"Morgens haben sie geschrieen: Aufstehen!"
Die 82-Jährige hat nichts vergessen. Die agile 1,50 Meter kleine Alte mit dem kurzgeschnittenen Haar wuselt flink durch die Wohnung. Dass Jekaterna Kobulnik hinkt, mindert ihr Tempo keineswegs. Auch ohne den fehlenden kleinen Finger an der rechten Hand scheint sie bestens zurecht zu kommen.
"Damals hatten wir oft 55, 60 Grad minus. Weil wir ständig schwer schufteten, war uns nie kalt. Immerzu mussten wir etwas mit den Spaten ausgraben oder Baumstämme schleppen für die Überlandleitungen. Alles hier im Norden haben wir Häftlinge gebaut. Einmal habe ich beim Bäumefällen an der Stelle gearbeitet, wo die Rundhölzer nach unten gerollt wurden. Zwei Baumstämme hatten sich ineinander verkeilt und ich versuchte, sie zu trennen und plötzlich war mein Finger dazwischen. Ich schrie: ‚Leute haltet an, ich hab mir meinen Finger abgerissen.’"
Zu zehn Jahren Lagerhaft ist sie 1945 verurteilt worden, weil sie an der Seite der ukrainischen Partisanen gegen die Sowjetarmee gekämpft haben soll, was sie noch heute heftig bestreitet. Während der Zeit im GULAG lernte sie einen Häftling aus der Männerstrafkolonie kennen, der aus der Ukraine kam wie sie.
"Sie riefen, he woher kommst Du? Ich erzählte es ihnen und so begann es. Ich war aus der Nähe von Lemberg. Er war aus einem Dorf, nur fünf Kilometer von meinem entfernt, wir begannen, uns Briefe zu schreiben. Das war verboten, dafür habe ich unzählige Male im Karzer gesessen. Doch die Briefe ließ ich mir nicht nehmen. Wenn die Aufsicht kam, schrieen wir ‚Aufgepasst’ und versteckten die Briefe, die wir dabei hatten."
Nach Stalins Tod wurde ihr Geliebter rehabilitiert und durfte Inta sofort verlassen. Jekaterina Kobulnik musste jedoch weitere fünf Jahre bleiben, obwohl auch sie schon entlassen war. Ihr Geliebter ging fort, ohne sie, obwohl sie inzwischen ein Kind von ihm erwartete. Seinen Verrat empfand sie als ihr eigentliches Unglück. Schlimmer noch als den Unfall im Bergwerk, wo sie später für sich und ihren Sohn Geld verdiente.
"Mein Arm ist in eine Trommel gekommen, wurde mitgerissen und zerfetzt. Danach lag ich fünf Monate im Krankenhaus und niemand hat geglaubt, dass mein Arm gerettet werden könnte. Wenn noch der alte Arzt da gewesen wäre, hätte er wohl sofort gesagt: amputieren. Aber der neue war schon da und mein Chef hat ihn angefleht, alles für meinen Arm zu tun. Er sagte, sie ist doch allein mit ihrem Sohn. Dann haben sie mir eine 18 Zentimeter lange Stahlplatte eingesetzt."
Von ihrem Stepan, der sie sitzen ließ, hat ihr Sohn nur den Vatersnamen bekommen, nach den Unfällen im Lager und Bergwerk ist ihr nicht einmal mehr ihr geliebtes Hobby geblieben. Früher fertigte sie meisterhaft die berühmten ukrainischen Stickereien an, selbst noch in der Haft, obwohl das strengstens verboten war. Traurig und doch stolz zeigt sie die alten Handarbeiten.
Wenn Katarina jetzt an den 50.Todestag von Josef Stalin denkt, dann nur mit größter Verachtung für den Diktator. Ihm gibt sie die Schuld für ihr unglückliches Leben.
"Die Wachen wussten von seinem Tod, unter ihnen waren auch gute Menschen, sie informierten uns. Offiziell erfuhren wir nichts. Uns freute diese Nachricht von Herzen. Wieso hätten wir um ihn trauern sollen. Was war gut an ihm? Dass die Ukraine fünf Millionen Menschen verlor, die er nach Sibirien, in den Norden nach Kamtschatka schickte? Dafür, dass man in der Ukraine während der großen Hungersnot Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre Ratten aus lauter Verzweiflung aß? Wie viele Menschen haben sie aus der Ukraine geholt. Unter jeder Eisenbahnschwelle hier liegt eine Leiche."
Die Wut scheint Jekatarinas Energiequelle zu sein. Lagerhaft und Bergwerk haben sie nicht versiegen lassen. Wenn ihr jetzt jemand zum Beispiel vorschlägt, doch aus dem unwirtlichen Hohen Norden fortzuziehen in eine wärmere Region, dann kann sie auch dagegen mit ungebrochener Energie loswettern.
"Ich will nicht weg, ich bin seit 1946 hier, in der Heimat habe ich niemanden mehr, meine Eltern sind tot, meine Geschwister, wozu soll ich dahin, dass sie auf mein hinkendes Bein gucken, oder was? Sie haben mir in Wologda eine Wohnung im 9. Stock angeboten. Und wenn der Lift ausfällt, was dann? Die sind doch verrückt. Ich will nirgendwohin, ich bleibe hier."
