Tatjana Lokschina war eine Woche in der von Separatisten kontrollierten sogenannten Volksrepublik Donezk unterwegs, gemeinsam mit Kollegen von Amnesty International. Es war bereits ihre achte Reise in die Ostukraine seit Ausbruch des Krieges 2014. Von den Behörden sei sie nicht behindert worden, wohl aber habe sie das Misstrauen der Bevölkerung zu spüren bekommen, erzählt Lokschina: "Die Leute haben große Angst zu reden, mehr noch als zur Zeit der aktiven Kriegshandlungen."
Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Konfliktes
Lokschina hat mit Folteropfern gesprochen und Interviews mit Angehörigen von Verschwundenen geführt. Solche Fälle seien im Vergleich zu 2014 seltener geworden:
"Es sind sicher noch mehrere Dutzend. Aber es gibt keine Massenfestnahmen mehr. Damals, im Sommer 2014, hat sich jeden Tag eine riesige Menge vor allem Frauen vor dem ehemaligen Gebäude des ukrainischen Geheimdienstes in Donezk versammelt. Sie suchten ihre Angehörigen. Das gibt es jetzt nicht mehr. Dass es jetzt weniger Festnahmen gibt, liegt aber auch daran, dass die Kritiker des neuen Regimes die Region verlassen haben."
Zeugen sagen aus, dass in der Vergangenheit auch russische Staatsbürger an willkürlichen Festnahmen und Folter im Donbass beteiligt waren. Ob das jetzt immer noch so ist, darüber hat Lokschina keine Erkenntnisse. Sie könne es aber auch nicht ausschließen. Die Moskauerin legt Wert auf die Feststellung, dass Human Rights Watch Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Konfliktes registriert. Es gebe auch auf der ukrainischen Seite Exzesse.
"Einer der Leute, mit denen ich auf der Reise gesprochen habe, wurde 2015 an einem Kontrollposten von ukrainischen Soldaten festgenommen. Er war etwa sechs Wochen in einem illegalen Gefängnis und wurde regelmäßig schlimm gefoltert. Als die ukrainischen Soldaten ihn endlich freiließen und er nach Donezk zurückkehrte, wurde er ein, zwei Tage später von den dortigen Sicherheitskräften festgenommen. Und da hat sich alles wiederholt."
Mangelnde Strafverfolgung der Taten
Lokschina beklagt, dass die Täter auf beiden Seiten weitgehend straffrei davonkommen. Sie verweist auf einen Bericht des UN-Menschenrechtskommissars vom Februar. Demnach wurden in der Ukraine im Jahr 2015 34 Verfahren gegen ukrainische Militärangehörige wegen illegaler Festnahmen und Folter eingeleitet. 15 der Verfahren wurden eingestellt, aus Mangel an Beweisen. 19 Verfahren laufen. Das seien viel zu wenige, so Lokschina über die ukrainische Seite.
Im prorussischen Separatistengebiet sieht es noch schlechter aus. Von strafrechtlichen Verfahren gegen Uniformierte in den sogenannten Volksrepubliken wisse sie nichts, sagt Lokschina. Bei ihrem Besuch letzte Woche in Donezk habe sie den Stellvertreter der dortigen Ombudsfrau danach gefragt.
"Er hat gesagt, sie würden an verschiedenen Fällen von Menschenrechtsverletzungen durch Vertreter der Sicherheitsorgane arbeiten, er könne uns dazu aber keine Informationen geben." Bekannt ist, dass ein prorussischer Folterer mit dem Tarnnamen "Batman" von Sicherheitskräften der sogenannten Volksrepublik Lugansk liquidiert wurde.
Separatistengebiete stehen vor Lokalwahlen
Westliche Politiker fordern die russische Regierung immer wieder auf, ihren Einfluss geltend zu machen und mäßigend auf die Separatisten in der Ostukraine einzuwirken. Auch Human Rights Watch fordere dies seit zwei Jahren, erzählt Lokschina – jedoch ohne Erfolg:
"Die russische Regierung und die regierungstreuen Medien reagieren immer gleich auf unsere Berichte. Menschenrechtsverletzungen von ukrainischer Seite, die wir dokumentieren, werden in Russland ausführlich weiter verbreitet. Die Verletzungen von Seiten der Separatisten dagegen werden ignoriert."
Im Rahmen des Minsker Friedensprozesses wird derzeit darüber diskutiert, wie in nächster Zeit Lokalwahlen in den Separatistengebieten abgehalten werden können. Gegner dieser Lokalwahlen argumentieren, angesichts der Folterberichte, angesichts einer Atmosphäre von Angst, könne man keine fairen Wahlen abhalten. Lokschina teilt diese Ansicht, verweist aber noch auf etwas ganz anderes:
"Die Leute haben ganz andere Sorgen als Wahlen: Hohe Preise, es wird immer noch geschossen, wer erkennt die Schul- und Hochschulabschlüsse unserer Kinder an. So was. Sie wollen Stabilität."