Der Radetzkymarsch von Johann Strauß bildet immer den fröhlichen Abschluss, wenn am ersten Januar im Fernsehen das Neujahrskonzert aus dem Wiener Musikverein in alle Welt übertragen wird. Das Image der Musikstadt Wien ist im Ausland gut etabliert, und auch das österreichische Selbstbild ist stark an musikalische Klischees gebunden. Strauß, Schubert, Beethoven und natürlich vor allem Mozart sind mehr als nur Komponisten, ihre Musik repräsentiert den Glanz der großen Vergangenheit vor dem Ersten Weltkrieg.
Diese Klischees wurden gezielt kultiviert. Um sie in ihrem jeweiligen Sinne zu deuten, erzählten Politik und Institutionen die Geschichten, wie es ihnen passte und maßen Personen und Positionen Bedeutung bei.
Neue musikalische Perspektiven
"Unserer Meinung nach ist eine narrative Erzählung immer eindimensional und gibt daher nur fragmentarisch wieder, was ein Ereignis bedeutet." Susana Zapke ist Prorektorin der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien und dort für die Forschung zuständig. Sie leitet auch das Forschungsprojekt "Music Mapping Vienna". Da sie keine Österreicherin ist, konnte Susana Zapke neue Perspektiven entwickeln.
"Ich bin einfach als Musikwissenschaftlerin und mit einem breiten kulturhistorischen Interesse am Begriff 'Stadt' interessiert. Und wegen diesem Musikstadt-Wien-Mythos hab ich mir irgendwann gedacht, man müsste die Geschichte ganz anders aufrollen. Weil ich bin immer wieder auf Ereignisse gestoßen, die ich nicht in Büchern oder historischen Erzählungen gefunden habe."
Dagegen bemerkte Susana Zapke, dass einige große Generalthemen dominieren: Barock und Wiener Klassik, Jahrhundertwende und zweite Wiener Schule. Music Mapping Vienna soll die musikalische Geschichte der Stadt aus diesen Erzählmustern lösen und ein neues Panorama schaffen. Chronologischer Ausgangspunkt ist 1945, die Referenzen reichen jedoch weiter zurück.
"Das heißt, wenn wir ein Ereignis 1950 untersuchen, wie Wiener Stadtfeste, dann schauen wir, wo hat das begonnen, welche ähnliche Modelle gab es in den 20er, 30er Jahren, um eben Kontinuitäten und Diskontinuitäten der musikalischen Repräsentation in der Stadt festzustellen."
Untypische Orte für Musik
Besondere Bedeutung gewinnt die Verwendung von Musik, wenn sie abseits der dafür vorgesehenen Orte aufgeführt wird, also nicht in den Konzerthäusern, Clubs oder Etablissements, sondern in anderen Öffentlichkeiten. Beispielsweise erklingt der Radetzkymarsch auch im Fußballstadion, wenn die österreichische Nationalmannschaft antritt.
"Dabei geht es vor allem um ein Mapping der Stadt, es geht um eine Kartografie der Stadt, des öffentlichen Raums – wie feiert sich die Stadt, wie repräsentiert sich die Stadt, wie sieht sich die Stadt, und natürlich um das musikalisch zu erklären, müssen wir auf die politischen, ökonomischen und sozialen Umstände zurückgreifen."
In diesem Sinne interessante Aspekte liefern beispielsweise die vielen Gedenkveranstaltungen, die 1928 zum 100. Todestag Franz Schuberts ausgerichtet wurden. Der Anlass war für alle gleich, jedoch erfuhr das Gedenken recht unterschiedliche Ausrichtungen.
"Wir sind in der Ersten Republik, alles steht im Zeichen der österreichischen Identitätssuche. Schubert erscheint einerseits als Wiener Volkstyp, andererseits wird er fast eine Vor-Anschlussfigur, ein deutschnationaler Komponist, gewisse Gruppen pushen ihn da hin – ein Pars pro toto einer großen deutschen Nation."
Viele kollektive Ereignisse im öffentlichen Raum sind fix installiert, es können Maiparaden sein, Stadtfeste oder Eröffnungskonzerte der Wiener Festwochen am Rathausplatz. Ebenso ist von Interesse, welche Musik gespielt wird, wenn der Westbahnhof neu eröffnet wird, oder wenn der Papst auf Besuch kommt.
Spezieller Schwerpunkt Prater
Eine spezielle Position stellt in Wien der Prater dar. Vor 250 Jahren hatte der Kaiser dieses stadtnahe Wald- und Wiesenareal für die Bevölkerung geöffnet, zu dem heute auch ein Vergnügungspark mit dem bekannten Riesenrad gehört. Solche Vergnügungsbezirke haben angesichts der vielen medialen Unterhaltungsangebote viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt. Doch bis heute präsentieren sich politische Parteien im Prater, wenn sie sich volksnah geben wollen. Diese Tradition wurzelt in den 1920er Jahren, erklärt Susana Zapke. Als politischer Ort ist der Prater eng mit der Tradition des "Roten Wien" verbunden.
"Wir wissen, dass die ersten Maiparaden und die Zusammenkünfte der frühen Sozialdemokratie in diesem grünen Prater stattgefunden haben, und dort wird auch Politik ästhetisiert, mit einer ganz bestimmten Form, die von Liedern über Handlungen im öffentlichen Raum, Prozessionen, Paraden usw. verläuft."
Ursprünglich eine Naturzone, war der Prater als Paradies außerhalb der Stadt konnotiert, dann wurde er zum Vergnügungspark und damit ein Gegenpol zum Zentrum. Für Music Mapping Vienna wurden nun dem Prater 200 Musikstücke zugeordnet und analysiert. Sie spiegeln den Wandel von Ort und Gesellschaft.
Auseinandersetzung mit der Geschichte
Als nächstes Teilprojekt von Music Mapping Vienna soll die Musik im Kontext der Gemeindebauten untersucht werden. Die Geschichte dieser für Wien typischen sozialen Wohnbauten reicht ebenfalls in die 1920er Jahre zurück. Die alten Gemeindebauten waren die Repräsentationsbauten der Sozialdemokratie, sie sind als soziale Orte konzipiert, mit Raum für Musik und Kultur.
"Wie stellt sich kulturell eine neue politische Richtung dar? Da spielt Musik eine zentrale Rolle. Wie wird Musik mit dieser Stadt verbunden, wie wird sie bis heute verwendet, um Gemeinsamkeit herzustellen?"
So fand am Wiener Heldenplatz im Herbst 2015 ein großes Pop- und Rockkonzert für Flüchtlinge statt. Am selben Ort spielen jedes Jahr die Wiener Symphoniker zum "Fest der Freude" am 8. Mai – dem Tag der Befreiung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor dem Krieg hatte hier eine große Menschenmenge Adolf Hitler zugejubelt.
"Am Heldenplatz sind sehr viele Sachen passiert, da gibt es viele negative Assoziationen und den Versuch der Reinigung durch Musik, damit andere Assoziationen damit verbunden werden. Man kann durch diese öffentlichen Inszenierungen auch das Stadtimage beeinflussen, auch für Wiener selbst. Deswegen ist der öffentliche Raum ein Machtmittel. Und Musik ist immer Teil der Inszenierung."