Selten löst eine wissenschaftliche Studie so viel Wirbel aus wie die von Cristian Tomasetti und Bert Vogelstein von der John Hopkins University vor fast einem Jahr. Ihr Thema war die Frage: Wie viel trägt der Zufall dazu bei, dass Tumoren in einigen Geweben häufiger entstehen als in anderen? Ihre Antwort: eine ganze Menge. Zufällige Fehler beim Kopieren genetischer Information, die passieren, wenn Stammzellen sich teilen, spielen demnach eine wichtige Rolle. Manche deuteten das als Signal, dass gesundes Leben ohne Zigaretten und exzessive Sonnenbäder gar nichts nützt. Die Geschichte machte Schlagzeilen. Und die Reaktionen mancher Forscher fielen harsch aus: Irreführend, problematisch, fehlerhaft, so ihr Urteil. Die Autoren nahmen es äußerlich gelassen hin. Cristian Tomasetti:
"Wir haben uns gefreut, dass unsere Arbeit so viele Diskussionen ausgelöst hat und bis heute Kollegen zu neuen Studien anregt. Denn wir müssen endlich klären, welche Faktoren Krebs auslösen, damit unsere Anstrengungen, Krebserkrankungen zurückzudrängen, in die richtige Richtung gehen."
Auch am Krebszentrum der Stony Brook University im Bundesstaat New York redeten sich die Forscher damals die Köpfe heiß, erinnert sich der Chef des Zentrums, der Onkologe Yusuf Hannun.
"Das war eine lebendige Debatte. Was uns auffiel, war, dass sich zwar viele über die Tomasetti-Studie aufgeregt haben, aber keiner hat sich genauer angeschaut, ob ihre Schlussfolgerungen überhaupt einer Überprüfung standhalten."
Aussage gegen Aussage
Hannun nahm sich der Sache an und hinterfragte, ob die Annahmen, die die Forscher in der ersten Studie gemacht hatten, valide sind. Am meisten stieß ihm auf, dass Cristian Tomasetti und Bert Vogelstein davon ausgingen, dass sämtliche Fehler im Genom, die entstehen, wenn Stammzellen sich teilen, purer Zufall seien:
"Wenn äußere Risikofaktoren wie UV-Strahlung oder das Rauchen Fehler im Erbgut der sich teilenden Zellen verursachen, wird dieser Fehler doch genauso repliziert wie einer, der durch Zufall entstanden ist. Äußere Risikofaktoren üben ihren negativen Einfluss also auch hier aus."
Mit anderen Worten: Tomasettis Methode tauge nicht, um den Einfluss äußerer Risikofaktoren vom Einfluss des Zufalls zu unterscheiden. Vier verschiedene mathematische Modelle zog Yusuf Hannun daraufhin heran, um diese Frage stichhaltiger zu klären. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Zwischen 70 und 90 Prozent aller Krebsfälle wären demnach durch äußere Faktoren verursacht.
Stichhaltige Argumente
Dabei stachen immer die gleichen Krebstypen heraus. Vor allem die häufigen Krebsarten werden nach unseren Berechnungen durch äußere Faktoren bestimmt: Krebs in der Prostata, in der Brust und im Dickdarm. Wir legen stichhaltige Argumente für unsere These vor."
Gerade die häufigen Krebsarten ließen sich demnach bekämpfen, indem man herausfindet, welche äußeren Faktoren sie begünstigen, und dann versucht, diese Faktoren zu minimieren. – Damit steht jetzt aus wissenschaftlicher Sicht Aussage gegen Aussage. Cristian Tomasetti ist nach vor überzeugt, dass er mit seiner Analyse richtig liegt, genauso überzeugt ist Yusuf Hannun vom Gegenteil. Dominik Wodarz von der University of California in Irvine hat die Debatte verfolgt. Sein Spezialgebiet sind mathematische Modelle, die die Entstehung von Krebs beschreiben sollen. Er findet, beide Studien interpretieren ihre Ergebnisse etwas zu mutig.
"Jedes Modell hängt davon ab, was man als gegeben voraussetzt. Und das kann sehr schnell sehr komplex werden. Wir wissen noch nicht genug über die Biologie von Krebs. Unsere Annahmen sind also wahrscheinlich fehlerhaft, deshalb hat jedes Modell eine gewisse Unsicherheit. Wenn man die Ergebnisse, die ein Modell liefert, interpretiert und Schlüsse daraus zieht, muss man diese Unsicherheiten immer im Blick behalten."
Bessere Früherkennung oder Aufklärung?
Anders gesagt: Nichts Genaues weiß man nicht. Die mathematischen Modelle müssen um einiges besser werden, und es braucht mehr biologisches Wissen, um sie mit den richtigen Annahmen zu füttern. – Dabei hat die Klärung der Frage, ob eher äußere Risikofaktoren oder eher der Zufall für die Entstehung von Krebs verantwortlich sind, weitreichende Konsequenzen: Sind es die äußeren Risikofaktoren, lohnt es sich, Geld in ihre Erforschung und in die Aufklärung der Bevölkerung zu stecken. Ist es eher der Zufall, der Krebs auslöst, wäre es sinnvoller in bessere Früherkennung und wirksamere Therapien zu investieren.