Constanze Pilaski: Frau Nemtsov, Sie sind die Initiatorin des Projekts Mekomot, wie sind sie darauf gekommen sich der Synagoge zuzuwenden?
Sarah Nemtsov: Die Idee hatte ich 2013 zu Chanukka, da haben sich verschiedene Sachen für mich verknüpft. Man feiert, dass die Israeliten den Tempel damals wiederbekommen haben. Aber danach wurde er, noch einmal zerstört. Mit dieser zweiten Zerstörung begann die Diaspora der Juden. Dazu gehörte aber auch die Verbannung der Instrumentalmusik aus dem Gottesdienst. Ich musste an diese Zerstörung des Tempels denken und diese Verbannung der Musik und dann auch an die Zerstörung der Synagogen in Deutschland. Und zugleich wusste ich, da ist etwas. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht in welchem Umfang es das noch gibt, dass es kleine Synagogen nach wie vor gibt, die aber verwaist sind. Ich hatte auf Reisen solche Synagogen mal gesehen – man kommt ja als Künstler rum. Das heißt, an einigen Orten hatte ich solche Synagogen gesehen, hatte selbst, als ich noch Oboe spielte 2005, mit meinem Mann zum Beispiel ein Konzert in der Synagoge in Hagenow gegeben. Von daher wusste ich, dass es die Orte gibt. Irgendwie hatte ich spontan den Gedanken, was wäre, wenn man wieder dort eine liturgische Musik hinbringt. Aber als Komponistin ist mir das natürlich nicht genug, dass man einfach nur alte Musik hinbringt. Ich dachte, es wäre doch schön, wenn man ein Zeichen für die Zukunft und irgendwie etwas kreatives Neues hinbekommt.
Pilaski: Und heißt es dann, dass Sie mit dem Projket Mekomot – Mekomot heißt ja auch Orte - diese Orte wiederbeleben?
Nemtsov: Wiederbeleben wäre ein bisschen zu viel gesagt, das wäre vermessen, das zu behaupten. Aber es ist ein Zeichen, dorthin zu gehen, und zum einen eben diese alte liturgische Musik wieder hinzutragen. Die wird vorgetragen von dem Kantor, dem Chasan Assaf Levitin. Aber auch dann neue Stücke, Neue Musik hinzubringen, als Zeichen, dass wir da sind. Wir sind eben fünf jüdische Komponisten, die ihren Lebens- und Wirkungsraum in Deutschland haben – einer ist jetzt wieder in die USA gegangen. Die anderen leben in Berlin. Es ist ein positives Zeichen für mich. Es gibt auch so wahnsinnig viele Erinnerungsveranstaltungen, die oft von sehr viel Trauer, die oft so versteinert sind. Die schon selbst wie so eine Art steinernes Mahnmal geworden sind. Am 27. Januar, diesen Tag gibt es eigentlich noch gar nicht so lange, trotzdem wirkt es oft so institutionalisiert, dieses Gedenken. Nicht immer, aber es gibt diese Momente. Ich frage mich, ob das die richtige Art ist. Gerade heute, jetzt, wir haben ja auch einen zeitlichen Abstand. Das Bewusstsein sollte dasein, aber sollte vielleicht auch ein Blick nach Vorne sein. Und dass man eben schaut, auf welche Art und Weise kann auch etwas Neues geschaffen werden. Nicht immer nur versuchen, das was verloren gegangen ist, wiederzbeleben, das kann man gar nicht.
"Ich fand es ganz spannend und auch ermutigend, dass die Menschen so offen reagiert haben"
Pilaski: Geht es mehr für Sie in ihrer Arbeit, in ihrem Projekt darum, den Blick nach Vorne zu richten, vielleicht Impulse für jüdisches Leben und jüdische Kulturzu schaffen? Ist das schwierig auch gerade mit der Vorgeschichte, die Deutschland hat?
