Dieses Foto verstört: Eine Frau mit Mantel und Kopftuch sitzt vor einem spärlich gedeckten Holztisch, darauf ein Glas Wasser und ein zerbrochener Teller. Neben ihr steht ein junger Mann in zerschlissenen Jeans und abgewetztem Sakko und serviert im Stile eines Obers den Hauptgang: ein großes, trockenes Büschel Gras. Das Foto ist gestellt, trotzdem trifft es den Betrachter mit unerwarteter Wucht.
Der syrische Fotograf Omar Imam, selbst Geflüchteter, hat solche Geschichten von Menschen auf der Flucht gesammelt und fotografisch inszeniert. Seine Bilder sind so surreal wie ein Gemälde Salvador Dalis und gleichzeitig so klar und aussagekräftig wie eine Aufnahme von Henri Cartier-Bresson.
Poesie und Menschlichkeit
Die Mutter und der Sohn, die sich tagelang von Gras ernährten – mit welcher Poesie und Menschlichkeit Imam das Ganze nachstellt, beeindruckt. Auch Museumsleiter Thomas Elsen:
"Vielleicht kann das, was er tut, dazu beitragen, dass man genauer hinschaut. Indem es eben nicht ein Pressefoto ist, indem es eben nicht ein Sensationsfoto ist. Sondern indem eine Inszenierung stattfindet mit den Leuten, um die es geht. Ein Bild, das man in Zeitungen und Nachrichtensendungen nicht finden würde."
Da ist weiter ein Rollstuhlfahrer, der sich wie ein liegen gebliebenes Autowrack zwischen Schraubenschlüsseln und –drehern fühlt. Oder das Paar, das nicht mehr nur aus dem Koffer, sondern vielmehr in einem Koffer lebt. Sie posieren selbstbewusst vor der Kamera, als wollten sie die Aufmerksamkeit des Besuchers provozieren. Schaut her, hier sind wir! Und man kann tatsächlich kaum wegschauen, obwohl oder vielleicht gerade weil die Geschichten nicht als plakative Hilfeschreie, sondern als chiffrierte Schicksalserzählungen inszeniert sind.
"Dass nicht oberflächlich ein Zustand dokumentiert wird, sondern diese innere Bewegung. Dass Bewegung ein innerer Prozess ist, dass es nicht nur um Migration geht, wie sie gerade in aller Munde ist, sondern dass Migration auch ein innerer Akt, eine innere Suche ist."
Bezüge zum Zweiten Weltkrieg
Die Foto- und Videoausstellung "Not Here Yet" behandelt das Thema Flucht und Migration aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Man würde sich noch mehr Arbeiten wie jene von Omar Imam wünschen, der Aktualität und Zeitlosigkeit, Politik und Kunst, Innen und Außen auf so gekonnte Weise miteinander verwebt. Die meisten zeitgenössischen Künstler aber sind vorsichtig mit allzu tagesaktuellen Bezügen, das haben die jüngeren Ausstellungen zum diesem Thema. So ist das auch in Augsburg.
Hier überzeugen vor allem die Arbeiten, die einen klaren Bezugspunkt herstellen, zum Beispiel zum Zweiten Weltkrieg und dem Thema Vertreibung. Johanna Diehl fotografiert verlassene und zerstörte Synagogen in der Ukraine: Der Putz blättert ab, hebräische Schriftzeichen bröckeln, und mancher Gottesort wird in ein Kino umfunktioniert. Oder Burkhard Schittny, der über 114 Kilometern den Spuren seines Vaters von Polen nach Deutschland folgt und seinen Weg mit der Kamera kleinteilig dokumentiert.
Weniger überzeugend sind die Motive von Andy Heller, die Problemviertel in San Francisco ablichtet. Oder die großflächigen Porträtaufnahmen einfacher Menschen in Guatemala von Ferit Kuyas. Fotoserien, die nett, oder auch weniger nett, anzuschauen sind, aber kaum etwas zum Thema der Ausstellung beitragen.
Fotografie als Endprodukt eines Prozesses
Konsequent zeitlos dagegen präsentiert sich "Walking Artist" Hamish Fulton, der das Laufen, die Bewegung in der Natur zum Grundprinzip aller Dinge stilisiert – mit stillen Landschaftsaufnahmen aus der ganzen Welt. Museumsleiter Elsen meint…
"…dass die Fotografie hier in der Ausstellung nur das Endprodukt eines langen Prozesses ist, das vorläufige Endprodukt. Das gilt z.B. auch für Maurizio Cattelan, der sagt, sein Foto ist kein Kunstwerk, sondern nur die Visualisierung eines Kunstwerks. Sein Kunstwerk hat stattgefunden in Zürich."
Dort ließ Cattelan die Paralympics-Siegerin Edith Wolf-Hunkeler durch eine besondere Bootskonstruktion mit dem Rollstuhl übers Wasser fahren. Seine Bilder entstehen aus Performances, die die Grundsätze des Seins ins Auge fassen, die sagen: Stillstand gibt es nicht, Bewegung ist ewig, wir sind alle Flüchtende. Und wenn es nur eine Flucht vor uns selbst ist - wie bei Videokünstler Alberto Garcia Alix, der im Rausch der Geschwindigkeit von Motorradrennen gegen seine Drogensucht kämpft.
"Not Here Yet", das heißt: Nie richtig da, schon wieder weg, ständig im Transit – in Zeiten, in denen wir von "uns", den Ansässigen, und "denen", den Flüchtenden, sprechen, ist das ein ganz zentraler Gedanke.