"Wenn du eine Pflanze nicht kennst, iss sie nicht, außer du bist am Verhungern, dann kannst du es riskieren. Aber die Mehrheit der Pflanzen, denen du in der Natur draußen begegnen bist, wirst du nicht kennen."
So beschreibt Ilja Steffelbauer, Historiker an der Donau-Universität Krems und Autor des Buches "Fleisch - weshalb es die Gesellschaft spaltet", eine der wichtigsten Regeln für das Überleben in der freien Natur von prähistorischen Zeiten bis heute: "Aber Tiere, die du fangen kannst, kannst du eigentlich alle essen und wenn es Käfer und Würmer sind."
Die meisten Pflanzen kann der menschliche Körper nur schwer; oder wenn, in gekochter Form verwerten. Fleisch dagegen kann man roh essen und es beinhaltet an Proteinen, Fetten und Spurenelementen alles, was Menschen und ihre Vorfahren, die Hominiden für die Entwicklung ihrer Arten brauchten. Körperlich - aber auch als soziale Wesen. Beutefleisch wurde in der Gruppe geteilt. Immer. Und gerecht.
Fleischessen war essentiell für den Weg zum "Homo sapiens"
"Und es ist auch unglaublich schlau, Fleisch zu teilen, weil: Sie können es ja nur sehr kurz aufheben. Fleisch muss sehr rasch verzehrt werden. Eine völlig absurde Idee für Sammler und Jäger wäre nämlich tatsächlich - man käme nie auf die Idee - als wenn jemand die Jagdbeute, die er erjagt hat, einfach verderben lässt und jemand anderer hat dann nichts davon."
Die Eigenart, das Fleisch anderer Tiere essen, war maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung des Menschen zu einem Wesen mit großem Gehirn und ausgeprägtem Selbstbewusstsein. Und der Idee, etwas Besseres zu sein als alle anderen Tiere.
Zunächst, so fasst Ilja Steffelbauer neue Forschungsarbeiten zusammen, suchten die Urmenschen nach Aas. Erst mit fortschreitender Fähigkeit, gleichzeitig aufrecht zu laufen und eine Waffe zu benutzen, gingen sie selbst auf die Jagd. 290.000 Jahre ging das gut. Die Menschen, mittlerweile beim Homo Sapiens angelangt, vermehrten sich und breiteten sich über die Erde aus. Dann kam die Eiszeit. Die großen Beutetiere starben aus, die Umwelt veränderte sich drastisch und die Menschen wurden, was sie heute noch sind: Viehzüchter und Ackerbauern.
Moralphilosophische Rechte auch für Tiere?
Nutztiere, die gezüchtet und gehalten wurden, bekamen vielfältige Aufgaben. Christine M. Korsgaard, Professorin für Philosophie an der Harvard University, sagte in einem Vortrag: "Wir nutzen sie auf alle mögliche Arten: wir essen sie, wir experimentieren mit ihnen, wir testen Medikamente an ihnen, wir halten uns warm mit ihrer Wolle, mit ihrer Haut und ihren Federn. Wir nutzten sie für den Transport und harte Arbeit, ließen sie für uns Rennen laufen und Kunststücke aufführen; und wir haben unsere Freude daran, mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft zu leben."
In ihrem Buch "Tiere wie wir" entwickelt Christine Korsgaard die Theorie des Guten von Aristoteles und Immanuel Kants Moralphilosophie weiter und wendet sie - anders als ihre philosophischen Vorgänger - auf alle Lebewesen auf diesem Planeten an, auch die Tiere. Ihr Argument:
"Nur weil ich ein Wesen bin, für das Dinge gut oder schlecht sind, fordere ich ein, dass das, was für mich gut ist, respektiert und geschützt wird. Wir menschlichen Wesen sind aber nicht die einzigen, für die Dinge gut oder schlecht sind. Das gilt für alle Tiere. Deshalb gibt es keinen Grund, das, was für rational denkende Wesen gut ist, als absolut gut zu betrachten und das, was für andere Lebewesen gut ist, zu ignorieren und abzuwerten."
