Es gärt in der großen Koalition: Bei der Arbeitsmarktreform Hartz IV laufen die Kosten aus dem Ruder, und die Erfolge sind bislang eher dürftig. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich trotz immenser finanzieller Anstrengungen kaum verringert. Zwischenzeitlich gab es sogar Stimmen aus der Union, die den Nutzen der Reform grundsätzlich in Frage stellten.
Selbst das so genannte Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV konnte die Kritiker da kaum beruhigen. Vieles wurde mit heißer Nadel gestrickt, bis zur letzten Minute wurde an dem Paket gefeilt. Herausgekommen ist ein Gesetz, das rund 50 Änderungen beinhaltet und helfen soll, Missbrauch und Kosten zu reduzieren. Dabei setzt die Koalition vor allem auf schärfere Kontrollen und verbesserte Strafmöglichkeiten. Dass das neue Gesetz jedoch nicht der große Wurf ist und künftig weiter nachgebessert werden muss, räumt sogar SPD-Chef Kurt Beck ein:
"Das, was zu korrigieren ist, ist aufgegriffen und wird auch weiter aufgegriffen. Wir sind mitten in der Arbeit. Und es gibt keinen Grund, Horrorszenarien zu verbreiten. Und es gibt auch keinen Grund, so zu tun, als hätten wir es hier mit einer gescheiterten Reform zu tun. Das ist unzutreffend."
Dennoch, an vielen Stellschrauben hat die große Koalition nachjustiert. Jede Arbeitsagentur soll in Zukunft Außendienst-Mitarbeiter einsetzen, die prüfen, ob Arbeitslosengeld II-Bezieher möglicherweise schwarzarbeiten oder falsche Wohnverhältnisse vorspiegeln. Auch der Datenaustausch zwischen den Ämtern – etwa Finanzbehörden, Meldeämtern oder Kraftfahrzeug-Bundesamt – soll leichter werden.
Wer neu Arbeitslosengeld II beantragt, soll laut Gesetz in Zukunft sofort ein Jobangebot erhalten. Jeder Leistungsempfänger kann dann seine Arbeitsbereitschaft unter Beweis stellen. Wer zumutbare Arbeit verweigert, dem wird die Hilfe gekürzt oder gestrichen. Bislang galt dies nur, wenn wiederholt Jobangebote innerhalb von drei Monaten abgelehnt wurden. Nun gilt dies für ein Jahr. Bei der ersten Ablehnung kürzt der Staat 30 Prozent. Bei der dritten kann die Unterstützung komplett wegfallen. Letztere Regelung ist umstritten: Laut Bundesverfassungsgericht steht jedem Bürger das Existenzminimum zu. Das sind 345 Euro und damit der Satz des Arbeitslosengeldes II. Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering hält die neuen Regelungen für dringend notwendig:
"Da ist jemand, der drei Mal eine zumutbare Arbeit anzunehmen ablehnt - drei Mal, dann sagt die Gemeinschaft aller, dass geht nicht. Du musst das jetzt machen. Wenn er beim dritten Mal sagt: Nein, ich mache das nicht, mal gucken, ob sich das durchsetzt, dann kann das zu dem Ergebnis kommen, dass es jetzt da ist, was von vielen beschrieben wird, was aber völlig konsequent ist. Bisher war es so, dass man 30 Prozent senken konnte, aber nur einmal im Jahr. Das haben einige schon gewusst, wie man sich das vernünftig einteilt."
Künftig gilt auch: Eine Lebensgemeinschaft – und damit Unterhaltspflicht – besteht dann, wenn Menschen länger als ein Jahr zusammenleben, eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden, gemeinsam Kinder haben oder gemeinsame Angehörige versorgen. Ansonsten müssen die Betroffenen Bewiese für das Gegenteil liefern. Bislang musste der Staat nachweisen, dass es sich um eine Partnerschaft handelt. Auch bei den Vermögensfreibeträgen gibt es Änderungen: Der Freibetrag für Schonvermögen zur Altersvorsorge steigt von 200 auf 250 Euro je Lebensjahr. Der Freibetrag für andere Vermögen sinkt von 200 auf 150 Euro jährlich.
Für 2006 erhofft sich die Bundesregierung auf diese Weise Einsparungen in Höhe von rund 400 Millionen Euro für den Bund und rund 100 Millionen Euro für die Gemeinden. Im Jahr 2007 sollen es 1,2 Milliarden für den Bund und 300 Millionen Euro für die Gemeinden sein. Schon jetzt ist abzusehen, dass viele Probleme ungelöst bleiben und andere hinzukommen könnten. Kanzlerin Angela Merkel hat sich bereits zeitlich festgelegt, wann Hartz IV erneut auf den Prüfstand kommt:
"Um diese Fragen zu klären, wird es im Herbst einen weiteren Schritt einer grundlegenden Überholung geben."
