Susanne Fritz: Herr Hauschild, Sie starten am Montag mit einer öffentlichen Vortragsreihe an der Universität Münster, die Reihe hat den Titel " die Unvermeidbarkeit von Religionen". Dahinter steht kein Fragezeichen. Wieso kommen wir um Religion Ihrer Ansicht nach nicht herum?
Thomas Hausschild: Auf einer bestimmten Ebene ist das ja eine ganz banale These, denn es ist klar, dass wir nicht wissen, was jenseits der Sterne liegt und was mit einem Jenseits nach dem Tode sein wird. Das wird uns auch die Wissenschaft nie beantworten können. Insofern wird es immer eine Quelle für religiöse Spekulation geben, aber Religion ist mehr; Religion ist auch Kommunikation, und zwar nicht einfach nur mit Symbolen, wie man dann immer gerne sagt, sondern sie ist auch ganz physisch und real. Im Kern jeder Weltreligion, jeder großen, auch jeder kleinen religiösen Praxis liegt letztlich diese Kommunikation. Auch da kann man sagen, das ist eine banale These, weil man dann zum Beispiel als Materialist sagen kann: "Ja, Mohammed war dann eben Epileptiker, Luther Trinker und katholische Priester sind Trickbetrüger oder Psychotechniker". Aber hier hat sich etwas Neues getan: In der Neurobiologie und Bewusstseinsforschung wird heute sehr viel detaillierter als man sich das noch vor 20 Jahren vorstellen konnte, an genau diesem Punkt der Kommunikation mit etwas, was nicht anwesend ist, geforscht, und da hat man herausbekommen, dass alle Menschen potentiell diese Fähigkeit haben, so zu kommunizieren und dass eben auf diese Art Geisterwelten in unsere Welt hineinragen.
Fritz: Das müssen Sie näher erläutern. Was meinen Sie damit?
Hauschild: Damit meine ich, dass das Bewusstsein doppelt angelegt ist und dass der Selbstentwurf des Bewusstseins eine Sicht auf sich selbst in Phänomenen wie außerkörperlicher Erfahrung, luziden Träumen, für sehr, sehr real zu haltenden Halluzinationen ständig aufkeimt unter Menschen – und zwar nicht nur unter kranken Menschen, Epileptikern und so weiter, unter denen das zuerst untersucht wurde, sondern auch bei ganz normalen Menschen. Es gibt auch einen ganz bestimmten Prozentsatz von Menschen, fünf bis zehn, die eine besondere Fähigkeit auf diesem Gebiet haben. Es geht generell also offensichtlich um eine menschliche Fähigkeit, erst sich selbst zu entwerfen und als völlig real zu erleben und darüber dann Bilder anderer zu legen, übernatürlicher Wesen oder auch Verstorbener, Menschen, die überhaupt nicht anwesend sein können.
"Schauen Sie mal an einem Kirchturm hoch, über dem gerade Wolken ziehen"
Fritz: Wollen Sie damit sagen, dass Religion auf Halluzinationen zurückgeht?
Hauschild: Eine ganz bestimmte Klasse von Halluzinationen, die für sehr real gehalten wird, weil sie aus der Selbstwahrnehmung gespeist wird. Das ist eigentlich das Neue an dieser neurobiologischen Sicht, dass man den Nexus, die Selbsterfahrung des Menschen, seine Wahrnehmung seiner selbst, seiner Stellung im Raum, seiner gegenwärtigen Positionierung, das, was auf der Haut passiert, ob man steht, liegt oder sitzt, dass all das die Wahrnehmung dieser anderen Wesen oder auch seiner selbst speisen kann, dass also Doppelgängerphänomene, Phänomene der Außerkörperlichkeit, der Übertragung von Bewusstsein auf Dinge und so weiter, dass die Menschen generell ständig möglich sind.
Fritz: Sie sprechen jetzt von den neurologischen Voraussetzungen möglicherweise von Religion. Es gibt bestimmt Atheisten, die sagen würden, "Auf mich trifft das alles nicht zu." Was sagen Sie nicht-religiösen Menschen?
Hauschild: Dann sollen die mal an einem Kirchturm hochschauen oder an einem Hochhaus, über dem gerade Wolken ziehen, dann werden sie merken, wie sich ihr Bewusstsein auf ganz eigenartige Weise schnell versetzt oder, wenn sie in einem stehenden Zug stehen und neben ihnen fährt ein Zug an, dann können sie das erleben. Das ist schon der allererste Anfang der out-of-body experience, der außerkörperlichen Erfahrung, die zum Beispiel Phänomene wir Schamanismus oder auch Mythologien vom Himmelsflug und Ähnliches antreibt. Es heißt, das Neurobiologische, was den Menschen zum Menschen macht im Verhältnis zu Tieren, bringt immer auch religiöse Früchte hervor.
