Die Geschichte war längst vergessen, 100 Jahre vergangen. Der Soziologe Doktor Alexander Zinn stieß während seiner Promotion darauf. Der Thüringer Rechtsanwalt Hans Holbein, der oft Männer vertrat, die wegen des homosexuellenfeindlichen Paragraphen 175 vor Gericht kamen, hatte 1919 eine Stiftung gegründet, aus deren Vermögen die Universität Jena einen Lehrstuhl zur Erforschung der Bi- und Homosexualität einrichten sollte.
Die Universität zeigte sich zunächst offen für den Plan, auch das Weimarer Kultusministerium. Holbeins Erbschaft, die vollständig an die Universität fließen sollte, schlug diese jedoch 1929 aus: Die Zeiten hatten sich gewandelt. Die Universität richtete keinen Lehrstuhl ein, da man, so wörtlich, "nicht zu einem Sammelpunkt unerwünschter Elemente" werden wollte. Die Erträge aus der Stiftung aber nutzte die Uni - für die Pathologie, berichtet Alexander Zinn:
"Holbein selbst war sich der Verletzlichkeit, die aus der Stigmatisierung und Kriminalisierung der Homosexualität resultierte, nur zu bewusst. Und dieses Bewusstsein war es, das für ihn zur Triebfeder des visionären Projektes einer Institutionalisierung von Forschung und Lehre zu Homosexualität wurde, eines Projektes, das bis heute seine Realisierung harrt. 90 Jahre nach Holbeins Tod ist es nun an uns, mit seinem Vermächtnis adäquat umzugehen."
Hoffnung auf Gerechtigkeit durch Wissenschaft
Holbeins Idee war es gewesen, vor allem Mediziner und Juristen über das Wesen der Homosexualität aufzuklären, in der aufklärerischen Hoffnung, dass Wissenschaft zur Gerechtigkeit führe. "Per scientiam ad iustitiam", wie es auch auf dem Grabstein des Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfeld steht, der am Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Stigmatisierung und Verfolgung Homosexueller kämpfte. Darauf wies auch Professor Walter Rosenthal, der Präsident der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hin:
"Diese Überzeugungen teilen wir noch heute, aber sie sind im Lauf der Zeit doch auch erschüttert worden. Und deswegen sind wir vorsichtiger geworden. Wir haben gesehen, dass selbst aus den Naturwissenschaften heraus Strömungen entstehen können, welche den aufklärerischen Idealen zuwiderliefen. Auch hier, in Jena, können wir leicht dafür Beispiele nennen. Die Geschichte Hans Holbeins, so meine ich, macht beklommen, aber sie macht auch Mut."
Hans Holbein war mit Magnus Hirschfeld befreundet, er gehörte auch zum erweiterten Vorstand des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Hirschfelds, das sich zum Ziel gesetzt hatte, den Paragraph 175 aus dem Strafgesetzbuch zu tilgen. Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft erinnerte in Jena daran, dass die Universität damals nicht nur auf Geld verzichtet hat:
"Hans Holbein hatte der von ihm intendierten Stiftung auch seine gesamte Privatkorrespondenz vermacht. Und ich zitiere aus dem Testament: ‚weil mein Briefwechsel zu einem großen Teil mit Seelenschau geführt wurde und ein solcher Briefwechsel in solcher Vollständigkeit ziemlich selten ist.‘ Nach diesen Unterlagen würden sich Historiker und Historikerinnen heute wohl alle zehn Finger lecken. Sie sind durch die Entscheidung der Universität wohl ebenso unwiederbringlich verloren wie die zahlreichen Korrespondenzen aus Magnus Hirschfelds Berliner Institut."
Aufruf zur Neugründung
Daraus gelte es, so Dose, heute Konsequenzen zu ziehen: "Leider war die Universität Jena damals nicht mutig genug, diese Chance auch nur zu begreifen, geschweige denn, sie in Forschung und Lehre fruchtbar werden zu lassen. Über hundert Jahre nach der ursprünglichen Stiftung, mehr als 90 Jahre nach dem Tod des Stifters ist es an der Zeit, hier nun endlich das bahnbrechende Vorhaben des Doktor Hans Holbein umzusetzen."
Dose, Zinn und andere fordern in einem Aufruf, die Holbein-Stiftung mit Landesmitteln wieder zu gründen und ein Forschungszentrum "zu Geschichte und Gegenwart der Homosexualitäten" an der Uni Jena einzurichten. 100 Jahre später – so war man sich auf der Tagung in Jena einig – ist der Umgang mit Homo- und Bisexualität ein anderer, ein besserer geworden, gleichwohl blieben viele Probleme. Forschung und Aufklärung im Sinne Hans Holbeins und Magnus Hirschfelds täte weiterhin not. Dazu bekannte sich auch der Universitätspräsident Walter Rosenthal:
"Ich würde ein Forschungsprojekt zur Homosexualität und unserer Universität sehr gerne sehen. Wir haben auch ein Instrumentarium. Wir haben zum Beispiel die verschiedenen fächerübergreifenden Zentren, die etabliert werden. Ich könnte mir genauso gut hier ein Holbein-Zentrum vorstellen. Voraussetzung ist aber, und das ist dann wirklich die Aufgabe der Wissenschaft, der Akteure, dass eben so eine Initiative von dort kommt, und wir würden sie sicher unterstützen. Insofern würde ich da auch einen evolutionären Weg sehr stark sehen, dass man Expertise zusammenführt, Forschungsprojekte durchführt, und dann kommt im Lauf der Zeit auch eine strukturelle Verankerung. Ich glaube, das wäre ein sehr vernünftiger Weg."
Geld von Außen für Homosexualitätsforschung
Alexander Zinn erfreute die Offenheit der Universität Jena, er sprach sich aber für deutlichere Schritte aus:
"Die historische Erfahrung lehrt nur, dass wir gerade beim Thema der Forschung zur Homosexualität diese evolutionären Prozesse an den deutschen Universitäten bisher noch nicht gesehen haben. Und Holbeins Idee war ja auch, gerade von außen reinzugehen, Geld reinzugeben. Und ich glaube auch, in diesem Fall wird es nicht anders gehen als mit diesem Weg. Das heißt, wir werden auch den Input von außen, von der Zivilgesellschaft, aber eben auch den materiellen Input brauchen. Ansonsten wird sich da nichts von alleine ergeben, befürchte ich."
Geteilte Meinungen über Mediziner in Trans Studies
Auch über den Inhalt eines Forschungsprojekts, eines Forschungszentrums wurde gestritten. Dass Juristen, Kultur- und Sozialwissenschaftler, Psychologen dazugehören sollten, schien unstrittig. Bei der Frage, ob auch – wie Holbein es einst intendierte – Mediziner dabei sein sollten, gingen die Meinungen auseinander. Die Soziologin Doktor Joris Gregor wandte sich dagegen:
"Ich glaube, mir wäre es gerade wichtig, so Phänomene wie Trans- oder Intergeschlechtlichkeit gerade explizit von der Medizin oder Psychologie zu entkoppeln, weil so etwas wie Trans Studies oder die Intergeschlechtlichkeitsforschung auch zeigt, dass es da klar zu kritisierende Vorgänge gibt, zum Beispiel bei immer noch legalen frühkindlichen, kosmetischen Operationen an intergeschlechtlichen Kindern oder der Psychopathologisierung von Transpersonen."
Auch Präsident Rosenthal warnte vor einer Biologisierung der Psychologie. Er habe sicher nichts gegen eine Holbein-Professur – nur müsse das Geld dafür auch da sein. Aus der Politik in Erfurt gibt es dazu leise, aber zustimmende Signale.