Als Ford Madox Fords Roman "The Good Soldier" erstmals auf Deutsch erschien - das war im Jahr 1962 -, muss das Buch recht erfolgreich gewesen sein. Die Übersetzung von Fritz Lorch und Helene Henze kam in den Folgejahren sowohl im Deutschen Bücherbund wie in der Büchergilde Gutenberg als Lizenzausgabe heraus. Diese Bucherwerbsgenossenschaften lektüreaffiner Bildungsaufsteiger leisteten sich in ihren verblassten Hoch-Zeiten neben den unvermeidlichen Bestseller-Zugpferden auch immer solche Titel, die anspruchsvoll waren, aber trotzdem von den Mitgliedern gelesen werden sollten. Ob dies dann tatsächlich der Fall war bei Ford Madox Fords Roman um zwei bessergestellte Ehepaare zwischen der Belle Epoque und dem Großen Krieg, weiß natürlich niemand, aber gekauft wurde das Buch, und daran hatte der Titel der deutschen Übersetzung gewiss seinen Anteil: "Die allertraurigste Geschichte" - gibt es ein größeres Leseversprechen?
Verzwickte Verflechtungen
Allerdings, meinte Fords Londoner Verleger, der das Original nicht unter dem vom Autor selbst gewählten Titel "The Saddest Story" herausbringen mochte. Er vermutete im Jahr 1915, als das Buch erschien und sein Autor wie so viele andere im Ersten Weltkrieg kämpfte, irgendwas mit "traurig" im Titel sei nicht angebracht, und Ford Madox Ford schlug ihm - in der Eile und eher sarkastisch - vor, er solle es doch "The Good Soldier" nennen. So jedenfalls berichtet Ford selbst es im Widmungsbrief an seine Frau Stella, den er einer Neuausgabe des Buchs von 1927 voranstellte.
"Meine liebe Stella,
Ich habe dies immer als mein bestes Buch betrachtet (...) Wie dem auch sei - ich wurde kürzlich zu einer ziemlich eingehenden Prüfung des Buches veranlasst (...) Und ich muss gestehen, ich war erstaunt über die Mühe, die ich auf die Struktur des Buches verwandt haben muss, über die verzwickte Verflechtung von kreuz und quer laufenden Beziehungen: Das ist (…) nicht verwunderlich, denn wenn ich das Buch auch in verhältnismäßig kurzer Zeit geschrieben habe, so hatte ich doch schon ein Jahrzehnt innerlich darüber gebrütet, weil die Geschichte eine wahre Geschichte ist, weil ich sie von Edward Ashburnham selbst hatte und sie erst niederschreiben konnte, als alle anderen tot waren."
Ich habe dies immer als mein bestes Buch betrachtet (...) Wie dem auch sei - ich wurde kürzlich zu einer ziemlich eingehenden Prüfung des Buches veranlasst (...) Und ich muss gestehen, ich war erstaunt über die Mühe, die ich auf die Struktur des Buches verwandt haben muss, über die verzwickte Verflechtung von kreuz und quer laufenden Beziehungen: Das ist (…) nicht verwunderlich, denn wenn ich das Buch auch in verhältnismäßig kurzer Zeit geschrieben habe, so hatte ich doch schon ein Jahrzehnt innerlich darüber gebrütet, weil die Geschichte eine wahre Geschichte ist, weil ich sie von Edward Ashburnham selbst hatte und sie erst niederschreiben konnte, als alle anderen tot waren."
Mit der Verlässlichkeit dieser ausführlichen Widmung allerdings ist es so eine Sache. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die "liebe Stella", die Ford unter der Überschrift "An Stella Ford" anschreibt, mitnichten Ford hieß und ebenso wenig seine Ehefrau war - die hieß anders und ließ sich, gut katholisch, bis zu seinem Tod im Jahr 1939 nicht von ihm scheiden -, sondern eine Geliebte, die er allerdings bereits um eine andere Geliebte bereichert hatte. Und ob es jemanden wie Edward Ashburnham, dessen in der Tat sehr traurige Geschichte hier präsentiert wird, wirklich gegeben hat, steht ebenfalls dahin.
Es scheint vielmehr, als gebe Ford Madox Ford mit seiner Vorrede den vielen "verzwickten Verflechtungen" eine weitere hinzu. Bei der "Allertraurigsten Geschichte" handelt es sich nämlich zugleich um die allerraffinierteste Art, eine Geschichte zu erzählen. Dabei geht sie so einfach los.
"Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. Neun Jahre hatten wir während der Kursaison in Bad Nauheim mit den Ashburnhams in der größten Vertrautheit verkehrt - oder vielmehr in einem Verhältnis zu ihnen gestanden, das so lose und unbeschwert und doch so eng war wie das eines guten Handschuhs mit Ihrer Hand. Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs. Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen. Das ist, glaube ich, ein Zustand, wie er nur bei Engländern möglich ist, die mir bis zum heutigen Tag, da ich mich hinsetze, um herauszufinden, was ich von dieser traurigen Affäre weiß, völlig fremd sind."
Besagte Fremdheit rührt daher, dass es sich beim Erzähler namens Dowell und seiner Frau Florence um reiche, in Europa lebende Amerikaner handelt. Die Leser erfahren sogleich, dass Edward Ashburnhams Ehefrau Leonora heißt und dass Florence wie Edward als Herzleidende ins Kurbad Nauheim kamen. Sie erfahren zudem, dass die, wie er es nennt, "feste Burg" dieses harmonischen Viererbunds, jenes höfische "Menuett" ihres allsommerlichen Beisammenseins "nach neun Jahren und sechs Wochen innerhalb von vier zerschmetternden Tagen" in sich zusammenbrach, und dass von den vieren zwei, nämlich Edward und Florence, tot sind.
Ein unzuverlässiger Erzähler
Natürlich kommen die aufmerksamen Leser umgehend ins Grübeln, denn was soll das heißen: "die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe"? Schließlich ist Dowell mitnichten nur Erzähler eines Geschehens aus zweiter Hand, sondern zumindest direkter Beobachter, Geschädigter der Affäre ebenso, denn seine Frau und sein Freund haben ihm all die Jahre Hörner aufgesetzt. Dowells Lieblingssatz lautet "Ich weiß nicht", sein eigener Vorname - John - kommt in dem ganzen Buch ein einziges Mal vor, und zwar nach gut hundert Seiten. Er gibt sich alle Mühe, das Publikum von seiner geradezu eunuchenhaften Ahnungs- und Harmlosigkeit zu überzeugen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass er an der fatalen Entwicklung des traurigen Geschehens sogar maßgeblichen Anteil hatte. Wir wissen es nicht...
Das ist eine große, wenn nicht die größte Qualität des Buchs: sein unzuverlässiger Erzähler, der gleich zu Beginn das Wesentliche zu verraten scheint, wie alles ausgeht nämlich, der sich im Faden seiner Erzählung verheddert, offenkundig nie begreift, was vor seinen Augen geschieht, sich zum Teil innerhalb eines Satzes widerspricht oder die Perspektive wechselt, und seinen Figuren mit großer Entschiedenheit Eigenschaften zuschreibt, die beim besten Willen nicht unter einen Hut zu kriegen sind. Ist Hauptmann Edward Ashburnham nun ein Wüstling und gewissenloser Verführer oder ein Kavalier, dessen Ritterlichkeit ihn dazu verleitet, Damen in Bedrängnis tröstend zur Seite zu stehen? Ist er ein Spieler und Verschwender - oder ist er einfach gütig und großzügig? Ist er tatsächlich ein bisschen dumm, wie Dowell sagt, oder nicht vielmehr ein Mann der praktischen Intelligenz, mutig und immer um das Wohl seines Regiments besorgt, kurz, der "good soldier" des Romantitels?
Ähnliches gilt für Dowells hübsche, vorgeblich herzkranke Gattin Florence, "die arme Florence", wie es zumal zu Beginn immer wieder heißt. Dass sich hinter ihrer Maske von Bildung, Charme und Empathie ein durchtriebenes Luder verbirgt, wird dem Leser schneller klar als dem Erzähler, aber dass sie ihr halbes Leben als angstgeschüttelte Sklavin eigener Fehlentscheidungen zugebracht hat, stellt sich erst nach und nach heraus.
