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Fortschrittlich und geschichtsbewusst

Luciano Berio erscheint heute - neben Luigi Nono und Nino Rota - als der bedeutendste italienische Komponist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die beiden genannten Kollegen hat er weit überlebt: Rota starb bereits 1979, Nono 1990. Während dieser venezianische 'Rattenfänger' der durch den Raum ausschweifenden zartesten Klänge in den 90er Jahren zu einer fast mythisch überhöhten Kultfigur stilisiert wurde, schien der Kurswert Berios drastisch abzusacken. Doch dann bewährte sich, dass er über ein vorzüglich bestücktes Laboratorium der Neuen Musik verfügte. Literarisch, kunsttheoretisch und historisch beschlagen, entließ er aus seinem produktiven Labyrinth seine auf vielfältige Text-Splitter gestützte und - indirekt - auf den Odysseus-Mythos sich beziehende musikdramatische Arbeit "Outis". Dem Uraufführungserfolg im Oktober 1996 an der Mailänder Scala folgte gesteigerte Aufmerksamkeit in Paris.

Von Frieder Reininghaus | 28.05.2003
    Und dann setzte Berio, speziell für die Felsenreitschule in Salzburg angefertigt, mit "Cronaca del luogo" nach. Mit diesem phänomenalen Versuch, "Aura" zu rekonstruieren, reflektierte der Komponist am Ende des 20. Jahrhunderts alttestamentarische Erbschaft und Dichtung von Paul Celan, auch das eigene Verhältnis zur jüdischen Tradition. Erst recht verbreitert haben die kompositorischen Wege Berios sich durch die neuerliche Vollendung von Giacomo Puccinis letzter, im Sinne des Werkkonzepts nicht ganz fertig geschriebener Oper "Turandot". Die neue Version wurde auf den Kanarischen Inseln, in Amsterdam und gleichfalls in Salzburg als Festspiel-Delikatesse präsentiert. Da berührte sich das hoch entwickelte Handwerk mit dem Nino Rotas, sosehr es bei der vieldeutigen "Cronaca" und ihren - elektronisch angereicherten - Felsenreit-Raumklängen in Richtung Nono ausgerückt war.

    Keineswegs einhellig war zunächst der Zuspruch für das Vieldeutige, das Polyglotte und Vielstimmige, das Berio nach den vielen mit "Sequenza" betitelten Arbeiten für einzelne Instrumente oder kleine Besetzungen auf den Markt brachte - z.B. die "Sinfonia" für acht Singstimmen und Orchester vom Ende der 60er Jahre. Da rümpfte ein Teil der Kenner und Liebhaber der Neuen Musik wegen der dort vorgeführten bunten Zitatenmischung die Nasen. Herbeizitiert wurden Parolen der Pariser Studenten vom heißen Mai '68, Passagen von James Joyce und Samuel Beckett, das Andenken an den ermordeten schwarzen Theologen und Bürgerrechtler Martin Luther King und - in aller Ausführlichkeit - das Scherzo aus der "Auferstehungssymphonie" von Gustav Mahler, dem noch Zitate von einem Dutzend weiterer Komponisten - von Bach bis Stockhausen - zugemutet wurden. Derart unbesorgt kann sich wohl "gegenüber den kleinen und großen Botschaften des Tages nur offen halten, wer (...) sicher ist, dass seine kompositorisch-handwerklichen Fähigkeiten" so "fintenreich" sind, dass aus all dem Fremden doch etwas Eigenes" entsteht.

    Vom Hang zur Beförderung von Neuer Musik zum Kampfsport oder pädagogischen Heilmittel wurde Berio, anders als manche seiner Kollegen, zu keinem Zeitpunkt gequält. In "Opera", seinem ersten Bühnenwerk, suchte er drei 'End-Situationen' auf: den Untergang der Titanic, die Intensivstation eines modernen Krankenhauses und Monteverdis "Orfeo". Dabei wurde deutlich, dass die Geschichtlichkeit der Musik den Musiker Berio nicht losließ. Und die Idee des Konstruktiven nicht, welche die Verbindungslinie zur Architektur immer wieder unterstrich. Explizit in dem 1990 komponierten "Continuo", einem Orchesterwerk, mit dem der Komponist darauf zielte, in einer relativ homogenen Oberfläche des Klangs immer wieder größere oder kleinere Fenster und damit den Ausblick auf "andere Landschaften" zu öffnen.

    Luciano Berio, Jahrgang 1925, stammte aus ligurischen Organisten-Familie, die ihm - ganz traditionell - das Handwerkszeug mit auf den Lebensweg gab. Die Weichen waren also von Haus aus keineswegs in Richtung Avantgarde gestellt. Auch bei der Ausbildung am Mailänder Konservatorium nicht, das Berio neben den Jura-Vorlesungen besuchte. Schon als Student machte er sich als Bearbeiter und Begleiter nützlich und jobbte an verschiedenen Opernhäusern. Aus der Frosch-Perspektive des Korrepetitors scheinen verschiedene Eindrücke zu stammen, die sich in der Oper "Un re in ascolto" - "Ein König lauscht" (Salzburg 1984) kondensierten, dieser aberwitzigen Geschichte, angesiedelt von Italo Calvino in Prosperos geschichtsträchtiger Theater-Luft; auch das ein Werk voll Endstations-Thematik, voll Irrwitz und Turbulenz. Freilich scheint es so, als wäre Berio nicht nur als Schöpfer von Bühnenwerken und Bearbeiter dauerhaft geworden, sondern insbesondere auch als Autor von Orchesterwerken sowie neuer Kammer- und Vokalmusik: ein vielseitiger Komponist jedenfalls, sprachmächtig und intellektuell. Und zugleich skeptisch gegenüber der "Verkopfung" von Musik. Ein Dialektiker eben, Fortschrittswillen und Geschichtsbewusstsein allenthalben ausbalancierend.

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