Die einst als "Mutter aller Reformen" gelobte Arbeitsmarktreform ist und bleibt also eine Großbaustelle – nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Kosten. Ständig werden neue verheerende Zahlen veröffentlicht. Hartz IV ist längst die teuerste Sozialreform der letzten Jahre.
24,4 Milliarden Euro sollte das Arbeitslosengeld II den Bund in diesem Jahr kosten. Tatsächlich dürften es rund drei Milliarden mehr werden, mindestens. Für Langzeitarbeitslose zahlt der Staat mittlerweile doppelt so viel, wie ursprünglich zum Start der Reform im Januar 2005 errechnet wurde. Vizekanzler Franz Müntefering, SPD, hält dennoch dagegen:
"Die ALG II-Zahlungen sind etwas höher als im letzten Jahr, allerdings in einer Größenordnung von vier bis fünf Prozent. Also, es hat keine explosionsartige Vermehrung gegeben."
Doch angesichts der angespannten Haushaltslage zählt jede Milliarde, wächst der Spardruck gerade auch bei Hartz IV. Dabei ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiterhin schwierig. Langzeitarbeitslose haben kaum eine Chance, vermittelt zu werden. Immerhin: Im Mai fiel die Zahl der Arbeitslosen mit 4,54 Millionen um 7,1 Prozent niedriger aus als im entsprechenden Vorjahresmonat. Deutlich ging die Zahl der Empfänger des Arbeitslosengeldes I zurück, das die Bundesagentur für Arbeit finanziert - im Mai um elf Prozent auf 1,57 Millionen. Dass die Zahl der ALG II-Empfänger stetig wächst, dürfte auch an der kürzeren Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I liegen.
Ohnehin sind die Gründe für den enormen Kostenzuwachs vielschichtig. Zum einen beantragen immer mehr Menschen das neue Arbeitslosengeld II, in dem die frühere Arbeitslosenhilfe und ein Teil der Sozialhilfe zusammengefasst wurden. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte mit 2,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften gerechnet – eine bewusst niedrige Kalkulation, um die damals ohnehin schon schwierigen rot-grünen Haushaltsbedingungen nicht weiter zu belasten. Heute sind es rund vier Millionen Bedarfsgemeinschaften, die ihr Geld vom Staat empfangen.
Schärfere Kontrollen der Vermögensverhältnisse, Sanktionen, aber auch eine bessere Vermittlung in Arbeit sollten die Zahl der Leistungsempfänger mit Hartz IV sinken lassen. Stattdessen stellte sich das Gegenteil ein: Mit dem neuen Arbeitslosengeld II traute sich – politisch gewollt - eine "Stille Reserve" aus der Deckung. Menschen, die sich bislang durch Unterstützung der Familie oder kleinere Jobs über Wasser gehalten haben.
Darunter sind auch Betroffene, die schon früher ein Recht auf Stütze gehabt hätten, aus Schamgefühl aber nicht zum Sozialamt gegangen sind. Das Arbeitslosengeld II hat dieses Stigma beendet – in einer Gesellschaft, in der Arbeitslosigkeit ein fast normaler Zustand geworden ist.
Doch nicht nur die überraschend große Zahl der Bedarfsgemeinschaften erklärt, warum die Kosten für Hartz IV aus dem Ruder laufen. Schwierigkeiten macht nach Ansicht Münteferings auch die großzügige Definition der Erwerbsfähigkeit:
"Die Frage war ja, wie viele Sozialhilfeempfänger werden von den Städten an die Arbeitsagenturen, an das Arbeitslosengeld II angegeben. Das waren in vielen Städten 90 Prozent, manchmal auch 95 Prozent. Das heißt, ganz wenige Menschen sind in der Sozialhilfe geblieben. Alle, die drei Stunden am Tage arbeiten können, die sind auch in das ALG II hineingekommen, das war das Kriterium. Die Frage ist, wie viele Chancen hat einer, der drei Stunden arbeiten kann? Denn, wenn er sich bewirbt, ist mindestens einer dabei, der sechs Stunden arbeiten kann."
Hinzu kommt: wer arbeitet, muss nicht unbedingt genügend verdienen, um seinen Alltag selbst bewältigen zu können. Die Rede ist von den so genannten "Aufstockern": Der Staat ergänzt den Billiglohn mit zusätzlichem Geld. Das ist politisch gewollt. Denn derjenige, der arbeitet, soll nicht schlechter da stehen als ein Arbeitsloser. Rund eine Million Menschen lassen sich so ihre niedrigen Einkünfte durch ALG II aufbessern.
Der Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen hat errechnet, dass erst ab einem monatlichen Bruttoeinkommen von etwa 1300 Euro für Alleinstehende keine aufstockende Hilfe gezahlt wird. Bei einem Paar mit zwei Kindern und einem erwerbstätigen Partner liegt der Betrag bei etwa 1700 Euro. Frank Thomann, Geschäftsführer der PAGA, der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende:
"Das Grundproblem ist, dass sehr viele sozialversicherungspflichtige Arbeiten gerade in Ostdeutschland sehr schlecht bezahlt werden. Es gibt Untersuchungen, nach denen 34 Prozent aller Vollzeiterwerber ein Einkommen von weniger als 1.600 Euro haben. Das bedeutet, viele dieser Menschen, die arbeiten, haben letztlich einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld II."