Nemtsov: Es ist vielleicht gar nicht unbedingt so, dass ich jetzt diesen Gedanken hatte. Weder von Wiederbelebung noch davon, nur neue Impulse für jüdisches Leben zu schaffen. Denn das ist es nicht an den Orten. Wir sprechen nicht, eine jüdische Gemeinschaft an, sondern wir sprechen tatsächlich die Menschen an, die an diesen Orten leben. Und gerade in den kleineren Orten. Die ersten, mit denen wir begonnen haben, das waren Stavenhagen und Hagenow. Da waren im Publikum, ich denke, keine Juden. Das waren wirklich die Dorfbewohner. Was sehr interessant war, dass es ein Publikum war, das nicht auf Neue Musik spezialisiert war. Das heißt, es war doppelt fremd, die jüdische Kultur war fremd und die Neue Musik war fremd.
Man denkt ja auch oft darüber nach - als Komponist Neuer Musik – das Judentum ist eine Facette meiner Identität, das ist auch nur eine. In manchen Stücken und Projekten beschäftige ich mich damit, aber bei weitem nicht in allen. Und ansonsten wirke ich im Kreis der Musikszene. Da wird viel darüber diskutiert, wie kann man die Menschen erreichen. Ich hatte selbst gute und sehr problematische Erfahrungen mit Neuer Musik.
Ich fand es aber ganz spannend und auch ermutigend, dass die Menschen so offen reagiert haben, sich wirklich selbst geöffnet haben, die Musik einfach angehört haben und sich berühren haben lassen – von den unterschiedlichen Stücken. Sei es die traditionelle Musik als auch die ganz neue, die zum Teil sehr anspruchsvoll und sehr anstrengend Stücke sind. Das ist nicht unbedingt leicht zu hören, die neuen Kompositionen. Wir machen immer eine Einführung vorher. Ich denke, das hilft etwas. Aber ich glaube, das ist tatsächlich der Kontext, dass dadurch plötzlich die Leute irgendwie andocken können und sich öffnen können, dass es eben nicht ein Abonnement-Konzert ist. In Köln hatte man auch gerade diesen Eklat mit dem Cembalisten Mahan Esfahani und Steve Reiche, wo man den Kopf schütteln kann, darüber, dass da so ein Aufruhr zu diesem Stück gab.
"Sich selbst Gedanken machen, das ist eine Sache im Judentum, die dort fest verankert ist"
Pilaski: Was heißt für Sie jüdische Identität?
Nemtsov: Ich bin Jüdin, ich bin deutsche Jüdin. Ich bin in einem gewissen Sinne religiös. Dass ich basic kosher bin – so könnte man es vielleicht nennen -, dass ich bestimmte Dinge einhalte. Dass ich bestimmte Feste feiere, aber eben kein Weihnachten, sondern zu der Zeit kommt dann Chanukka. Ich möchte dieses Bewusstsein auch meinen Kindern mitgeben. Aber es geht noch um viel mehr. Es geht nicht nur um diese religiösen Traditionen, sondern auch um etwas Kulturelles. Es gibt bestimmte Dinge am Judentum, die mir sehr wichtig sind: das Hinterfragen zum Beispiel. Sich selbst Gedanken machen, das ist eine Sache, die im Judentum fest verankert ist – schon im Prinzip des Talmuds, dass die Bibel eigentlich noch einmal kodiert, interpretiert und in Frage gestellt wird. Im Talmud sind immer mehrere Stimmen. Da gibt es sozusagen ein Kern, um den herum diskutiert wird. Das finde ich sehr interessant, sehr modern und sehr wichtig als Ansatz gerade in heutigen Zeiten, wo die Dogmen wieder auf dem Vormarsch sind und die Engstirnigkeit und die Unfreiheit irgendwie um sich greift.
"Es gab ganz viele Verbindungen, obwohl die Stücke so unterschiedlich sind"
Pilaski: Was erwartet das Publikum am Donnerstagabend beim Forum neuer Musik bei dem Konzert des Projekt Mekomot?
