Forum neuer Musik 2021
"Transfleisch"

In „Transfleisch“ geht es um Grenzerfahrungen. Um Wahrnehmungen an der Grenze zum Tod - sowie um die Sehnsucht, in einer zunehmend künstlichen, von Digitalisierung gezeichneten Welt, Mensch bleiben zu dürfen. Man kann das Musik-Video-Text-Stück auch als Kritik des Transhumanismus verstehen.

Am Mikrofon: Egbert Hiller | 22.11.2021
    Kai Hufnagel, Kai Knoblauch, Laura Hovestadt, Mattias Schuller, Rebekka Stephan, Pia Hauser,
    Sergej Maingardts musikalische Neufassung mit Sprecher Kai Hufnagel und dem Ensemble electronic ID (Deutschlandradio/ Thomas Kujawinski)
    Rosi Ulrich / Sergej Maingardt
    "Transfleisch"
    Musik-Theater für Sprecher, Video, Zuspielungen und Ensemble (2013/2021)
    Kai Hufnagel - Sprecher
    Ensemble electronic ID
    Aufnahme, Schnitt, Mastering: Stephan Schmidt

    Einführende Notizen zu "Transfleisch". Von Egbert Hiller

    Mit ihrem hohen Abstraktionsgrad entziehen sich Sergej Maingardts Werke der direkten Zuordnung zu bestimmten Phänomenen. Im Gegenzug setzt sich der Komponist mit Prozessen auseinander, die mit der digitalisierten und globalisierten Welt einhergehen – mit deren Folgen für die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, für die menschliche Existenz überhaupt. Maingardt agiert am Puls der Zeit, und in der Fokussierung existenzieller Dimensionen und technischer Innovation berührt und reflektiert er auch Themenfelder wie Transhumanismus und Tod. Zum Tragen kommt dies in seinem 2013 konzipierten Stück "Transfleisch", welches das Motto des Forums neuer Musik 2021 modifiziert: Können wir den Tod überwinden?
    Assoziationsreich führt das Werk in Bildern und Klängen in Grenzbereiche der Wahrnehmung, die von gesprochenem Text in die Sphäre einer Nahtod-Erfahrung gelenkt werden. Doch der Patient wird zurückgeholt und spürt wieder seine Körperlichkeit. Zugleich bricht sich die Frage bahn, inwieweit Bewusstsein an ein Gehirn gebunden ist, ob es nicht auch außerhalb dessen existieren bzw. wahrnehmen kann.
    Wirklichkeit - Reflektion oder Simulation?
    "Der Inhalt des Bewusstseins ist der Inhalt einer simulierten Wirklichkeit in unserem Gehirn, und das Gefühl des Daseins selbst ist ein Teil dieser Simulation", sagt der Philosoph Thomas Metzinger. Dieser Gedanke, so Sergej Maingardt, hat das Projekt "Transfleisch" seinerzeit stark getriggert. Auch für Autorin Rosi Ulrich hat sich die Grundidee, das Verhältnis von Bewusstsein und Realität auszuloten, seitdem kaum verschoben. Doch hat es neue Perspektiven gewonnen - z.B. durch die wachsende Präsenz von Künstlicher Intelligenz. Auch das Moment des Virtuellen erfährt seit der Uraufführung 2013 permanent Ausweitung, machen immer mehr Menschen doch exzessiv Gebrauch von der Simulationen ihrer selbst im virtuellen Raum.
    Ungeachtet vieler Klänge und Bewegtbilder, die Faszination wie Schrecken erzeugen, lässt sich "Transfleisch" auch als kritische Reflektion jener Visionen verstehen, die suggerieren, sich als Mensch technologisch bzw. virtuell optimieren zu können. Neben der Grenzerfahrung des Todes geht es im Stück um die Sehnsucht danach, in einer künstlichen, von Digitalität und Vervollkommnungswahn geprägten Welt ein biologisches Wesen bleiben zu dürfen. In der neuen, 2020/21 notierten Ensemble-Version, in der vor der Leinwand leibhaftige Musikerinnen und Musiker agieren, verändert sich klar der Fokus: Die Kluft zwischen dem multimedialen Geschehen und der musikalischen Ausführung durch Menschen an physischen Instrumenten wächst – was man als die wesentliche Idee der sparsamen Instrumentalversion auffassen kann.
    Erlösung im Vergänglichbleiben
    Klangliche Entschärfung stellt sich indes keineswegs ein. Infernalische Sounds führen vielmehr in Bezirke des Nichtwahrnehmbaren - zugleich erinnern sie an konkrete Geräusche wie Klopfen, Bohren und Reiben, an dröhnende Maschinen oder schlagende Türen. Der Videopart suggeriert die Metamorphose von Körper und Geist zunächst in bizarren, kristallhaften Strukturen. Im Verlauf taucht das Filmische immer mehr in Mikrokosmen des Biologischen ein: Blutgefäße und pulsierende Strukturen kommen ins Bild, ebenso wolkenartige Gebilde. Gedanken-Inhalte indes bleiben uneinsehbar.
    Wie die Musiker der Formation electronic ID agiert Sprecher Kai Hufnagel live: "Mit berauschender Klarheit der Gedanken" verhandelt er die Auflösung des Ichs, das Hinterfragen des Bewusstseins als verlässlicher Größe und dessen Transformation in von konkreter Individualität abgetrennte Gefilde.
    Auf höherer Ebene imaginiert das gut 50-minütige Stück ein sich radikal wandelndes Verständnis von Realität und ihrer Simulation. Rosi Ulrichs und Sergej Maingardts "Transfleisch" suggeriert ein Zukunftsszenario, worin die Sehnsucht nach dem Natürlichen beschworen wird. In letzter Konsequenz auch die Sehnsucht nach Sterblichkeit - nach Sterbenkönnen und -dürfen als Erlösung aus einer die Spezies Mensch instrumentalisierenden, weil Vollkommenheit verheißenden Technologiegläubigkeit.

