Friedbert Meurer: Hermann Cordes leitet das Institut für Autismusforschung an der Universität Bremen. In einem Studio von Radio Bremen ist er uns jetzt zugeschaltet. Guten Morgen, Herr Cordes!
Hermann Cordes: Guten Morgen!
Meurer: Ist der Fall, wie wir ihn eben gehört haben, von Finn typisch?
Cordes: Ja. Er ist typisch für ein bestimmtes Autismussyndrom, Asperger-Syndrom, und dafür ist er als Fünfjähriger, kann man sagen, ganz schön ausgeprägt schon. Er macht das, was autistische Kinder in dem Alter machen: Sie können ganz viel schon, sie können auch reden und sprechen, sehen also fast normal aus und jeder sagt, der ist doch normal, aber sie verstehen, wie man gehört hat, die soziale Situation nicht, die soziale Situation im Kindergarten, und Kinder sagen ihnen nichts. Und wenn man es noch schlimmer sagen würde: Zunächst oder vielleicht überhaupt sagen ihnen auch die Eltern nichts. Das sind Personen, die sich ihnen nähern, die nicht zu ihrer Welt gehören und die sie zunächst zurückweisen, ablehnen. Das ist das schwierigste eigentlich am Autismussyndrom.
Meurer: Wie sieht eine Therapie aus?
Cordes: Beim Asperger-Syndrom ein bisschen anders als - wir kommen sicherlich noch auf die etwas schwereren Fälle wie der Kannersche Autismus. Beim Asperger-Syndrom geht es um das eigene Erleben. Das ist jetzt bei einem Fünfjährigen ziemlich schwierig. Man müsste ihm aber auch schon jetzt sagen, du bist anders, du bist autistisch. Er kann das auch schon kognitiv verstehen, dass er etwas anderes hat. Das liegt daran, und dann zeigt man ihm die einzelnen Teile, wo er etwas anders versteht, man macht ihm klar, was die Kinder eigentlich von ihm wollen, man macht ihm klar, was eigentlich Weinen bedeutet. Das ist so eine Art Training, Emotionaltraining, was man da machen kann, das wird sicherlich auch in seiner Situation da jetzt gemacht, denn ich habe gehört, er sei in einem Frühtraining. Das ist sehr, sehr gut, wenn das möglich ist. Das gibt es nur an ganz, ganz wenigen Stellen in Deutschland, zwei, drei vielleicht nur. Dann wird das sicherlich ein Thema sein, um ihn dazu zu bringen, das zu erkennen, was ihn selbst anders macht, warum er in einer eigenen Welt lebt und es das richtige Ziel ist, ihn in die normale Welt, unsere Welt zu bringen, mit normalen Kindern, normalen Eltern, normalen Ansprüchen und mit einem normalen Kinderspielplatz, wo die Rutsche benutzt wird und man wartet, bis jemand anders kommt, und man lacht, wenn jemand einem hilft und so weiter und so weiter.
Meurer: Auf Ihrer Homepage kann man lesen, dass Sie schätzen, dass von Tausend Menschen in Deutschland drei bis sechs unter Autismus leiden. Wenn man das hochrechnet, sind es Hunderttausende!
Cordes: Ja.
Meurer: Wie kommen Sie auf eine so hohe Zahl?
Cordes: Es war früher so, zu einer Zeit, als hier in Deutschland Autismus bekannt wurde - das ist eigentlich erst in den 80er-Jahren geschehen; entdeckt ist er schon sehr früh, 1946 zuerst von Asperger und Kanner, aber sehr spät erst bekannt geworden, in Deutschland mit großer Verzögerung, in den angloamerikanischen Ländern sehr viel früher ...
Meurer: Also jeder müsste von uns zwei, drei Autisten kennen?
Cordes: Im Prinzip ja.
Meurer: Woran erkennt man die?
Cordes: Sie hatten etwas zur Zahl gesagt, ich habe das noch mal hochgerechnet, wie viele gibt es denn in Deutschland. Rein rechnerisch mathematisch - die Autisten würden es sehr viel genauer wissen wollen - etwa 300.000 bis 400.000. Man überlege sich das!
Meurer: Woran erkennt man einen Erwachsenen mit zum Beispiel dem Autismus nach Leo Kanner benannt?