Schrödingers Katze lebt - im Roman
Und was ist mit Edward Ashburnhams in jeder Hinsicht perfekter Ehefrau, der schönen, großen, blonden katholischen Dulderin Leonora? Nach einer finanziell ruinösen erotischen Eskapade ihres Mannes hat sie mit willensstarker Entbehrung seine Besitztümer gerettet, sie weiß von Anfang an über seine Affäre mit Florence Bescheid und schweigt eisern - einerseits um Dowell zu schonen, andererseits, weil ihre geistlichen Berater ihr zu verstehen geben, Männer seien halt so. Zugleich aber sorgt sie dafür - und das wirkt schon ein bisschen gierig -, dass Edward über sein Vermögen nicht mehr selbst entscheiden kann. Als er schließlich in verbotener Liebe zu beider jungem Mündel Nancy entbrennt, treibt Leonora ihre Regulierungsversuche so weit, dass Edward sich das Leben nimmt, so wie Florence es zuvor getan hatte. Das junge Mädchen - das Dowell zwischenzeitlich heiraten wollte - verfällt in Stupor. Leonora ist diejenige, die am Ende alles hat: Herrenhaus und Landbesitz, einen neuen, soliden Ehemann und sogar ein Kind. Ist sie nicht am Ende doch die Profiteurin der ganzen Angelegenheit?
Fords Erzähler Dowell macht von Anfang an kein Hehl daraus, dass praktisch nichts in diesem Vierecksverhältnis so ist oder so bleiben wird, wie es scheint:
"Nein, bei Gott, es ist falsch! Es war kein Menuett, das wir tanzten; es war ein Gefängnis - ein Gefängnis voll mit kreischenden Hysterikern, die geknebelt waren, damit sie das Rollen der Räder unserer Kutschen auf den schattigen Alleen des Taunus nicht übertönten. - Und doch schwöre ich beim heiligen Namen meines Schöpfers, es war die Wahrheit. (...) Wenn ich neun Jahre lang einen schönen Apfel habe, der im Innern faul ist, und seine Fäulnis erst nach neun Jahren (...) entdecke, darf ich dann nicht sagen, ich hätte neun Jahre lang einen schönen Apfel gehabt?"
Diese emotionsexperimentelle Variante des Versuchsaufbaus von Schrödingers Katze, könnte man sagen, bestimmt die Perspektive des Romans. Aber zur Quantenmechanik des Ford’schen Erzählens gehört auch, dass man ebenso gut alles mögliche Andere behaupten könnte, und alles wäre gleichermaßen richtig wie falsch.
Das ist natürlich auch geschehen. Was die Motive der Handlung angeht, werden Leonoras Katholizismus und Dowells Quäkertum so oft erwähnt, die Vorstellungen von Schuld, Sühne und Opfer so unübersehbar thematisiert, dass sich hier ein fruchtbares Feld akademischer Betätigung eröffnet. Auch von Geld ist so häufig die Rede, dass das Thema nach literaturwissenschaftlicher Deutung geradezu schreit. Von der Rolle der Sexualität - sei es zeittypisch unterdrückte, unbedacht ausgelebte oder bedenkenlos ausgebeutete - zu schweigen. Und ist der Untergang dieses schön anzuschauenden, scheinbar sorglosen, inwendig aber verrotteten und unrettbar verlorenen Vierergespanns, verfasst unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nicht als visionärer Vorschein des Untergangs der alten Welt zu verstehen?
Ebenso vielfältig sind die möglichen Vorbilder und Einflüsse, die in diesem Roman von Ford Madox Ford aufzuspüren sind. Deutsche Interpreten etwa erkannten in der "Allertraurigsten Geschichte" Ähnlichkeiten mit Goethes "Wahlverwandtschaften", nicht nur wegen der Namensähnlichkeit der Protagonisten Edward und Eduard, sondern auch wegen des Mädchens Nancy, das sie an die unschuldig-schuldige Ottilie erinnerte. Die Figur des bekehrten und daran zugrunde gehenden Verführers wiederum grüßt aus den "Liaisons dangereuses" herüber. Dass Edward Ashburnhams Romanlektüre ihn dazu verleitet, Welt und Moral nach sentimentalen Maßstäben wahrzunehmen und zu behandeln, macht ihn zu einem Wiedergänger von Flauberts Emma Bovary. Der Autor selbst nennt in seinem Widmungsbrief Maupassants "Fort comme la mort" als Referenz. Und so weiter.