Fritz: Sie sagen also, Religion ist im Grunde genommen in uns Menschen angelegt. Gibt es Ihrer Ansicht nach ein menschliches Bedürfnis nach Religion?
Hauschild: Es gibt manchmal ein Bedürfnis, aber manchmal auch einen Unwillen, mit diesen Dingen zu leben. Jede Gesellschaft muss ihr Verhältnis zu diesem Grundphänomen immer wieder neu definieren, und dabei gibt es die unterschiedlichsten Lösungen. Das hängt nun wieder ganz klar von den sozialen, ökonomischen und so weiter Bedingungen ab. Dass also die religiöse Potenz sozusagen in Notsituationen ansteigt, das wissen wir, aber auch in Situationen des Überdrusses und der Unklarheit, zum Beispiel bei pubertierenden Jugendlichen, in sehr wohlständigen Regionen der Welt.
Die Rolle der Neurobiologie
Fritz: Warum spielte Religion in praktisch jeder menschlichen Gesellschaft der Menschheitsgeschichte eine Rolle?
Hauschild: Meiner Ansicht nach aufgrund dieses neurobiologischen Kerns. Es wird immer wieder eine Geisterwelt in unsere reale Sinnenwelt hineinragen, weil wir die Moderatoren beider Welten sind – dieser Sinnenwelt, dieser realen und der Geisterwelt. Das sind wir, wir sind immer doppelt, wir haben immer eine Schleife von Erinnerungen und Eindrücken mitlaufen, und wir haben auch ständig innere und äußere Wahrnehmungen, die wir miteinander vermitteln. Das Verrückte ist ja, dass die Neurobiologen mittlerweile fähig sind, Apparitionen, also Erscheinungen anderer Menschen, experimentell hervorzurufen. Interessanterweise passiert das durch Reizungen in genau dem mittleren hinteren Areal, wo alle Lappen und Teile des Gehirns zusammenlaufen und wo auch Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan vor allem verrechnet werden mit anderen inneren Informationen und Informationen aus der Haut. Das heißt, da, wo der Mensch sich selbst überhaupt als aufrecht stehender, sitzender, liegender Mensch gerade definiert und empfindet und auch die Intention zum Handeln gewinnt, genau da kann man diese Illusion hervorrufen, und dadurch wirkt sie ungeheuer realistisch; und sie ist ja auch realistisch, weil es eben die Wahrnehmung unser eigenen Komplexität ist.
Fritz: Woran liegt es dann Ihrer Meinung nach, dass Religion in den modernen westlichen Gesellschaften an Bedeutung verliert?
Hauschild: Ja, sie verliert und gewinnt ja so eigenartig an Bedeutung. In den USA liegen die Dinge völlig anders, weil sich hier 90 Prozent der Menschen weiterhin zu Religion bekennen. In den übrigen Ländern ist es ja eher so, dass ein Drittel noch zu den klassischen Konfessionen gehört, ein Drittel mehr oder weniger atheistisch desinteressiert oder ähnliches ist und ein Drittel privater Religiosität anhängt – wo übrigens diese neurobiologischen Phänomene stark zu tragen kommen, zum Beispiel in Nahtod-Erlebnissen und deren Weitererzählung zu Ideen über Seelenwanderung und Ähnliches.
Fritz: Im Exzellenzcluster geht es um Religion und Politik. Ganz kurz zum Schluss: Wie sehr muss die Politik Ihrer Ansicht nach künftig mit dem Einfluss der Religion rechnen?
Hauschild: Die muss absolut immer mit dem Einfluss der Religion rechnen, der wird immer unvorhersehbar sein. Skandalon nannte man auch das frühe Christentum und die Jesus-Geschichte. Skandalös wird es immer wieder in unser Leben eindringen, und dann werden wir immer wieder neue Impulse aus dieser in Anführungszeichen "Geisterwelt" verarbeiten müssen, und wir müssen in Deutschland speziell jetzt vielleicht auch mal genauer drüber nachdenken, wie das geht, dass wir hier zwei Konfessionen haben, die Kirchensteuer einziehen, diverse andere Religionen, die das nicht dürfen, und dass wir hier sehr viele Religionslose haben, dass es einen Staat gibt, und dass die Religionen gerade im ethischen Sektor, aber auch in anderen Bereichen zugleich mächtig auf Anerkennung und Respekt dringen, vielleicht mächtiger als seit langer Zeit, und dass wir zugleich auch noch hier übertriebene und manchmal auch untertriebene Vorstellung haben über die Existenz einer radikalen religiösen Minderheit der Salafisten, die mittlerweile aber so viele Anhänger haben wie in der 70er Jahren die Rote Armee Fraktion.
Fritz: Vielen Dank für das Gespräch.