Hier können auch die so genannten Mitnahmeeffekte zum Problem werden. Denn für Unternehmen kann es durchaus attraktiv sein, Minjobber einzustellen. Die lassen sich ihr niedriges Gehalt mit ALG II aufstocken – und das alles zu Lasten der Sozialkassen.
Und ein weiterer Faktor hat die Kosten für Hartz IV in die Höhe getrieben: Die Vermögensverhältnisse wurden weit überschätzt - vor allem in Ostdeutschland. Viele Menschen erhalten heute Leistungen, statt im Falle einer Arbeitslosigkeit erst einmal eigenes Vermögen aufzubrauchen.
"Hartz IV ist Armut per Gesetz" skandierten die Menschen noch vor einem Jahr bei den Montagsdemonstrationen gegen die Hartz IV-Reform. Mittlerweile ist klar, dass viele Menschen sogar mehr Geld in der Haushaltskasse haben. Nicht immer legal. Denn viele Betroffene nutzen die Regelungen weidlich aus. Schließlich gibt es Schlupflöcher im System: Paare ziehen auseinander, um eine Anrechnung des Partnereinkommens auf diese Weise zu verhindern. Partner schließen Untermietverträge. Erwachsene Kinder, die bei ihren Eltern wohnen, erhielten lange Zeit den vollen Regelsatz. Das System wird ausgenützt, darüber ist sich Müntefering bewusst.
Von einer breiten Betrugswelle könne keine Rede sein, meint auch Ingrid Wagener, Geschäftsführerin des Jobcenters Berlin, Tempelhof-Schöneberg. 5000 Anträge gehen hier jeden Monat über den Tisch, davon 4000 Fortzahlungsanträge und 1000 Neuanträge. Natürlich werde gemogelt, sagt sie. Aber sie hat nicht den Eindruck, dass der Missbrauch zunimmt:
"Meiner Meinung nach wird diese ganze Missbrauchs-Diskussion zu hoch gepuscht. Natürlich gibt es einzelne, die versuchen, zu Unrecht für sich Leistungen herauszuschlagen. Aber die gibt es überall, in jedem Leistungsrecht. Die gab es in der Sozialhilfe. Die gab es in der Arbeitslosenhilfe. Und die gibt es bei uns."
Es gibt keine Zahlen über das wirkliche Ausmaß des Betrugs, über Hartz IV-Empfänger, die ihre Unterstützung zu Unrecht beziehen oder zu hohe Leistungen erhalten. Ähnlich wie die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg schätzt auch Heiner Ganßmann, Professor für Soziologie und Arbeitsmarktexperte an der Freien Universität Berlin, die Situation ein:
"Was es an vergleichbaren Werten gab, auch schon früher in der Sozialhilfe oder ähnlichem, das läuft immer so auf die Größenordnung 5 Prozent hinaus. "
Oft müssen Leistungen gekürzt oder zurückgenommen werden, weil die Betroffenen inzwischen einen Job gefunden oder sonstige Einkünfte nicht korrekt angegeben hatten. Bei den unter 25jährigen lag der Anteil der so genannten Statusänderungen bei fast 12 Prozent, bei den über 50jährigen bei knapp vier Prozent, wie die Bundesagentur für Arbeit ermittelt hat.
Bleibt die Frage, ab wann von Missbrauch zu sprechen ist. Etwa bei dem Studenten, der sich direkt nach dem Examen erst einmal arbeitslos meldet? Oder bei der freischaffenden Künstlerin, die Hartz IV als dauerhafte legitime Einnahmequelle betrachtet? Viktor Steiner, Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, macht deutlich:
"Aus meiner Sicht kann man nicht von Missbrauch sprechen, wenn die Leute einfach die rechtlichen Möglichkeiten zu ihren Gunsten nutzen. Vielmehr müsste die Politik die Rahmenbedingungen so setzen, dass das politisch gewünschte Ergebnis entsteht. "
Nun muss sich in der Praxis beweisen, ob das neue Fortentwicklungsgesetz solche Rahmenbedingungen tatsächlich setzen kann, und welche Wirkungen die neuen Regelungen haben werden. Ingrid Wagener vom Jobcenter Tempelhof-Schöneberg, ist davon überzeugt, dass sich zumindest in Einzelfällen etwas ändern kann:
"Es gibt natürlich die, ich will gar nicht sagen, die nicht arbeiten wollen. Oft sind die so verbittert, verhärtet, dass sie glauben, sich mit dem Leistungsträger auf einen Kraftakt einlassen zu müssen. Wenn man denen etwas anbietet, die lehnen alles ab. Weil sie das manchmal auch gar nicht überblicken. Und hier ist es richtig, dass der Steuerzahler, also ich sehe hier immer die Friseuse, den Unqualifizierten, der von seinem bisschen auch noch Steuer zahlt, dass man da nicht eine bestimmte Gruppe Kunden finanziert, die Hilfsangebote nicht annehmen wollen."
