Archiv

Forschungsprojekt an der TU Dresden
Warum nicht jeder seine Stasi-Akte lesen will

Vor über 25 Jahren wurden die Stasi-Archive geöffnet. Doch viele ehemalige DDR-Bürger haben die Gelegenheit, ihre Akten zu lesen, noch nicht genutzt - und werden es auch nie tun, ganz bewusst. Was ihre Beweggründe sind, soll jetzt mit einem Projekt an der TU Dresden erforscht werden.

Von Bastian Brandau |
    Das Archiv der Stasiunterlagenbehörde in Berlin. Die Zukunft der Behörde ist ungewiss.
    Kilometer um Kilometer an Akten: Das Archiv der Stasiunterlagenbehörde in Berlin (dpa / picture-alliance / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Anrufbeantworter: "Guten Tag, Sie erreichen den Anschluss des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte …"
    Ein vielgewählter Telefon-Anschluss an der Technischen Universität Dresden steht derzeit am Lehrstuhl von Dagmar Ellerbrock, Historikerin und Leiterin des Projekts "Gewolltes Nicht-Wissen". Gesucht werden ehemalige DDR-Bürger, die sich bewusst entschieden haben, nicht in ihre Stasi-Akte Einsicht zu nehmen. Das Interesse am Thema scheint vorhanden zu sein - rund 130 Anfragen sind schon eingegangen.
    Am Projekt beteiligt ist auch der Psychologe Ralph Hertwig, Professor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er hat sich als Psychologe mit gewolltem Nicht-Wissen auf individueller Basis auseinandergesetzt - ein Phänomen, das jeder kennt, etwa vom Arztbesuch: Will ich wirklich wissen, ob ich schwer krank bin?
    "Und als ich über dieses Phänomen nachdachte, bin ich dann auch irgendwann über die Stasi-Unterlagen gestolpert und habe mich gefragt, wie das die Leute eigentlich sehen. Ob die Leute das Bedürfnis haben, das unbedingt lesen zu wollen, oder ob sie auch unter Umständen mit sich streiten, diese konfligierenden Impulse haben, nein eigentlich möchte ich gar nicht wissen, was da drin steht."
    Für viele bedeutet ihre Akte potenziellen Schmerz
    Denn längst nicht alle ehemaligen DDR-Bürger haben bei den zuständigen Behörden nach einer Stasi-Akte gefragt. Welche Gründe sie für ihre Zurückhaltung haben, lässt sich nur schwer sagen, bisher jedenfalls. Projektleiterin Dagmar Ellerbrock:
    "Wir haben ganz unterschiedliche Hypothesen. Eine Hypothese ist beispielsweise, dass gewolltes Nicht-Wissen Einfluss darauf hat, wie Menschen miteinander im Freundeskreis, im Familienkreis, im Kollegenkreis umgehen und eine Vorüberlegung war, dass gewolltes Nicht-Wissen hilfreich sein kann, um Kooperationsbeziehungen aufrecht zu erhalten."
    Auch die emotionale Ebene könne eine Rolle spielen, sagt Psychologe Hertwig. Etwa wenn es darum gehe, sich dem Schmerz, der durch Erkenntnisse aus der Akte entstehe, nicht auszusetzen. Und schließlich könne man mit Günter Grass argumentieren, der sich lange geweigert hatte, seine Akte einzusehen - weil er nicht wolle, dass die Stasi entscheide, was Wahrheit sei. Ein nach außen hin vielleicht zweifelhaftes Argument – fürs eigene Erinnern aber mag es stimmen. Rund ein Vierteljahrhundert nach der Öffnung der Stasi-Archive könnten sich Einstellungen aber auch ändern, sagt Psychologe Hertwig:
    "Vielleicht ist es im Lauf der Zeit auch einfacher, bestimmte sehr schmerzhafte Dinge, die man befürchtet, in den Akten zu entdecken, dass die heute, 25 Jahre später möglicherweise nicht mehr so schmerzhaft sind, als sie damals 1989 gewesen wären, weil sich die Lebensumstände auch geändert haben. Oder weil ich beispielsweise den besten Freund von damals heute nicht mehr habe oder nicht mehr den gleichen Kontakt."
    Eine geringe Rente kann Motiv sein, die Akte anzufordern, um einen Anspruch auf eine Opferrente zu prüfen. Auch diesen lassen nach ersten Erkenntnissen einige ehemalige DDR-Bürger aber bewusst verfallen. Sie ziehen weiter das Nicht-Wissen über ihre Stasi-Akte vor.
    Das Nicht-Wissen-Wollen hat eine gesellschaftliche Bedeutung
    Mit einem leitfadengestützten Interview sollen die Probanden in den kommenden Monaten nun nach ihren Motiven befragt und unterschiedliche Motivgruppen herausgefunden werden. Gesucht werden Bürger der ehemaligen DDR, die vor 1975 geboren wurden. Die Zielgruppe ist also überschaubar. Historikerin Ellerbock hofft dennoch auf weitergehende Erkenntnisse, welche Rolle selbst gewähltes Nichtwissen auch in Gesellschaften spielt:
    "Die DDR ist ja ein Fallbeispiel für eine Transformationsgesellschaft. Und wir haben im 20./21. Jahrhundert ja ganz viele Transformationsgesellschaften. Das heißt, wir glauben und hoffen, dass wenn wir verstehen, welche Rolle das gewollte Nicht-Wissen in diesem Transformationsprozess spielt, dann ist das nicht nur für die DDR-Gesellschaft und die deutsche Gesellschaft relevant, sondern es ist für ganz unterschiedliche Transformationsprozesse, vor allem für Transformationsprozesse nach Gewalterfahrungen ein wichtiges Phänomen."
    Vom Münchener Althistoriker Christian Meyer stammt die These, dass Gesellschaften nach Gewalterfahrung zur Amnestie und damit zum Vergessen tendieren. Dies diene dazu, die Gewaltspirale zu stoppen. Nur der Holocaust mit seiner entgrenzten Gewalterfahrung sei ein Gegenbeispiel.
    Dagmar Ellerbrock: "Und was Meyer für den Umgang mit extremer Gewalt postuliert, sich das nochmal anzugucken aus einer Mikroperspektive und zu schauen, ist gewolltes Nicht-Wissen in irgendeiner Form an Gewalterfahrung und an Zukunftsfähigkeit geknüpft und wie ist das im Transformationsprozess zu situieren, darum geht es dem Projekt."