Nachwort von Julian Barnes
Folgt man Julian Barnes’ als Nachwort abgedrucktem Essay, dessen Erstfassung allerdings vor zehn Jahren erschien, wird Ford Madox Ford als Romancier der ihm angemessene Rang in der englischsprachigen Literaturgeschichte verweigert. Barnes verschweigt allerdings auch die Gründe nicht. Die meisten davon haben nicht mit Fords Schreiben zu tun, sondern mit seinen Eigenarten und Lebenswendungen - und mit der Entwicklung der Literaturgeschichte seiner Zeit. Ford Madox Ford, geboren 1873 in Surrey als Ford Hermann Hueffer, legte den deutschen Nachnamen seines Vaters ab und benannte sich nach seinem Großvater mütterlicherseits, dem Maler Ford Madox Brown. Er war mit einer Vielzahl bedeutender Schriftsteller bekannt oder befreundet, arbeitete zunächst eng mit Joseph Conrad zusammen, war der Mentor von D. H. Lawrence und Ezra Pound, er gründete einflussreiche Literaturzeitschriften in London und Paris, aber als Autor saß er zwischen den Stühlen: dem Spätviktorianismus des 19. Jahrhunderts und einer sich überschlagenden Moderne. Er schrieb ungeheuer viel - Romane, Gedichte, Biografien, Aufsätze -, aber er war eben auch, wie Barnes so treffend schreibt, ein "Musterbeispiel von negativem Karrieremanagement". Er zerstritt sich mit seinen Verlegern, fühlte sich schnell übers Ohr gehauen (meist zu Recht), meldete sich während des Ersten Weltkriegs freiwillig - mit über vierzig - und fiel fast an der Somme. Er scheint eine große Begabung für privaten Kuddelmuddel gehabt zu haben und praktisch keine für Geld. 1939 starb er ziemlich arm im französischen Deauville.
Zwar nennt Barnes einige Beispiele für die Ignoranz der literarischen Mit- und Nachwelt, Ford Madox Ford betreffend, seine anklagende Diagnose relativiert sich jedoch, wenn man sich vor Augen führt, wer sich später als Bewunderer gerade der "Allertraurigsten Geschichte" bezeichnet hat. Graham Greene etwa bekannte, den Roman immer wieder zu lesen, ebenso die britische Queen of Crime Ruth Rendell. Die psychologisch meisterhaften Thriller, die sie unter ihrem Alias-Namen Barbara Vine geschrieben hat, sind spürbar von Fords doppelbödigem Verfahren der ungewollten Selbstentlarvung inspiriert. Barnes teilt eine Äußerung von Ian McEwan mit, der seine Novelle "Am Strand" unter dem Eindruck der Lektüre von "The Good Soldier" verfasst hat, und über McEwans großartigen Roman "Abbitte" wird man getrost das Gleiche sagen dürfen. Auch die Erzählweise der beiden bekanntesten Romane des vorerst letzten Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, "Was vom Tage übrigblieb" und "Alles, was wir geben mussten", steht in der Tradition, die Ford Madox Ford für die englischsprachige Literatur begründet hat.
Geplauder und Tragik
Vielfach ist "The Good Soldier" als "perfekter Roman" bezeichnet worden. In einem ganz fundamentalen Sinn trifft das zu, weil dieses Buch so ungeheuer viele Perspektiven eröffnet und Deutungen ermöglicht. Man merkt es allerdings nicht sofort, denn wenn man mit der Lektüre beginnt, drängt sich die Frage auf, was unperfekter sein könnte als dieser Erzähler John Dowell, der nicht nur penetrant sein Nicht-Wissen einbekennt, sondern dem Bedürfnis des Lesers, sich dem Erzähler als vertrauenswürdigem Führer durch die Geschichte zu überlassen, mit Fleiß ins Gesicht schlägt. Dowell, seinerseits ein allerdings entmannter Ritter von der traurigen Gestalt und damit ebenfalls ein "braver Soldat" im Dienst der Erzählung, heuchelt freilich Unfähigkeit und fragt sich gleich im zweiten Kapitel, wie er sein Vorhaben ins Werk setzen soll:
"Ich weiß nicht, wie ich die Sache am besten niederschreibe - ob es besser ist, die Geschichte von Anfang an zu erzählen, als wäre sie eine Geschichte; oder ob ich sie aus diesem zeitlichen Abstand erzählen soll, so wie ich sie von den Lippen Leonoras oder Edwards vernahm.
Ich stelle mir also vor, ich säße (...) neben dem Kaminfeuer eines Landhauses und hätte mir gegenüber eine mitfühlende Seele."
