Die Fundstelle Jebel Irhoud im südlichen Marokko ist schon seit den 1960er-Jahren bekannt. In einem Bergwerk wurde dort jahrelang Kalkstein und Baryt abgebaut. Minenarbeiter hatten schon vor mehr als 60 Jahren menschliche Fossilien entdeckt, aber die Funde konnten nicht akkurat datiert werden.
Jean-Jaques Hublin wollte dieses Rätsel lösen. Seit 2003 organisierte der Direktor vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig neue Ausgrabungen bei der marokkanischen Mine und hatte nun doppelt Erfolg. Sein Team konnte die Fundstelle datieren, zudem wurden weitere Knochen und Steinwerkzeuge entdeckt. Der französische Forscher ist begeistert und erleichtert zugleich.
"Es geht nicht nur um das hohe Alter der Fundstelle; auch die Morphologie der Knochen ergab plötzlich einen Sinn. Es handelt sich nicht um einen Neandertaler, das ist auch kein Mischling zwischen Neandertaler und anatomisch modernem Menschen oder irgendein alter Seitenast, der dort lange Zeit überlebt hat, nein. Es handelt sich um die ersten Vertreter unserer eigenen Art."
Fossilien von fünf Individuen
Die versteinerten Knochen – darunter ein Schädel, ein Unterkiefer, Langknochen und Wirbel – stammen von fünf Individuen. Sie alle gehören zu unserer Menschenart: Homo sapiens. Rekonstruktionen und statistische Berechnungen ergaben, dass diese Menschen anatomisch betrachtet viele Ähnlichkeiten mit heutigen Menschen zeigen. Überraschend ist das hohe Alter der Knochen mit rund 300.000 Jahren. Die ältesten Belege für Vertreter von Homo sapiens stammten bislang aus Äthiopien und sind knapp 200.000 Jahre alt.
"Diese neuen Knochen zeigen uns, wie der Evolutionsprozess hin zum anatomisch modernen Menschen ablief. Es war keine schnelle und plötzliche Entwicklung, sondern eher ein langsamer, gradueller Prozess. Vor allem der Hirnbereich hat sich erst in den vergangenen 300.000 Jahren stark gewandelt. Das ist auch etwas, was mit den paläogenetischen Erkenntnissen übereinstimmt."
Das Gesicht dieser Menschen aus Marokko wirkt schon sehr modern, der Hirnschädel dagegen noch sehr archaisch. Das macht auch deutlich, dass ein Teilfund – Gesicht oder Hirnschädel - eine völlig andere Interpretation ergeben haben könnte. Daher sind voreilige und absolute Interpretationen bei Frühmenschenfunden immer riskant, so Jean-Jaques Hublin.
"All die neuen Funde verändern unser altes Bild von der Menschwerdung. Momentan gibt es keinen Beleg dafür, dass sich der Homo sapiens plötzlich vor 200.000 Jahren im Afrika südlich der Sahara entwickelt hat. Es gab keinen lokalen Garten Eden. Wenn es diesen Garten Eden in Afrika gab, dann müssen wir das auf ganz Afrika beziehen, denn diese Evolution ging auf dem ganzen Kontinent vonstatten."
Menschliche Vergangenheit eher ein Stammbusch
Unsere Vergangenheit lässt sich also eher in einem Stammbusch als in einem Stammbaum aufzeichnen, da sich unterschiedliche Arten lange zeitlich und räumlich überlappt haben. Vor 300.000 Jahren haben Vertreter von Homo sapiens in Afrika gelebt, gleichzeitig Neandertaler in Europa, Denisova-Menschen in Sibirien, die kleinen Hobbits in Indonesien und auch Homo naledi in Südafrika.
Neue Funde dieser Spezies hatte John Hawks von der Universität von Wisconsin in Madison vor einem Monat zusammen mit einem internationalen Forscherteam veröffentlicht. Er ist derzeit wieder im südafrikanischen Rising-Star-Höhlensystem auf einer weiteren Ausgrabung und schätzt die neuen Funde aus Marokko am Mobiltelefon ein.
"Die einzige Sache, die ich etwas anders sehe, ist die Interpretation, dass es sich um einen frühen Homo sapiens handelt. Wenn ich mir die Fossilien aus Marokko anschaue, frage ich mich, ob dieser archaisch wirkende Mensch wirklich ein Vertreter von Homo sapiens ist. Verstehen sie mich nicht falsch, das ist alles sehr interessant. Und die Funde zeigen, wie kompliziert die Evolution des Menschen war. Aber wir wissen leider aktuell noch nicht, wie das alles zusammenpasst."
Denn auch die Fossilien aus Marokko geben lediglich Einblick in ein kleines Zeitfenster der Entwicklung des anatomisch modernen Menschen. Nur weitere Fossilienfunde, die exakt datiert werden können, werden das große Rätsel um die Evolution des Homo sapiens lösen können.