Zurückhaltend äußert sich Frank Thomann, Geschäftsführer der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft. Er glaubt nicht an die große Wende durch härtere Sanktionen gegen Arbeitsunwillige:
"Wir setzen Sanktionen ohnehin um. Vor allem im Jugendbereich sind wir da konsequent und kürzen ganz schnell die Hilfe auf das Unerlässliche und geben den Jugendlichen, die ohne Not Maßnahmen verweigern, Lebensmittel-Gutscheine. Das machen wir auch im Erwachsenenbereich, also mit Sanktionen zu arbeiten. Die Systematik, dass man zukünftig nach dreimaliger Verweigerung der Arbeit oder einer Maßnahme, die Hilfe kürzt oder ganz einstellt, die ist mir eigentlich zu bürokratisch."
Mehr Sanktionen, mehr Kontrolle, das bedeutet auch mehr Arbeit. Und das, obwohl sich die Arbeitsgemeinschaften, sprich die Argen, eigentlich um andere Dinge kümmern sollten. Der Bundesrechnungshof bemängelte kürzlich, dass es eklatante Mängel in der Umsetzung der Reform gäbe. Insgesamt betreuen bundesweit über 350 Arbeitsgemeinschaften der Kommunen und Arbeitsagenturen sowie 69 Optionskommunen die Langzeitarbeitslosen. Doch ihre eigentliche Aufgabe, diese zu vermitteln, erfüllen sie laut Bundesrechnungshof nur ungenügend. Oft sind die Zuständigkeiten in den Arbeitsgemeinschaften unklar, gibt es erhebliche Reibungsverluste auf Arbeitsebene. Ein Grundproblem, für das letztlich viele verantwortlich sind:
"Was nicht geht, ist, dass sich alle von allen Seiten einmischen. Was soll denn ein Geschäftsführer der Arge machen, wenn der Bund, die Bundesagentur, die Kommunen, die Länder und vielleicht einige andere hochwürdige Personen sagen, was sie jetzt machen sollen. Wie soll da eine Linie rein? Und das ist eine der ganz großen Schwächen des Systems von Anfang an gewesen. Dass wir in der Stunde des Vermittlungsausschusses Kompromisse gemacht haben, die uns alle weh getan haben. Die aber jetzt in der Umsetzung hinderlich sind."
Bemängelt Arbeitsminister Müntefering. Nach Startschwierigkeiten, etwa beim Computerprogramm oder bei der Auszahlung des Arbeitslosengeldes II, waren die Argen lange Zeit vor allem mit dem Umbau ihrer Organisation beschäftigt. Auch erschwerten viele rechtliche Unsicherheiten die Arbeit der Sachbearbeiter. Die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen trat in den Hintergrund. Der Mehraufwand ist noch gar nicht abzusehen, der auf die Argen durch das neue Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV zurollt.
Doch auch wenn die Regierungsparteien die bisherigen Probleme halbwegs in den Griff bekommen sollten – Hartz IV wird die politische Agenda in den nächsten Monaten maßgeblich bestimmen. Denn eine der drängendsten Fragen für den Arbeitsmarkt lautet: Wie könnte ein Niedriglohnsektor organisiert werden, der sowohl der Wirtschaft als auch dem Billigjobber zu vermitteln ist ? Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
"Der Regelfall ist so, dass eine vierköpfige Familie so 1600 Euro netto im Monat hat. Was auch relativ viel ist, und ein Bauarbeiter das in der Regel netto nicht erzielen kann. Das heißt, insofern hat die Politik die Regelsätze gesetzt, dass eben für viele kein finanzieller Anreiz besteht, eine Tätigkeit aufzunehmen. Und wenn jetzt das der politische Wille ist, dass das Einkommen durch ALG II nahe an dem Durchschnittseinkommen eines Geringqualifizierten liegen, dann darf man sich nicht wundern, dass eben ein großer Teil der Bevölkerung das in Anspruch nimmt."
Schon längst wird in der großen Koalition um Mindest- oder Kombilöhne gerungen. Ein Kompromiss ist allerdings nicht in Sicht. Lediglich die Zielrichtung hat Kanzlerin Angela Merkel vorgegeben:
"Es muss zum Schluss gesichert sein, dass der, der in Deutschland arbeitet, mehr hat, als der, der nicht arbeitet. Solange diese Regel nicht erfüllt wird, haben wir ein Problem. Und das müssen wir uns in aller Ruhe anschauen."
Doch von Ruhe kann innerhalb der Koalition keine Rede sein. Gerade aus den Reihen der Unionsgeführten Bundesländer hat es in den letzten Wochen wiederholt Querschüsse gegeben – gegen das Fortentwicklungsgesetz, aber auch gegen die von Rot-Grün eingeleiteten Arbeitsmarktreformen insgesamt. Dabei geht es nicht nur um Inhalte, sondern durchaus auch um strategische Ziele: Die teuren Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt sollen der SPD angelastet werden – unpopuläre Einschnitte als Reaktion darauf ebenso.