Seinem unberatenen, um Logik und zeitliche Abläufe scheinbar unbekümmerten Geplauder zum Trotz schafft es der Roman, in Dowells Schilderungen dramatischer Augenblicke nach und nach die tragischen Entwicklungen erkennbar zu machen. Ein merkwürdiger Kontrast entsteht, wenn dieser Mann ohne Standpunkt sich in philosophischem Ruminieren und rhetorischem Händeringen ergeht, in das er zugleich immer wieder Momente sardonischer Komik einbaut. Etwa, als eine von Edwards Gespielinnen, die einzige Figur unter lauter vorgeblich Herzleidenden mit einer tatsächlichen Herzschwäche, dieser vor lauter Liebeskummer erliegt, und Edwards Ehefrau die Tote entdeckt:
"Jetzt fiel ihr Blick (...) auf zwei kleine Füße in hochhackigen Schuhen, die hinter dem Bett hervorstakten. Bei der Anstrengung, die Riemen in einem großen Koffer anzuziehen, hatte Maisie der Tod ereilt - so grotesk, dass ihr kleiner Körper nach vorn in den Koffer fiel, der über ihr zuschnappte wie die Kiefer eines riesigen Krokodils."
Kunstfehler des Übersetzers
Neben der Groteskheit der Szene fällt die seltsame Präteritumsform "hervorstakten" auf und gibt Anlass, sich mit der Qualität der Übersetzung in dieser Neuausgabe zu befassen. Das zugrundeliegende Verb müsste "hervorstaken" sein, ein an dieser Stelle sinnloses Kompositum mit dem Verb "staken", welches bekanntlich das bezeichnet, was die Gondolieri in Venedig mit den Gondeln tun. Wenig mehr Sinn ergibt das Präteritum "hervorstaken", das die Übersetzer Fritz Lorch und Helene Henze 1962 wählten. Der Infinitiv dieser Vokabel ist "hervorstecken", und dieses Verb wiederum ist nur transitiv zu gebrauchen. Aber die kleinen Füße können nicht ETWAS hervorstecken, sondern nur - ganz intransitiv - SELBST hinter dem Bett hervorlugen. Dies oder auch "herausragen" wäre das korrekte Äquivalent zum "sticking out" des Originals. Die Eigentümlichkeit ist also nicht der Fallenstellerei des Erzählers zuzurechnen, sondern einfach ein Kunstfehler der Übersetzer. Zugegeben, ein kleiner Lapsus, aber solche sind immer mal wieder zu beobachten. So finden sich die "two blue discs" von Leonoras Augen nicht als "Scheiben", sondern als "blaue Kreise" wieder. Immerhin, wenn Dowell eingangs die wahre Natur des Viererbunds als "Gefängnis voll mit kreischenden Hysterikern" bezeichnet, ist dies deutlich näher am Originaltext "a prison full of screaming hysterics" als die alte Übersetzung "ein Gefängnis voll schreiender Hysterien".
Von Einzelheiten wie diesen abgesehen, unterscheiden sich die Übersetzung von 1962 und der Text der jetzt von Diogenes herausgebrachten Ausgabe des Romans jedoch kaum. Das ist auch kein Wunder, denn diese ziemlich groß angekündigte Neuausgabe bietet überhaupt keine neue Übersetzung, sondern lediglich eine überarbeitete Fassung der alten. Nicht immer mit überzeugendem Ergebnis, wie sich an diesen Beispielen zeigt.
Als vor 18 Jahren, genau zur Jahrtausendwende, in der Anderen Bibliothek eine Neuausgabe just dieser Übersetzung aus dem Anfang der 60er-Jahre erschien, noch dazu mit den alten Nachworten, ließ man es sich ganz gern gefallen, den alten Wein in einem bibliophilen neuen Schlauch überreicht zu bekommen. Dass der Verlag, der seit langem die Rechte an dieser Übersetzung hat, es nun dabei bewenden lässt und das Ganze lediglich mit Leineneinband, Schuber und einem seit langem auf Deutsch zugänglichen Aufsatz von Julian Barnes aufbessert, ist kein Drama, aber eine verpasste Chance.
Die Konjunktur der Neuübersetzung kanonischer Werke und moderner Klassiker großer Literatursprachen hat ja insofern ihr Gutes, als dass die Kunst und das Handwerk des Übersetzers endlich als geistige Leistung eigenen Rechts, als Begegnung zweier interessanter Köpfe wahrgenommen werden. Es wäre schön, wenn sich nach bald sechs Jahrzehnten jemand fände, der sich der Mühe unterzöge, sich mit frischer Kraft und neugierigem Blick Fords Madox Fords "Allertraurigster Geschichte" zu nähern - einem der lesenswertesten Romane der Weltliteratur.
Ford Madox Ford: "Die allertraurigste Geschichte"
Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze
Mit einem Nachwort von Julian Barnes
Diogenes Verlag, Zürich. 320 Seiten, 29 Euro
Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze
Mit einem Nachwort von Julian Barnes
Diogenes Verlag, Zürich. 320 Seiten, 29 Euro