Cordes: Diese Form des Kannerschen Autismus ist eine Form: Es ist Autismus und gehört zum autistischen Spektrum, wie man so sagt, wo alle autistischen Störungen zusammengefasst sind. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu den Asperger-Autisten die Sprachentwicklung von früh an sehr stark gestört ist, von überhaupt keine Worte sprechen und gar nichts verstehen von der Umwelt und sehr stark in Stereotypien, die auch die Asperger haben, verwickelt sein und da überhaupt nicht raus können. Sie sind also überhaupt nicht ansprechbar als Kinder. Wir selbst arbeiten in der Frühförderung und haben solche Fälle. Sie wissen nicht, wer sie sind, wie ihre Namen sind, sie richten sich nicht auf die Eltern aus. Und wenn sie dann erwachsen sind, können diese massiven Störungen trotz Therapie - und die gibt es bei uns bisher wenig, angemessene Therapien - nicht vollständig geheilt werden. Da haben die Asperger es besser.
Meurer: Also am besten soll möglichst frühzeitig therapiert werden. - Wer soll das erkennen, dass ein kleines Kind unter einer Autismusstörung leidet? Der Kinderarzt?
Cordes: Der Kinderarzt ist der erste Kontakt, die erste Kontaktperson. Und ich muss da jetzt mal ganz deutlich sagen, das ist auch meine persönliche Meinung, aber die gut durch Forschungsergebnisse gedeckt ist: Autismus wird in Deutschland nicht genügend erkannt. Die Kinderärzte, die wissen müssen, dass es Autismus gibt, würden es sehr, sehr früh schon bemerken. Bei den Früherkennungsuntersuchungen, die jedes Kind machen muss, sind Merkmale drin, aber nicht für Autismus direkt. Und wenn ein eineinhalb bis zweijähriges Kind in die U6, U7 dann allmählich reinkommt, dann würden da Merkmale stehen, die auf Autismus deuten, der Kinderarzt würde signalisieren, er würde eine Diagnose veranlassen, in einer Klinik oder bei einem niedergelassenen Psychologen, Psychotherapeuten, der so was machen kann, und dann würde, wenn es ganz gut ginge, sofort eine Therapie beginnen.
Meurer: Heute ist Weltautismustag. Hermann Cordes leitet das Institut für Autismusforschung an der Uni Bremen. Auf der Homepage dieses Instituts für Autismusforschung finden Sie natürlich auch noch weitere Informationen. Herr Cordes, besten Dank und auf Wiederhören nach Bremen.
Cordes: Okay!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Er kann die Emotionen in den Gesichtern nicht lesen" - Leben mit einem autistischen Kind
Hermann Cordes: Guten Morgen!
Meurer: Ist der Fall, wie wir ihn eben gehört haben, von Finn typisch?
Cordes: Ja. Er ist typisch für ein bestimmtes Autismussyndrom, Asperger-Syndrom, und dafür ist er als Fünfjähriger, kann man sagen, ganz schön ausgeprägt schon. Er macht das, was autistische Kinder in dem Alter machen: Sie können ganz viel schon, sie können auch reden und sprechen, sehen also fast normal aus und jeder sagt, der ist doch normal, aber sie verstehen, wie man gehört hat, die soziale Situation nicht, die soziale Situation im Kindergarten, und Kinder sagen ihnen nichts. Und wenn man es noch schlimmer sagen würde: Zunächst oder vielleicht überhaupt sagen ihnen auch die Eltern nichts. Das sind Personen, die sich ihnen nähern, die nicht zu ihrer Welt gehören und die sie zunächst zurückweisen, ablehnen. Das ist das schwierigste eigentlich am Autismussyndrom.
Meurer: Wie sieht eine Therapie aus?
Cordes: Beim Asperger-Syndrom ein bisschen anders als - wir kommen sicherlich noch auf die etwas schwereren Fälle wie der Kannersche Autismus. Beim Asperger-Syndrom geht es um das eigene Erleben. Das ist jetzt bei einem Fünfjährigen ziemlich schwierig. Man müsste ihm aber auch schon jetzt sagen, du bist anders, du bist autistisch. Er kann das auch schon kognitiv verstehen, dass er etwas anderes hat. Das liegt daran, und dann zeigt man ihm die einzelnen Teile, wo er etwas anders versteht, man macht ihm klar, was die Kinder eigentlich von ihm wollen, man macht ihm klar, was eigentlich Weinen bedeutet. Das ist so eine Art Training, Emotionaltraining, was man da machen kann, das wird sicherlich auch in seiner Situation da jetzt gemacht, denn ich habe gehört, er sei in einem Frühtraining. Das ist sehr, sehr gut, wenn das möglich ist. Das gibt es nur an ganz, ganz wenigen Stellen in Deutschland, zwei, drei vielleicht nur. Dann wird das sicherlich ein Thema sein, um ihn dazu zu bringen, das zu erkennen, was ihn selbst anders macht, warum er in einer eigenen Welt lebt und es das richtige Ziel ist, ihn in die normale Welt, unsere Welt zu bringen, mit normalen Kindern, normalen Eltern, normalen Ansprüchen und mit einem normalen Kinderspielplatz, wo die Rutsche benutzt wird und man wartet, bis jemand anders kommt, und man lacht, wenn jemand einem hilft und so weiter und so weiter.
