Archiv

Folgen eines Brexits
"Freibrief für eine Nuklearstrategie in Großbritannien"

Bei einem Brexit drohe Großbritannien "ein Rückfall in alte Zeiten, was den Naturschutz angeht", sagte der EU-Parlamentarier Jo Leinen im DLF. Dies gelte vor allem für den Entschluss der Regierung, wieder in die Atomenergie einzusteigen. Umweltorganisationen hätten sich deshalb für den Verbleib in der EU ausgesprochen.

Jo Leinen im Gespräch mit Mirjam Kid |
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    "Die EU war sehr gut für Großbritannien", sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Vor dem Beitritt habe das Land wenig Umweltgesetzgebung gehabt. (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Mirjam Kid: 46 Millionen Briten haben heute die Wahl: Brexit oder Bremain, aus der EU austreten oder in der EU bleiben. Doch welche Konsequenzen hätte ein Austritt Großbritanniens für die Umwelt? Darüber haben wir vor der Sendung mit Jo Leinen gesprochen. Er ist Abgeordneter des Europaparlaments und war dort mehrere Jahre Vorsitzender des Umweltausschusses.
    Briten beklagen eine desolate Agrar- und Fischereipolitik. Bedenkt man dazu noch Brüssels Unterstützung der Dieseltechnologie, stellt sich die Frage, sollten britische Umweltschützer nicht für den Brexit sein?
    Jo Leinen: Es gibt ein klares Bekenntnis der Nichtregierungsorganisationen zum Verbleib in der EU, weil in den 40 Jahren der Zugehörigkeit Großbritanniens zur Europäischen Union viele Standards erhöht worden sind und Großbritannien wahrscheinlich nicht so weit wäre bei der Ökologie, wenn es das alleine hätte machen müssen.
    Wir erinnern uns, dass Großbritannien der "dirty man" Europas war, der schmutzige Mann, wenn man so will, mit Flüssen, die verschmutzt waren, mit einer Luft, die verpestet war, und wenig Umweltgesetzgebung, weil ja der Wind nach Osten weht und auch die Flüsse in die große See gehen. Ich glaube, dass die EU sehr gut war für Großbritannien.
    Leinen: Landwirtschaftsminister will Naturschutz-Richtlinie abschaffen
    Kid: Sie sagen, die Standards haben sich seither verbessert. Mit Blick auf die Umwelt: Welche Konsequenzen hätte denn ein Austritt Großbritanniens?
    Leinen: Der Landwirtschaftsminister hat schon mal angekündigt, dass die Vogelschutzrichtlinie und die Habitat-Richtlinie, also die Naturschutz-Richtlinie abgeschafft würde. Das verspricht nichts Gutes. Es gibt dann diesen Geist des Kapitalismus, dass man ja investieren soll auch an Küsten, auch in sensiblen Gebieten. Also es droht zumindest ein Rückfall in alte Zeiten, was den Naturschutz angeht.
    Kid: Dann muss man auch sagen, Umweltverschmutzung endet ja nicht unbedingt an den Grenzen, Stichwort Luftverschmutzung, Stichwort Atom- und Kernenergie.
    Leinen: Großbritannien, jedenfalls diese Regierung hat sich entschieden, in die Atomenergie wieder einzusteigen. Es ist eigentlich ziemlich hanebüchen, wie dieses Hinkley-Projekt durchgeboxt wurde, auch gegen EU-Regeln, weil viele Milliarden Staatsbeihilfen notwendig sind, um das Ganze rentabel zu machen. Eigentlich etwas, was verboten ist in der EU. Da wurde hinter den Kulissen schwer lobbyiert und ein Austritt aus der europäischen Energieunion würde auch ein Freibrief sein für eine Nuklearstrategie in Großbritannien, und die Absicht dieser Regierung ist ganz klar.
    "Naturschutzgesetzgebung war sehr anspruchsvoll in der EU"
    Kid: Nun gelten die Briten in vielen Fragen ja auch als Quertreiber. Wird die Umweltpolitik ohne sie leichter?
    Leinen: Im Klimaschutz waren sie jetzt ganz gut. Sie haben das Paris-Abkommen und die anderen Fragen auch immer unterstützt. Ich sehe, dass bei Pestiziden sie vielleicht auch Probleme haben und eher der Chemieindustrie nachlaufen. Ich sage mal, der Lobbyismus der Industrie in Westminster im britischen Parlament wird wesentlich größer sein und wirksamer sein, als das hier im Europaparlament möglich ist, und die Umweltorganisationen sehen das ziemlich klar. Alle haben sich eigentlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, weil es der Ökologiepolitik, der Naturschutzpolitik eigentlich sehr gut getan hat.
    Kid: Was sind denn konkret die größten Befürchtungen? Was würde sich in der britischen Umweltpolitik ändern?
    Leinen: Sie wäre nicht mehr Teil des Emissionshandels. Von daher denke ich mir nicht, dass ein nationaler Emissionshandel aufgebaut würde, sondern das würde zurückfallen in Sektoralpolitik für die Zementindustrie, für die Stahlindustrie, für die Chemieindustrie, und da kann man sich vorstellen, dass da der Druck der betroffenen Industriebereiche sehr hoch sein wird. Sie sind nicht mehr Teil der Naturschutzgesetzgebung, die eigentlich doch sehr anspruchsvoll war in der EU, auch mit Erfolgen, wenn man die "Natura 2000"-Gebiete sieht, die Vogelschutzpolitik der Zugvögel vor allen Dingen, die geschützt werden.
    "Die Umweltpolitik hat sich nicht viel vorzuwerfen auf europäischer Ebene"
    Kid: Nicht mehr Teil des Emissionshandels, konkrete Konsequenzen für den Klimaschutz möglicherweise und Natur- und Umweltschutz. Gesetz den Fall, Großbritannien bliebe, gibt es trotzdem Lehren, die die EU umweltpolitisch zieht? Was muss in Zukunft besser laufen?
    Leinen: Ich glaube, die Umweltpolitik hat sich nicht viel vorzuwerfen auf europäischer Ebene. Das ist ja doch, wenn man sieht, dass wir Gesetze für 28 Länder immer machen müssen, eigentlich gut vorangekommen. Sie haben die Dieseltechnologie angesprochen. Natürlich: Nicht alles ist Gold, was glänzt. Wir merken, dass beim Automobilsektor auch die Augen zugedrückt wurden und die Lobby der Autoindustrie natürlich mächtig ist auch hier im Parlament und bei der Kommission.
    Das wird sich jetzt ändern. Nach dem VW-Skandal wird nichts mehr so bleiben in diesem Sektor wie es war. Es gibt Baustellen in der Klimaschutz- und Umweltpolitik der EU, aber ich meine mal, dass unter dem Strich die Erfolge nicht geringer sind, wie sie bei 28 nationalen Umweltgesetzgebungen gewesen wären.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.