Archiv


Folterbilder und Selbstbilder

Noltze: Die New York Times hat auf der zweiten Seite eine interessante Spalte, die heißt Korrekturen, da werden üblicherweise die Fehler der letzten Ausgabe begradigt. Anfang dieser Woche aber brachte die wichtigste Zeitung der Welt eine Fehlermeldung von viel grundsätzlicherer Bedeutung. Die Herausgeber persönlich bedauerten einen leichtfertigen, nicht hart genug recherchierten Journalismus in der Berichterstattung über den Irakkrieg. In deutschen Blättern lesen wir gleichzeitig unter anderem die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag mit einer Analyse der Folterbilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis und ihrer Folgen, außerdem den Aufruf eines gewesenen ranghohen US-Diplomaten der seine Kollegen offen zum Widerstand gegen Präsident Bushs Zitat "Perverse Truppe", das heißt zur Massendemission aufruft. Amnesty International resümiert einen Totalschaden der amerikanischen Glaubwürdigkeit und, um noch mal die New York Times zu erwähnen, hier wird konstatiert, das Ansehen des Landes in der Welt sei noch nie so schlecht gewesen wie jetzt. Ein Desaster. So also ist die mediale Lage. Die Frage ist aber nicht nur, was schreiben die Amerikaner sondern was denken sie. Ich frage einen Neu-Amerikaner, den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der an der Stanford University lehrt, jetzt aber gerade in Kyoto ist. Hat Susan Neiman recht, Herr Gumbrecht, die Direktorin des Einstein-Forums, die sagt, dass in den USA die Stimmung gerade kippt, während es in Europa an politischem und auch an intellektuellem Engagement fehlt?

Hans Ulrich Gumbrecht im Gespräch | 27.05.2004
    Gumbrecht: Ich glaube nicht, zum ersten, dass die Stimmung in Amerika kippt sondern ich glaube, dass eine Wegbewegung von der Regierung, von denen die bereit waren wieder für Bush ihre Stimme abzugeben, sich vielleicht beschleunigt hat. Ich glaube nicht, dass es sozusagen ein Kippphänomen ist, das jetzt etwas ganz neues der Fall ist, denn das würde ja auch voraussetzen, dass vorher sozusagen eine Nation einheitlich hinter Bush gestanden wäre. Was Europa angeht, so kann ich den Eindruck von Frau Neiman nicht teilen, dass man sich in Europa zuwenig mit diesen Dingen beschäftigt. Auf der einen Seite ist das zwar nicht ausschließlich oder primär das Problem von Amerika und deswegen, selbst wenn in Amerika die Diskussion intensiver wäre, so würde das rechtens sein. Ich würde mir wünschen, dass man das in Europa etwas differenzierter und etwas komplexer sieht. Es scheint mir allzu oft jetzt der Schluss gezogen zu werden, dass das, was in den Gefängnissen im Irak passiert ist, sozusagen direkt der Ausdruck oder das Symptom des gegenwärtigen Zustands der amerikanischen Gesellschaft sei.

    Noltze: Welche Rolle spielt denn die Kulturindustrie? Es heißt, die Verleiher reißen sich jetzt um den Cannes-Sieger-Film von Michael Moore, Bush-kritisch, den Disney verhindern wollte. Und Roland Emmerichs Klimakatastrophenepos ist schon ein Kinohit. Hat so was Einfluss?