Meurer: Auf Ihrer Homepage kann man lesen, dass Sie schätzen, dass von Tausend Menschen in Deutschland drei bis sechs unter Autismus leiden. Wenn man das hochrechnet, sind es Hunderttausende!
Cordes: Ja.
Meurer: Wie kommen Sie auf eine so hohe Zahl?
Cordes: Es war früher so, zu einer Zeit, als hier in Deutschland Autismus bekannt wurde - das ist eigentlich erst in den 80er-Jahren geschehen; entdeckt ist er schon sehr früh, 1946 zuerst von Asperger und Kanner, aber sehr spät erst bekannt geworden, in Deutschland mit großer Verzögerung, in den angloamerikanischen Ländern sehr viel früher ...
Meurer: Also jeder müsste von uns zwei, drei Autisten kennen?
Cordes: Im Prinzip ja.
Meurer: Woran erkennt man die?
Cordes: Sie hatten etwas zur Zahl gesagt, ich habe das noch mal hochgerechnet, wie viele gibt es denn in Deutschland. Rein rechnerisch mathematisch - die Autisten würden es sehr viel genauer wissen wollen - etwa 300.000 bis 400.000. Man überlege sich das!
Meurer: Woran erkennt man einen Erwachsenen mit zum Beispiel dem Autismus nach Leo Kanner benannt?
Cordes: Diese Form des Kannerschen Autismus ist eine Form: Es ist Autismus und gehört zum autistischen Spektrum, wie man so sagt, wo alle autistischen Störungen zusammengefasst sind. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu den Asperger-Autisten die Sprachentwicklung von früh an sehr stark gestört ist, von überhaupt keine Worte sprechen und gar nichts verstehen von der Umwelt und sehr stark in Stereotypien, die auch die Asperger haben, verwickelt sein und da überhaupt nicht raus können. Sie sind also überhaupt nicht ansprechbar als Kinder. Wir selbst arbeiten in der Frühförderung und haben solche Fälle. Sie wissen nicht, wer sie sind, wie ihre Namen sind, sie richten sich nicht auf die Eltern aus. Und wenn sie dann erwachsen sind, können diese massiven Störungen trotz Therapie - und die gibt es bei uns bisher wenig, angemessene Therapien - nicht vollständig geheilt werden. Da haben die Asperger es besser.
Meurer: Also am besten soll möglichst frühzeitig therapiert werden. - Wer soll das erkennen, dass ein kleines Kind unter einer Autismusstörung leidet? Der Kinderarzt?
Cordes: Der Kinderarzt ist der erste Kontakt, die erste Kontaktperson. Und ich muss da jetzt mal ganz deutlich sagen, das ist auch meine persönliche Meinung, aber die gut durch Forschungsergebnisse gedeckt ist: Autismus wird in Deutschland nicht genügend erkannt. Die Kinderärzte, die wissen müssen, dass es Autismus gibt, würden es sehr, sehr früh schon bemerken. Bei den Früherkennungsuntersuchungen, die jedes Kind machen muss, sind Merkmale drin, aber nicht für Autismus direkt. Und wenn ein eineinhalb bis zweijähriges Kind in die U6, U7 dann allmählich reinkommt, dann würden da Merkmale stehen, die auf Autismus deuten, der Kinderarzt würde signalisieren, er würde eine Diagnose veranlassen, in einer Klinik oder bei einem niedergelassenen Psychologen, Psychotherapeuten, der so was machen kann, und dann würde, wenn es ganz gut ginge, sofort eine Therapie beginnen.
Meurer: Heute ist Weltautismustag. Hermann Cordes leitet das Institut für Autismusforschung an der Uni Bremen. Auf der Homepage dieses Instituts für Autismusforschung finden Sie natürlich auch noch weitere Informationen. Herr Cordes, besten Dank und auf Wiederhören nach Bremen.
Cordes: Okay!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Er kann die Emotionen in den Gesichtern nicht lesen" - Leben mit einem autistischen Kind