Selbst das so genannte Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV konnte die Kritiker da kaum beruhigen. Vieles wurde mit heißer Nadel gestrickt, bis zur letzten Minute wurde an dem Paket gefeilt. Herausgekommen ist ein Gesetz, das rund 50 Änderungen beinhaltet und helfen soll, Missbrauch und Kosten zu reduzieren. Dabei setzt die Koalition vor allem auf schärfere Kontrollen und verbesserte Strafmöglichkeiten. Dass das neue Gesetz jedoch nicht der große Wurf ist und künftig weiter nachgebessert werden muss, räumt sogar SPD-Chef Kurt Beck ein:
"Das, was zu korrigieren ist, ist aufgegriffen und wird auch weiter aufgegriffen. Wir sind mitten in der Arbeit. Und es gibt keinen Grund, Horrorszenarien zu verbreiten. Und es gibt auch keinen Grund, so zu tun, als hätten wir es hier mit einer gescheiterten Reform zu tun. Das ist unzutreffend."
Dennoch, an vielen Stellschrauben hat die große Koalition nachjustiert. Jede Arbeitsagentur soll in Zukunft Außendienst-Mitarbeiter einsetzen, die prüfen, ob Arbeitslosengeld II-Bezieher möglicherweise schwarzarbeiten oder falsche Wohnverhältnisse vorspiegeln. Auch der Datenaustausch zwischen den Ämtern – etwa Finanzbehörden, Meldeämtern oder Kraftfahrzeug-Bundesamt – soll leichter werden.
Wer neu Arbeitslosengeld II beantragt, soll laut Gesetz in Zukunft sofort ein Jobangebot erhalten. Jeder Leistungsempfänger kann dann seine Arbeitsbereitschaft unter Beweis stellen. Wer zumutbare Arbeit verweigert, dem wird die Hilfe gekürzt oder gestrichen. Bislang galt dies nur, wenn wiederholt Jobangebote innerhalb von drei Monaten abgelehnt wurden. Nun gilt dies für ein Jahr. Bei der ersten Ablehnung kürzt der Staat 30 Prozent. Bei der dritten kann die Unterstützung komplett wegfallen. Letztere Regelung ist umstritten: Laut Bundesverfassungsgericht steht jedem Bürger das Existenzminimum zu. Das sind 345 Euro und damit der Satz des Arbeitslosengeldes II. Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering hält die neuen Regelungen für dringend notwendig:
"Da ist jemand, der drei Mal eine zumutbare Arbeit anzunehmen ablehnt - drei Mal, dann sagt die Gemeinschaft aller, dass geht nicht. Du musst das jetzt machen. Wenn er beim dritten Mal sagt: Nein, ich mache das nicht, mal gucken, ob sich das durchsetzt, dann kann das zu dem Ergebnis kommen, dass es jetzt da ist, was von vielen beschrieben wird, was aber völlig konsequent ist. Bisher war es so, dass man 30 Prozent senken konnte, aber nur einmal im Jahr. Das haben einige schon gewusst, wie man sich das vernünftig einteilt."
Künftig gilt auch: Eine Lebensgemeinschaft – und damit Unterhaltspflicht – besteht dann, wenn Menschen länger als ein Jahr zusammenleben, eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden, gemeinsam Kinder haben oder gemeinsame Angehörige versorgen. Ansonsten müssen die Betroffenen Bewiese für das Gegenteil liefern. Bislang musste der Staat nachweisen, dass es sich um eine Partnerschaft handelt. Auch bei den Vermögensfreibeträgen gibt es Änderungen: Der Freibetrag für Schonvermögen zur Altersvorsorge steigt von 200 auf 250 Euro je Lebensjahr. Der Freibetrag für andere Vermögen sinkt von 200 auf 150 Euro jährlich.
Für 2006 erhofft sich die Bundesregierung auf diese Weise Einsparungen in Höhe von rund 400 Millionen Euro für den Bund und rund 100 Millionen Euro für die Gemeinden. Im Jahr 2007 sollen es 1,2 Milliarden für den Bund und 300 Millionen Euro für die Gemeinden sein. Schon jetzt ist abzusehen, dass viele Probleme ungelöst bleiben und andere hinzukommen könnten. Kanzlerin Angela Merkel hat sich bereits zeitlich festgelegt, wann Hartz IV erneut auf den Prüfstand kommt:
"Um diese Fragen zu klären, wird es im Herbst einen weiteren Schritt einer grundlegenden Überholung geben."
Die einst als "Mutter aller Reformen" gelobte Arbeitsmarktreform ist und bleibt also eine Großbaustelle – nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Kosten. Ständig werden neue verheerende Zahlen veröffentlicht. Hartz IV ist längst die teuerste Sozialreform der letzten Jahre.