Nemtsov: Es sind fünf Kompositionen, die für dieses Projekt neu geschrieben wurden. Ich habe vier andere jüdische Komponisten, zufällig alle vier Israelis, gefragt: Bnaya Halperin-Kaddari, Eres Holz, Amit Gilutz und Amir Shpilman. Und von mir gibt es auch ein Stück. Die Stücke sind für ein Instrumentalensemble. Es sind alles Spezialisten Neuer Musik. Die Instrumente sind ein bisschen angelehnt an biblische Instrumente, aber ins Heute übersetzt. Statt eben eines biblischen Zupfinstruments ist eine E-Gitarre da. Dann gab es so etwas Schalmei ähnliches, dafür steht die Oboe als Instrument. Ein Sänger ist dabei, der jüdischer Kantor ist. Wir haben das große Glück, Assaf Levitin bei uns zu haben. Er ist sowohl ausgebildeter jüdischer Kantor als auch ausgebildeter Sänger klassischer Musik, Opernmusik und macht auch viel Neue Musik. Er hat ein absolutes Gehör. Das ist natürlich alles sehr toll.
Die Stücke sind sehr unterschiedlich. Wir haben offen überlegt, dass wir eine Art Mincha, ein Nachmittagsgebet, als Form nehmen, worin bestimmte liturgische Teile vorkommen. Aber die Komponisten hatten völlig freie Hand. Trotzdem hat sich zum Beispiel Eres Holz auf das Kaddisch bezogen – das aber um eine Ecke herum, nach einem Gedicht von Allen Ginsberg. Von Bnaya Halperin-Kaddari gibt es ein Stück "El" mit drei Shofarot – Schofar ist das einzige Instrument, das seit biblischen Zeiten erhalten ist und das auch heute noch, aber nur als Ritual zu bestimmten Feiertagen, in der Synagoge erklingt. Dieses Widderhorn ist ein archaisches Instrument. Er hat drei benutzt und präpariert. In meinem Stück "Ashrei" kommt auch das Schofar vor. Das war Zufall, das haben wir nicht abgesprochen. Es gab ganz viele Verbindungen, obwohl die Stücke so unterschiedlich sind. "Ashrei" ist eigentlich das Gebet, mit dem das Mincha-Gebet anfängt. Dann gibt es dazwischen eben unbegleitete Sologesänge. Das sind traditionelle Melodien, traditionelle Gebete, wie sie auch in einer Synagoge gesungen werden könnten.
"Diese alten archaischen Gesänge klingen auf ihre Art auch sehr modern"
Pilaski: Also eine moderne Verschränkung von Tradition und Neuer Musik.
Nemtsov: Genau. Das Interessante ist, dass diese alten archaischen Gesänge – zum Teil sind diese Melodien wirklich relativ alt, die Assaf Levitin ausgesucht hat – das die auf ihre Art sehr modern klingen. Ich finde, es passt ganz gut. Gleichzeitig haben die meisten Stücke schon eine Spur – oder zumindest bei drei Stücken kann man es auf jeden Fall finden – eine Spur von liturgischem Gesang, ohne dass es Zitate gäbe, oder irgendwie plakativ oder folkloristisch würde. Das ist nicht der Fall, aber es ist doch da. Es haben sich alle Komponisten sehr tief mit dem Thema auseinandergesetzt und ganz, ganz unterschiedliche eigenständige Antworten gefunden – ohne Kompromisse für ihre Ästhetik einzugehen. Ich glaube, alle fünf Stücke sind von der musikalischen Aussage "richtige" Stücke dieser Komponisten. Die haben natürlich etwas mit dem Projekt zu tun. Sie sind dafür entstanden. Aber zugleich ohne einen Kompromiss für die eigene Sprache darzustellen. Im Gegenteil: Bnaya Halperin-Kaddari hat gesagt, dass er in dieser Arbeit sehr gewachsen ist, dass er etwas geschrieben hat, was er so vorher noch nicht geschrieben hatte. Mir selbst ging es auch so. Ich habe zu etwas gefunden, was ich ohne dieses Projekt überhaupt nie geschrieben hätte.
Pilaski: Vielen Dank für das Gespräch.