    Programm und Mitwirkende

    Rosi Ulrich / Sergej Maingardt
    "Transfleisch"
    Musiktheater für Sprecher, Video, Zuspielungen und Ensemble
    Erstaufnahme der von der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen geförderten Ensembleversion
    Kai Hufnagel - Sprecher
    Ensemble electronik ID:
    Pia Hauser - Flöte
    Tobias Gubesch - Klarinette
    Matthias Schuller - Posaune
    Felix Knoblauch - Klavier und Sampler
    Ségolène de Beaufond - Violine
    Laura Hovestadt - Viola
    Rebekka Stephan - Violoncello
    Sergej Maingardt - Klangregie
    Aufnahme, Schnitt, Mastering: Stephan Schmidt
    Rosi Ulrich
    Als Dramaturgin und Autorin für Theater und Hörspiel interessiert sie vor allem die gegenwärtige Gesellschaft in ihren Transformationsprozessen. Sie entwickelt Konzepte und Thateradaptionen für ortsspezifische und dokumentarische Stücke. 1996–2000 war sie Co-Leiterin des Trash Theaters in Köln. 2001 gründete sie das theater-51grad, das 2019 mit Andrea Bleikamp und dem wehrtheater zum WEHR51 fusionierte. wehr51.co
    Sergej Maingardt
    *1981, Kasachstan. Hineingeboren in die Ära der Digitalisierung versteht er Musik als wichtige Zeitkunst, um die rasante globale Veränderung der Welt zu reflektieren. Seine Arbeit als Komponist wird von modernen Technologien beeinflusst, sowie von der Art und Weise wie diese die menschliche Wahrnehmung verändern – was er wiederum künstlerisch multimedial reflektiert. Maingardt studierte elektronische Komposition in Köln sowie Medien und Kulturanalyse in Düsseldorf. maingardt.de
    electronik ID
    gegründet 2014 von Studierenden der Musikhochschulen Essen und Köln. Fokussiert auf Interpretation intermedialer Musik des 21. Jahrhunderts. Vereint klassisches Instrumentalspiel und ektronische Klangerzeugung und versteht Bild und Video als Teil der Komposition. Motto: "Kunst soll als Ganzes erlebt und mit so vielen Sinnen wie digital möglich erfahren werden".