24,4 Milliarden Euro sollte das Arbeitslosengeld II den Bund in diesem Jahr kosten. Tatsächlich dürften es rund drei Milliarden mehr werden, mindestens. Für Langzeitarbeitslose zahlt der Staat mittlerweile doppelt so viel, wie ursprünglich zum Start der Reform im Januar 2005 errechnet wurde. Vizekanzler Franz Müntefering, SPD, hält dennoch dagegen:
"Die ALG II-Zahlungen sind etwas höher als im letzten Jahr, allerdings in einer Größenordnung von vier bis fünf Prozent. Also, es hat keine explosionsartige Vermehrung gegeben."
Doch angesichts der angespannten Haushaltslage zählt jede Milliarde, wächst der Spardruck gerade auch bei Hartz IV. Dabei ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiterhin schwierig. Langzeitarbeitslose haben kaum eine Chance, vermittelt zu werden. Immerhin: Im Mai fiel die Zahl der Arbeitslosen mit 4,54 Millionen um 7,1 Prozent niedriger aus als im entsprechenden Vorjahresmonat. Deutlich ging die Zahl der Empfänger des Arbeitslosengeldes I zurück, das die Bundesagentur für Arbeit finanziert - im Mai um elf Prozent auf 1,57 Millionen. Dass die Zahl der ALG II-Empfänger stetig wächst, dürfte auch an der kürzeren Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I liegen.
Ohnehin sind die Gründe für den enormen Kostenzuwachs vielschichtig. Zum einen beantragen immer mehr Menschen das neue Arbeitslosengeld II, in dem die frühere Arbeitslosenhilfe und ein Teil der Sozialhilfe zusammengefasst wurden. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte mit 2,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften gerechnet – eine bewusst niedrige Kalkulation, um die damals ohnehin schon schwierigen rot-grünen Haushaltsbedingungen nicht weiter zu belasten. Heute sind es rund vier Millionen Bedarfsgemeinschaften, die ihr Geld vom Staat empfangen.
Schärfere Kontrollen der Vermögensverhältnisse, Sanktionen, aber auch eine bessere Vermittlung in Arbeit sollten die Zahl der Leistungsempfänger mit Hartz IV sinken lassen. Stattdessen stellte sich das Gegenteil ein: Mit dem neuen Arbeitslosengeld II traute sich – politisch gewollt - eine "Stille Reserve" aus der Deckung. Menschen, die sich bislang durch Unterstützung der Familie oder kleinere Jobs über Wasser gehalten haben.
Darunter sind auch Betroffene, die schon früher ein Recht auf Stütze gehabt hätten, aus Schamgefühl aber nicht zum Sozialamt gegangen sind. Das Arbeitslosengeld II hat dieses Stigma beendet – in einer Gesellschaft, in der Arbeitslosigkeit ein fast normaler Zustand geworden ist.
Doch nicht nur die überraschend große Zahl der Bedarfsgemeinschaften erklärt, warum die Kosten für Hartz IV aus dem Ruder laufen. Schwierigkeiten macht nach Ansicht Münteferings auch die großzügige Definition der Erwerbsfähigkeit:
"Die Frage war ja, wie viele Sozialhilfeempfänger werden von den Städten an die Arbeitsagenturen, an das Arbeitslosengeld II angegeben. Das waren in vielen Städten 90 Prozent, manchmal auch 95 Prozent. Das heißt, ganz wenige Menschen sind in der Sozialhilfe geblieben. Alle, die drei Stunden am Tage arbeiten können, die sind auch in das ALG II hineingekommen, das war das Kriterium. Die Frage ist, wie viele Chancen hat einer, der drei Stunden arbeiten kann? Denn, wenn er sich bewirbt, ist mindestens einer dabei, der sechs Stunden arbeiten kann."
Hinzu kommt: wer arbeitet, muss nicht unbedingt genügend verdienen, um seinen Alltag selbst bewältigen zu können. Die Rede ist von den so genannten "Aufstockern": Der Staat ergänzt den Billiglohn mit zusätzlichem Geld. Das ist politisch gewollt. Denn derjenige, der arbeitet, soll nicht schlechter da stehen als ein Arbeitsloser. Rund eine Million Menschen lassen sich so ihre niedrigen Einkünfte durch ALG II aufbessern.
Der Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen hat errechnet, dass erst ab einem monatlichen Bruttoeinkommen von etwa 1300 Euro für Alleinstehende keine aufstockende Hilfe gezahlt wird. Bei einem Paar mit zwei Kindern und einem erwerbstätigen Partner liegt der Betrag bei etwa 1700 Euro. Frank Thomann, Geschäftsführer der PAGA, der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende:
"Das Grundproblem ist, dass sehr viele sozialversicherungspflichtige Arbeiten gerade in Ostdeutschland sehr schlecht bezahlt werden. Es gibt Untersuchungen, nach denen 34 Prozent aller Vollzeiterwerber ein Einkommen von weniger als 1.600 Euro haben. Das bedeutet, viele dieser Menschen, die arbeiten, haben letztlich einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld II."