Fleischkonsum war Machtdemonstration
Derlei Überlegungen spielten in dem Jahrtausende lang währenden Näheverhältnis zwischen Mensch und Nutztier allerdings kaum eine Rolle. Der Wert eines Tierlebens bemaß sich ausschließlich nach dem Nutzen für seinen Besitzer. Wohl aber wurde der Verzehr von Fleisch zu einem Instrument, mit denen sich Menschen gegenseitig in Hierarchien verwiesen. Denn Tierhaltung verbraucht kostbare Fläche, auf der man viel Getreide anbauen könnte. Fleisch stand bei den Meisten deshalb selten auf dem Tisch, wie Ilja Steffelbauer erzählt:
"Und deswegen hätten sie gern mehr, alle, immer zu allen Zeiten; und deswegen konsumieren vor allem diejenigen viel Fleisch, die die Macht haben. Also Fleisch ist über lange Zeit das Nahrungsmittel, mit dem die Eliten demonstrieren, dass sie Eliten sind."
Die wertvolle Mangelware Fleisch wurde aber auch mit besonderer spiritueller Bedeutung aufgeladen. Zum einen als Nahrungstabu in den monotheistischen Weltregionen. Das "unreine Schwein" zum Beispiel diente als Mittel zur Abgrenzung: "Und das perfide an den Nahrungstabus ist, dass sie etwas schaffen, was unglaublich effektiv ist: Sie verhindern nämlich, dass man mit den Angehörigen einer anderen Gruppe bedenkenlos gemeinsam essen kann."
Fleisch-Fasten zur Sexualitäts-Kontrolle?
Innerhalb der Religionen wurde das, was den meisten Menschen eh verwehrt war, auch noch zeitweise ganz entzogen, durch das Fasten zum Beispiel im Christentum.
"Das Interessante am Fasten im Christentum ist, dass es ein spezifisches Fleisch-Fasten ist und zwar noch enger ein Fasten, bei dem man vor allem von rotem Fleisch Abstand nehmen soll. Worum es sehr wesentlich ging, war, sich von einem Nahrungsmittel fernhalten, das dazu geeignet erschien, aus quasi einer medizinischen Perspektive, die sexuelle Lust zu fördern. Das heißt hinter dem Fleisch-Fasten-Tabu im westlichen Christentum liegt eigentlich die sehr problematische Haltung des westlichen Christentums gegenüber der Sexualität an sich."
Radikaler Wandel zur Massentierhaltung
Wie sich unser Verhältnis zur Tierhaltung und damit zum Fleischkonsum seit der Industrialisierung wandelte, vor allem aber in der Nachkriegszeit durch den Einzug der Technik in die Ställe erneut radikal veränderte, beschreibt Veronika Settele, Historikerin an der Universität Bremen, in ihrem Buch "Revolution im Stall":
"Dieser Wandel bestand aus drei Dimensionen: Körper, Wirtschaft, Technik." Zum Beispiel betraf es bei der Rinderhaltung: "die Neugestaltung der Körper, Menschen übernahmen die Reproduktion der Rinder durch künstliche Besamung, es entstand eine neuartige Kontrolle der Körperleistungen."
In der bis dahin marginalen Hühner- und Schweinehaltung bestand die entscheidende Neuerung daraus, möglichst viele Tiere auf möglichst engem Raum zusammenzupferchen und mit möglichst wenig menschlicher Arbeitskraft zur frühen Schlachtreife zu bringen. Das Fleisch auf dem Teller wurde erst damit zur für alle jederzeit erschwinglichen Massenware.
Kunstfleisch als Ausweg aus dem moralischen Dilemma?
Christine M. Korsgaard hebt hervor, wie wichtig es für die moralische Integrität des Menschen ist, von dieser Art, mit anderen Lebewesen umzugehen, Abstand zu nehmen: "Wenn wir lernen wollen, wie wir mit den anderen Tieren, mit denen wir uns den Planeten teilen, richtig umgehen, heißt das nicht nur, dieses oder jenes Opfer zu bringen. Ich glaube, wir müssen so viel wie möglich tun, um diese Tiere, mit denen wir umgehen, in Übereinstimmung mit unseren moralischen Standards zu behandeln."
Eine Lösung des Dilemmas ist schwer zu finden. Einerseits gibt es die Gewohnheit des Menschen, Fleisch zu verzehren, seit Hundertausenden von Jahren. Andererseits führt die Massentierhaltung zu negativen Konsequenzen für Umwelt und Klima. Vielleicht läge eine Lösung in einer erneuten Revolution unserer Essgewohnheiten. Veronika Settele:
"Das finden wir noch nicht so sehr in den Kühlregalen, aber vielleicht bald; ist, dass StartUps mit viel finanzieller Unterstützung an tatsächlichem Fleisch, das in Laboren hergestellt wurde, forschen. Und wenn dieses quasi ‚echte Kunstfleisch‘ auf dem Markt landet, kann ich mir auch vorstellen, dass sich das doch peu á peu, aber immer stärker durchsetzen wird."