen Temperaturschwelle der einzelnen Elemente.
"Interaktionen im Klimasystem reichen von Pol zu Pol"
Krauter: Bleiben wir vielleicht bei dem ersten Kippmechanismus, den Sie schon genannt haben, das Grönländische Eisschild: Mal angenommen, da würden Prozesse in Gang kommen, die sich nicht mehr aufhalten lassen, wie könnte sich das dann auf die anderen Systemkomponenten auswirken, die Sie gerade skizziert haben?
Winkelmann: Wenn von Grönland große Teile abschmelzen sollten, also ein Kipppunkt hier wirklich überschritten ist, dann gelangt dadurch verstärkt Süßwasser in den Nordatlantik, und das wiederum kann über längere Zeiträume zu einer Abschwächung der Atlantikströmung führen. Und die wiederum hätte eine starke Auswirkung letztendlich auf unser Klimasystem rund um den Globus. Es sind so Änderungen zum Beispiel in den Wetterphänomenen und auch Extremwetterlagen hier bei uns in Europa.
Krauter: Und der Grönländische Eisschild könnte dann auch über die Ozeanzirkulation den antarktischen seinerseits beeinflussen?
Winkelmann: Genau. Die Interaktionen im Klimasystem, die reichen wirklich von Pol zu Pol, das heißt, wenn in Grönland starke Veränderungen geschehen dadurch, dass dort ein Kipppunkt überschritten wird, dann übertragen sich diese Veränderungen wirklich von Grönland bis hin zur Antarktis, nämlich insbesondere über die Ozeanzirkulation. Wenn durch das Abschalten Grönlands die Atlantikströmung sich verlangsamt, dann führt das letztendlich zu einer Erwärmung auch im südlichen Ozean, und das wiederum hat dann Konsequenzen für den Westantarktischen Eisschild.
Wahrscheinlichkeit für Domininoeffekt steigt mit jeder Erwärmung
Krauter: Der würde dann schneller abtauen, wenn es dort wärmer wird, das leuchtet ein. Die Befunde sind ja an sich nicht neu, also dass dieses Kopplungsmechanismen auftreten könnten, das ahnte man schon länger. Die entscheidende Frage ist ja, wie wahrscheinlich sind sie, also wie wahrscheinlich sind solche selbstverstärkenden Effekte. Was verraten Ihre Modellrechnungen denn darüber?
Winkelmann: Mit unserem Netzwerkansatz haben wir gefunden, dass in etwa ein Drittel der mehr als drei Millionen Simulationen, die wir durchgeführt haben, solche Kippkaskaden oder Dominoeffekte auftreten können, wo also, wenn ein Kippelement sich verändert, die anderen Elemente auch beeinträchtigt werden. Viele dieser Interaktionen, die physikalischen Prozesse dahinter, die waren schon vorher bekannt. Was aber entscheidend ist, ist, dass das Risiko von solchen Dominoeffekten zwischen ein und drei Grad globaler Erwärmung stark zunimmt. Das bedeutet eben, dass jedes Zehntel Grad zählt, gerade wenn wir uns in diesem kritischen Bereich zwischen ein bis drei Grad Erwärmung befinden.
Krauter: Nun hat man sich ja im Pariser Klimaabkommen darauf verständigt, die Klimaerwärmung auf maximal zwei Grad, besser noch auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Ob wir das schaffen, wissen wir nicht, aber im Lichte Ihrer Modellrechnungen jetzt, das heißt, diese Ziele sind letztlich gar nicht ausreichend?
Winkelmann: Genau, letztendlich haben wir gefunden, dass durch die Interaktion es sein kann, dass diese kritischen Schwellwerte der einzelnen Elemente sogar niedriger liegen, als bisher gedacht. Im Endeffekt bestätigen unsere Ergebnisse einfach, wie wichtig es ist, ernsthaft auf die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens hinzuarbeiten, denn unter anderthalb Grad Erwärmung sinkt in unseren Simulationen die Gefahr für solche Dominoeffekte ganz stark.
"Es kommt jetzt auf unsere Aktion an"
Krauter: Aber bei zwei Grad Celsius, worauf es ja nach aktuellem Stand wahrscheinlich eher hinläuft, da wäre dann schon deutlich häufiger mit solchen Effekten zu rechnen.
Winkelmann: Genau. Letztendlich verschieben wir die Chancen, und zwar nicht zu unseren Gunsten, denn durch die globale Erwärmung, je stärker sie ansteigt, desto größer ist auch das Risiko für Dominoeffekte im Klimasystem.
Krauter: Die Kernbotschaft wäre, wir täten also sehr gut daran, zum Beispiel das rasche Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes zu verhindern, und sollten uns dafür jetzt richtig ins Zeug legen.
Winkelmann: Absolut. Und was noch ganz wichtig ist, sind die Zeitskalen, die dabei eine große Rolle spielen, denn häufig denken wir ja, das Schmelzen der Eisschilde zum Beispiel, das würde natürlich lange Zeiten andauern, also es dauert Hunderte bis Tausende von Jahren, bis tatsächlich das Grönländische Eisschild oder der Westantarktische Eisschild komplett abgeschmolzen wären. Aber die Änderungen, die das bewirken, nämlich die CO2-Emissionen, die können natürlich schon viel, viel früher erreicht werden, nämlich in den nächsten paar Jahren oder Dekaden. Das heißt also, es kommt jetzt auf unsere Aktion an, und wir haben schlussendlich das Schicksal der Eisschilde und auch dieser anderen Kippelemente in der Hand.
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