Hier können auch die so genannten Mitnahmeeffekte zum Problem werden. Denn für Unternehmen kann es durchaus attraktiv sein, Minjobber einzustellen. Die lassen sich ihr niedriges Gehalt mit ALG II aufstocken – und das alles zu Lasten der Sozialkassen.
Und ein weiterer Faktor hat die Kosten für Hartz IV in die Höhe getrieben: Die Vermögensverhältnisse wurden weit überschätzt - vor allem in Ostdeutschland. Viele Menschen erhalten heute Leistungen, statt im Falle einer Arbeitslosigkeit erst einmal eigenes Vermögen aufzubrauchen.
"Hartz IV ist Armut per Gesetz" skandierten die Menschen noch vor einem Jahr bei den Montagsdemonstrationen gegen die Hartz IV-Reform. Mittlerweile ist klar, dass viele Menschen sogar mehr Geld in der Haushaltskasse haben. Nicht immer legal. Denn viele Betroffene nutzen die Regelungen weidlich aus. Schließlich gibt es Schlupflöcher im System: Paare ziehen auseinander, um eine Anrechnung des Partnereinkommens auf diese Weise zu verhindern. Partner schließen Untermietverträge. Erwachsene Kinder, die bei ihren Eltern wohnen, erhielten lange Zeit den vollen Regelsatz. Das System wird ausgenützt, darüber ist sich Müntefering bewusst.
Von einer breiten Betrugswelle könne keine Rede sein, meint auch Ingrid Wagener, Geschäftsführerin des Jobcenters Berlin, Tempelhof-Schöneberg. 5000 Anträge gehen hier jeden Monat über den Tisch, davon 4000 Fortzahlungsanträge und 1000 Neuanträge. Natürlich werde gemogelt, sagt sie. Aber sie hat nicht den Eindruck, dass der Missbrauch zunimmt:
"Meiner Meinung nach wird diese ganze Missbrauchs-Diskussion zu hoch gepuscht. Natürlich gibt es einzelne, die versuchen, zu Unrecht für sich Leistungen herauszuschlagen. Aber die gibt es überall, in jedem Leistungsrecht. Die gab es in der Sozialhilfe. Die gab es in der Arbeitslosenhilfe. Und die gibt es bei uns."
Es gibt keine Zahlen über das wirkliche Ausmaß des Betrugs, über Hartz IV-Empfänger, die ihre Unterstützung zu Unrecht beziehen oder zu hohe Leistungen erhalten. Ähnlich wie die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg schätzt auch Heiner Ganßmann, Professor für Soziologie und Arbeitsmarktexperte an der Freien Universität Berlin, die Situation ein:
"Was es an vergleichbaren Werten gab, auch schon früher in der Sozialhilfe oder ähnlichem, das läuft immer so auf die Größenordnung 5 Prozent hinaus. "
Oft müssen Leistungen gekürzt oder zurückgenommen werden, weil die Betroffenen inzwischen einen Job gefunden oder sonstige Einkünfte nicht korrekt angegeben hatten. Bei den unter 25jährigen lag der Anteil der so genannten Statusänderungen bei fast 12 Prozent, bei den über 50jährigen bei knapp vier Prozent, wie die Bundesagentur für Arbeit ermittelt hat.
Bleibt die Frage, ab wann von Missbrauch zu sprechen ist. Etwa bei dem Studenten, der sich direkt nach dem Examen erst einmal arbeitslos meldet? Oder bei der freischaffenden Künstlerin, die Hartz IV als dauerhafte legitime Einnahmequelle betrachtet? Viktor Steiner, Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, macht deutlich:
"Aus meiner Sicht kann man nicht von Missbrauch sprechen, wenn die Leute einfach die rechtlichen Möglichkeiten zu ihren Gunsten nutzen. Vielmehr müsste die Politik die Rahmenbedingungen so setzen, dass das politisch gewünschte Ergebnis entsteht. "
Nun muss sich in der Praxis beweisen, ob das neue Fortentwicklungsgesetz solche Rahmenbedingungen tatsächlich setzen kann, und welche Wirkungen die neuen Regelungen haben werden. Ingrid Wagener vom Jobcenter Tempelhof-Schöneberg, ist davon überzeugt, dass sich zumindest in Einzelfällen etwas ändern kann:
"Es gibt natürlich die, ich will gar nicht sagen, die nicht arbeiten wollen. Oft sind die so verbittert, verhärtet, dass sie glauben, sich mit dem Leistungsträger auf einen Kraftakt einlassen zu müssen. Wenn man denen etwas anbietet, die lehnen alles ab. Weil sie das manchmal auch gar nicht überblicken. Und hier ist es richtig, dass der Steuerzahler, also ich sehe hier immer die Friseuse, den Unqualifizierten, der von seinem bisschen auch noch Steuer zahlt, dass man da nicht eine bestimmte Gruppe Kunden finanziert, die Hilfsangebote nicht annehmen wollen."