    Gumbrecht: Ja, sehen Sie, ich glaube, meine ganze Tendenz in unserem Gespräch, aber auch, wenn ich mit anderen Leuten, also nicht im Radio, rede, ist immer zu sagen, das Funktionieren der Öffentlichkeit, der Einfluss der Medien, die Manipulation der Medien, die Möglichkeit der Öffentlichkeit, sozusagen sich von einer Mehrheit in eine andere Richtung zu bewegen, ist so verschieden von den westeuropäischen Gesellschaften nicht. Ich meine, man hat ja auch eigentlich bis vor zwei drei Jahren immer angenommen, ja die USA sind verschieden von den europäischen Ländern, aber nicht grundverschieden eigentlich und das ist weiterhin der Fall. Also, der Film von Moore ist sicher populärer geworden als er vorher war, der war aber auch nie im Mund von vielen Intellektuellen und vielen anderen Leuten. Ich würde auch sagen, eine Sache wie, dass Disney den Film versucht hat zu verhindern, das ist ja auch nicht so verschieden von Deutschland. Also, Leo Kirch hat auch versucht, alle möglichen Sachen zu verhindern und andere Sachen zu pushen. Ich meine der Disney-Konzern ist nicht mit dem Weißen Haus und vor allem nicht mit dem Supreme Court identisch. Und dass es da Interessen, politische und ökonomische Interessen gibt, partikulare Interessen, die aufeinander treffen, das will ich noch mal betonen, so langweilig das als These ist, ist nicht grundsätzlich von Europa verschieden. Also meine polemische Spitze geht gegen einen, von den europäischen Medien, meine ich doch, produzierten Eindruck, dass alles in den USA gleichgeschaltet sei. In einem Interview mit einem amerikanischen Kollegen im WDR wurde gefragt, ob der vorauseilende Gehorsam der amerikanischen Presse sich schon wie immer eingestellt habe. Die ist genauso wenig oder genauso viel vorauseilend gehorsam wie die europäische Presse.

    Noltze: Glauben Sie denn bei allem, dass das Selbstbild der Amerikaner, also aus Gottes eigenem Land der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, dass dieses Selbstbild einen Riss oder Knacks bekommen hat?

    Gumbrecht: Vielleicht keinen Knacks, das ist so ähnlich wie mit der Mehrheit, die für Bush war und jetzt vielleicht eine knappe Mehrheit gegen Bush geworden ist. Das Selbstbild der Amerikaner war noch nie so eindeutig positiv, wie man jetzt in Deutschland, vor allem aber in Europa zu glauben beliebt. Lassen Sie mich ein kleines Beispiel nennen. Sie haben vorhin erwähnt, dass ich im Moment für meine Universität amerikanische Studenten in Kyoto in Japan unterrichte. Es gehört zu dem absoluten jährlichen Programm, dass eine Reise nach Hiroshima unternommen wird. Zufällig fahren wir da morgen mit dem Zug hin. Und die Reise nach Hiroshima ist durchaus gemeint als eine Problematisierung der amerikanischen Geschichte. Also ich glaube, dass so stromlinienförmig positiv und sendungsbewusst wie jetzt oft unterstellt wird das Selbstbewusstsein, wenn man da überhaupt im Singular reden kann, der USA noch nie war. Und jetzt würde ich einen neuen Absatz machen und hinzufügen, wenn die Amerikaner allerdings trotz der Ereignisse der jüngsten Zeit, insgesamt ein positiveres Bild von ihrer eigenen Geschichte haben als die Deutschen, so wäre das vielleicht auch berechtigt.

    Noltze: Am Samstag wird in Washington ein 174-Millionen-Dollar-Monument für die US-Opfer im Zweiten Weltkrieg eröffnet, eine Art patriotischer Akt. Was glauben Sie wird da für ein Signal an die Welt gefunkt werden? Oder ist das eine inneramerikanische Angelegenheit?

    Gumbrecht: Ich glaube nicht, dass das gemeint ist und geplant ist, sozusagen als eine Intervention in der jetzigen Situation, solche Dinge sind ja langfristiger geplant. Ich glaube, der Unterschied liegt darin, dass es einen solchen Patriotismus in den USA gibt. Der Unterschied liegt darin, dass vielleicht die Hälfte der Bevölkerung daran glaubt, dass es unter gewissen Umständen wert ist, für bestimmte Werte, zur Verteidigung bestimmter Werte auch Menschenleben zu opfern. Ich meine da geht es um eigene Soldaten, die fallen. Das ist in Europa heute nicht mehr verständlich. Welche Seite recht hat, was sozusagen langfristig die erfolgreichere und vernünftigere Möglichkeit ist, das scheint mir eine zumindest offene Frage zu sein. Aber ich würde sagen, dass das ein Monument für die eigenen Opfer eines Krieges ist, der gewonnen worden ist. Man soll ja in Deutschland auch nicht vergessen, dass der Krieg zum Vorteil von Deutschland, von den USA und den Alliierten gewonnen worden ist. Ich glaube nicht, dass das ein Skandal ist und man sollte sich darüber mal jetzt nicht aufregen.

    Noltze: Nicht so aufregen. Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturwissenschaftler an der Universität Stanford über aktuelle US-amerikanische Befindlichkeiten.