Der Schwarze Freitag 1929. An der Wall Street stürzt der Dow Jones ins Bodenlose. Die Panik steigert sich zur Weltwirtschaftskrise, der schlimmsten und folgenreichsten der Geschichte. Und was tun sie in New York? Sie lassen sich Marmor liefern. Und bauen Hochhäuser!
Kein Mensch brauche dieses falsche Symbol zur falschen Zeit, schimpft der Zeitungsreporter Edmund Wilson zur Eröffnung des Empire State Building im Mai ’31. Die Wirtschaft liege am Boden; man produziere nichts als luxuriösen Leerstand:
„So steht es nun da, eine leere Hülle, sinnlos und überflüssig, doch gefeiert als Triumph einer Gesellschaft, die sich im ziellosen Wettbewerb verzettelt, im Moloch der Großstadt alle Menschlichkeit aus den Augen verloren hat und dabei doch längst bankrott ist.“
Der Wolkenkratzer als Normalfall im Stadtbild New Yorks
Ein paar Straßen weiter, Hausnummer 30 an der Rockefeller Plaza, zogen sie derweil schon ein neues Projekt in die Höhe: 70 Stockwerke im eleganten Stil des Art Deco – ein gutes Stück niedriger als das Empire State, und doch ein Signal: der Wolkenkratzer als Normalfall im Stadtbild von New York. Ein Gebäudetyp, der nicht mehr Ehrgeiz oder Hybris eines einzelnen Tycoons bestätigt, sondern die Ambition einer Stadt, die sich zur Metropole der ganzen Welt erklärte, zum lebenden Symbol einer Epoche. Tatsächlich sollte es dem Investor John D. Rockefeller Junior von Anfang an gelingen, die Immobilie auch wirtschaftlich erfolgreich zu nutzen, zunächst für den Medienkonzern RCA. Heute trägt das Bauwerk den Namen des Kabelnetzbetreibers Comcast.
Eine PR-Aktion Rockefellers
Doch gar zu krass war der Gegensatz zwischen dem Glamour der Wolkenkratzer und dem Elend auf den Straßen. Amerika durchlebte die Great Depression: Arbeitslosigkeit, Verzweiflung, blanke Armut. Das Gebäude war noch nicht fertig, da sah Rockefeller sich gezwungen, das öffentliche Image seines Projekts aufzupolieren. Er schickte Fotografen auf die Baustelle: Zeigt etwas Optimistisches! Vermutlich hat Charles Ebbets die Aufnahme gemacht, die heute zu den Ikonen ihrer Zeit gehört: „Lunch atop a Skyscraper - Mittagspause auf einem Wolkenkratzer“. Vermutlich war es an diesem 20. September 1932. Allzu sicher lässt sich das nicht mehr sagen.
Eines der am häufigsten reproduzierten Bilder in der Fotografie-Geschichte
Zu sehen sind elf Männer, Bauarbeiter, die nebeneinander auf einem Stahlträger sitzen, rauchen, sich unterhalten, lachen, den Central Park im Rücken, während ihre Füße in 250 Metern Höhe in der Luft baumeln. Ein paar Tage später erschien das Foto in der "Herald Tribune". Es wurde eines der am häufigsten reproduzierten Bilder in der Geschichte des Mediums. Aber hatte jemand einen Blick für die ausgelatschten Schuhe der Arbeiter? Fiel auf, dass es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen gab? Dem Himmel näher als der Erde balancierten die Männer auf Trägern, die nicht viel breiter waren als ein Fuß. Tödliche Unfälle waren an der Tagesordnung. Einer alle zehn Stockwerke, das galt als akzeptabel. Der Schriftsteller Thomas Wolfe wurde Zeuge:
„Als ich so dastand und den Arbeitern zusah, die kleinen Gestalten beobachtete, die korkleicht mit Weberschiffchenbewegungen auf den Tragbalken hoch oben in der kristallenen Luft hin und her liefen, da, ganz plötzlich und mit jener mörderischen Gleichgültigkeit, mit der das Entsetzliche in Träumen eintritt, geschah es.“
Wer waren die Männer auf dem Bild?
Ein Augenblick der Unachtsamkeit nur, ein Arbeiter, der glühende Stahlnieten mit dem Eimer auffangen sollte, um sie zum Bau der Konstruktion weiterzureichen – dann rief einer dem anderen etwas zu, ein Blick zur Seite, und das Schicksal war besiegelt.
„Nachdem ihn die Niete getroffen hatte, hielt er noch einen Augenblick stand. Dann fingen die schäbigen Arbeitskleider jäh Feuer, der Mann taumelte blindlings in die Leere und stürzte ab, eine grelle, von einem einzigen Schrei entzündete Fackel.“
Wer die Männer waren? Niemand hat ihre Namen festgehalten. Einwanderer wohl. Kann sein, dass ein paar Iren dabei waren, Ungelernte, die aus nackter Not ihr Leben riskierten. Vielleicht ein paar Indigene vom Stamm der Mohawks, die als besonders schwindelfrei galten. Aber vielleicht waren sie auch nur besonders verzweifelt.