Zurückhaltend äußert sich Frank Thomann, Geschäftsführer der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft. Er glaubt nicht an die große Wende durch härtere Sanktionen gegen Arbeitsunwillige:
"Wir setzen Sanktionen ohnehin um. Vor allem im Jugendbereich sind wir da konsequent und kürzen ganz schnell die Hilfe auf das Unerlässliche und geben den Jugendlichen, die ohne Not Maßnahmen verweigern, Lebensmittel-Gutscheine. Das machen wir auch im Erwachsenenbereich, also mit Sanktionen zu arbeiten. Die Systematik, dass man zukünftig nach dreimaliger Verweigerung der Arbeit oder einer Maßnahme, die Hilfe kürzt oder ganz einstellt, die ist mir eigentlich zu bürokratisch."
Mehr Sanktionen, mehr Kontrolle, das bedeutet auch mehr Arbeit. Und das, obwohl sich die Arbeitsgemeinschaften, sprich die Argen, eigentlich um andere Dinge kümmern sollten. Der Bundesrechnungshof bemängelte kürzlich, dass es eklatante Mängel in der Umsetzung der Reform gäbe. Insgesamt betreuen bundesweit über 350 Arbeitsgemeinschaften der Kommunen und Arbeitsagenturen sowie 69 Optionskommunen die Langzeitarbeitslosen. Doch ihre eigentliche Aufgabe, diese zu vermitteln, erfüllen sie laut Bundesrechnungshof nur ungenügend. Oft sind die Zuständigkeiten in den Arbeitsgemeinschaften unklar, gibt es erhebliche Reibungsverluste auf Arbeitsebene. Ein Grundproblem, für das letztlich viele verantwortlich sind:
"Was nicht geht, ist, dass sich alle von allen Seiten einmischen. Was soll denn ein Geschäftsführer der Arge machen, wenn der Bund, die Bundesagentur, die Kommunen, die Länder und vielleicht einige andere hochwürdige Personen sagen, was sie jetzt machen sollen. Wie soll da eine Linie rein? Und das ist eine der ganz großen Schwächen des Systems von Anfang an gewesen. Dass wir in der Stunde des Vermittlungsausschusses Kompromisse gemacht haben, die uns alle weh getan haben. Die aber jetzt in der Umsetzung hinderlich sind."
Bemängelt Arbeitsminister Müntefering. Nach Startschwierigkeiten, etwa beim Computerprogramm oder bei der Auszahlung des Arbeitslosengeldes II, waren die Argen lange Zeit vor allem mit dem Umbau ihrer Organisation beschäftigt. Auch erschwerten viele rechtliche Unsicherheiten die Arbeit der Sachbearbeiter. Die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen trat in den Hintergrund. Der Mehraufwand ist noch gar nicht abzusehen, der auf die Argen durch das neue Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV zurollt.
Doch auch wenn die Regierungsparteien die bisherigen Probleme halbwegs in den Griff bekommen sollten – Hartz IV wird die politische Agenda in den nächsten Monaten maßgeblich bestimmen. Denn eine der drängendsten Fragen für den Arbeitsmarkt lautet: Wie könnte ein Niedriglohnsektor organisiert werden, der sowohl der Wirtschaft als auch dem Billigjobber zu vermitteln ist ? Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
"Der Regelfall ist so, dass eine vierköpfige Familie so 1600 Euro netto im Monat hat. Was auch relativ viel ist, und ein Bauarbeiter das in der Regel netto nicht erzielen kann. Das heißt, insofern hat die Politik die Regelsätze gesetzt, dass eben für viele kein finanzieller Anreiz besteht, eine Tätigkeit aufzunehmen. Und wenn jetzt das der politische Wille ist, dass das Einkommen durch ALG II nahe an dem Durchschnittseinkommen eines Geringqualifizierten liegen, dann darf man sich nicht wundern, dass eben ein großer Teil der Bevölkerung das in Anspruch nimmt."
Schon längst wird in der großen Koalition um Mindest- oder Kombilöhne gerungen. Ein Kompromiss ist allerdings nicht in Sicht. Lediglich die Zielrichtung hat Kanzlerin Angela Merkel vorgegeben:
"Es muss zum Schluss gesichert sein, dass der, der in Deutschland arbeitet, mehr hat, als der, der nicht arbeitet. Solange diese Regel nicht erfüllt wird, haben wir ein Problem. Und das müssen wir uns in aller Ruhe anschauen."
Doch von Ruhe kann innerhalb der Koalition keine Rede sein. Gerade aus den Reihen der Unionsgeführten Bundesländer hat es in den letzten Wochen wiederholt Querschüsse gegeben – gegen das Fortentwicklungsgesetz, aber auch gegen die von Rot-Grün eingeleiteten Arbeitsmarktreformen insgesamt. Dabei geht es nicht nur um Inhalte, sondern durchaus auch um strategische Ziele: Die teuren Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt sollen der SPD angelastet werden – unpopuläre Einschnitte als Reaktion darauf ebenso.