Die 82-Jährige hat nichts vergessen. Die agile 1,50 Meter kleine Alte mit dem kurzgeschnittenen Haar wuselt flink durch die Wohnung. Dass Jekaterna Kobulnik hinkt, mindert ihr Tempo keineswegs. Auch ohne den fehlenden kleinen Finger an der rechten Hand scheint sie bestens zurecht zu kommen.
"Damals hatten wir oft 55, 60 Grad minus. Weil wir ständig schwer schufteten, war uns nie kalt. Immerzu mussten wir etwas mit den Spaten ausgraben oder Baumstämme schleppen für die Überlandleitungen. Alles hier im Norden haben wir Häftlinge gebaut. Einmal habe ich beim Bäumefällen an der Stelle gearbeitet, wo die Rundhölzer nach unten gerollt wurden. Zwei Baumstämme hatten sich ineinander verkeilt und ich versuchte, sie zu trennen und plötzlich war mein Finger dazwischen. Ich schrie: ‚Leute haltet an, ich hab mir meinen Finger abgerissen.’"
Zu zehn Jahren Lagerhaft ist sie 1945 verurteilt worden, weil sie an der Seite der ukrainischen Partisanen gegen die Sowjetarmee gekämpft haben soll, was sie noch heute heftig bestreitet. Während der Zeit im GULAG lernte sie einen Häftling aus der Männerstrafkolonie kennen, der aus der Ukraine kam wie sie.
"Sie riefen, he woher kommst Du? Ich erzählte es ihnen und so begann es. Ich war aus der Nähe von Lemberg. Er war aus einem Dorf, nur fünf Kilometer von meinem entfernt, wir begannen, uns Briefe zu schreiben. Das war verboten, dafür habe ich unzählige Male im Karzer gesessen. Doch die Briefe ließ ich mir nicht nehmen. Wenn die Aufsicht kam, schrieen wir ‚Aufgepasst’ und versteckten die Briefe, die wir dabei hatten."
Nach Stalins Tod wurde ihr Geliebter rehabilitiert und durfte Inta sofort verlassen. Jekaterina Kobulnik musste jedoch weitere fünf Jahre bleiben, obwohl auch sie schon entlassen war. Ihr Geliebter ging fort, ohne sie, obwohl sie inzwischen ein Kind von ihm erwartete. Seinen Verrat empfand sie als ihr eigentliches Unglück. Schlimmer noch als den Unfall im Bergwerk, wo sie später für sich und ihren Sohn Geld verdiente.
"Mein Arm ist in eine Trommel gekommen, wurde mitgerissen und zerfetzt. Danach lag ich fünf Monate im Krankenhaus und niemand hat geglaubt, dass mein Arm gerettet werden könnte. Wenn noch der alte Arzt da gewesen wäre, hätte er wohl sofort gesagt: amputieren. Aber der neue war schon da und mein Chef hat ihn angefleht, alles für meinen Arm zu tun. Er sagte, sie ist doch allein mit ihrem Sohn. Dann haben sie mir eine 18 Zentimeter lange Stahlplatte eingesetzt."
Von ihrem Stepan, der sie sitzen ließ, hat ihr Sohn nur den Vatersnamen bekommen, nach den Unfällen im Lager und Bergwerk ist ihr nicht einmal mehr ihr geliebtes Hobby geblieben. Früher fertigte sie meisterhaft die berühmten ukrainischen Stickereien an, selbst noch in der Haft, obwohl das strengstens verboten war. Traurig und doch stolz zeigt sie die alten Handarbeiten.
Wenn Katarina jetzt an den 50.Todestag von Josef Stalin denkt, dann nur mit größter Verachtung für den Diktator. Ihm gibt sie die Schuld für ihr unglückliches Leben.
"Die Wachen wussten von seinem Tod, unter ihnen waren auch gute Menschen, sie informierten uns. Offiziell erfuhren wir nichts. Uns freute diese Nachricht von Herzen. Wieso hätten wir um ihn trauern sollen. Was war gut an ihm? Dass die Ukraine fünf Millionen Menschen verlor, die er nach Sibirien, in den Norden nach Kamtschatka schickte? Dafür, dass man in der Ukraine während der großen Hungersnot Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre Ratten aus lauter Verzweiflung aß? Wie viele Menschen haben sie aus der Ukraine geholt. Unter jeder Eisenbahnschwelle hier liegt eine Leiche."
Die Wut scheint Jekatarinas Energiequelle zu sein. Lagerhaft und Bergwerk haben sie nicht versiegen lassen. Wenn ihr jetzt jemand zum Beispiel vorschlägt, doch aus dem unwirtlichen Hohen Norden fortzuziehen in eine wärmere Region, dann kann sie auch dagegen mit ungebrochener Energie loswettern.
"Ich will nicht weg, ich bin seit 1946 hier, in der Heimat habe ich niemanden mehr, meine Eltern sind tot, meine Geschwister, wozu soll ich dahin, dass sie auf mein hinkendes Bein gucken, oder was? Sie haben mir in Wologda eine Wohnung im 9. Stock angeboten. Und wenn der Lift ausfällt, was dann? Die sind doch verrückt. Ich will nirgendwohin, ich bleibe hier."