"I was born twisted. I don’t want to die."
Keanu Reeves liest in einer kleinen Buchhandlung von Los Angeles die erste Seite des Buchs "Shadows". Dann erklärt er:
"Das gilt doch für uns alle: Wir kommen verdreht auf die Welt und merken schnell, dass wir nicht sterben wollen."
Neben ihm sitzt Alexandra Grant: Künstlerin, Kollaborateurin und Anstifterin. Es ist ihr zweites gemeinsames Buch. Vor fünf Jahren erschien die 'Ode to Happiness'. Grant hatte die Idee zum "Shadows"-Projekt: eine Kombination aus Fotos und Texten inspiriert vom Wort "Schatten". Innerhalb von drei Tagen schickte Reeves ihr 85 Texte zu.
Ein, zwei Sätze, Gedanken, Meditationen
"Meine Absicht war, etwas sehr Persönliches und gleichzeitig Allgemeingültiges durch Poesie zu erforschen. Das Projekt inspirierte mich, Trauer genauer zu betrachten, wie wir sie bewältigen und überwinden."
Es sind super kurze Texte: ein, zwei Sätze, Gedanken, Meditationen. Als sie geschrieben waren, trafen sich Reeves und Grant zum Fototermin in einem stockdunklen Raum mit nur einer Lichtquelle.
"Das war für mich dein größtes Geschenk: Dass du alles mitgemacht und mir komplett vertraut hast bei einem Projekt wie ich es noch nie gemacht hatte."
Grant arbeitete bis dahin als bildende Künstlerin. Jetzt richtete sie eine Kamera auf Keanu Reeves’ Schatten an der Wand und gab ihm Regieanweisungen.
"I did have to direct you"
"Ja! Versuch das mal! Nein, tu das nicht! Das auch nicht! Das ist ok. Nun tu so, als wärst du eine Blume! Wovor hast du wirklich Angst?"
Spielerisch gehen die beiden miteinander um, lachen viel, reden von Spaß bei der Arbeit, die wie ein Tanz gewesen sei.
Zwei Tage später führt Alexandra Grant durch eine Ausstellung der "Shadow"-Bilder. Die meisten sind im Buchformat und schwarz-weiß, manche in Rot-, Grün- und Blauschattierungen. Etwa ein Dutzend hat der Steidl-Verlag mit modernster Drucktechnologie vergrößert - auf ein Meter mal ein Meter 50: Keanu Reeves gebeugt, mit geballten Fäusten, das Gesicht zum Himmel gestreckt, statisch und in Bewegung. Es ist immer nur sein Schatten an der Wand.
Der Schatten ist der hellste Teil des Bilds
"Du kannst hier seine Augenbrauen sehen, Haare am Kinn, in der Achselhöhle, Brustwarzen, die Gürtelschlaufe. Verzerrungen durch Licht und eine kurze Bewegung."
Das Verwirrende und Überraschende: Der Schatten ist nicht schwarz. Im Gegenteil: Er ist der hellste Teil des Bilds. Grant hat beim Entwickeln der Fotos Farbe hinzugefügt und die Realität umgedreht:
"Ich wollte, dass die Gestalt die Lichtquelle ist und die Rolle von Schatten umdrehen, sehen, was das bewirkt - symbolisch und ästhetisch."
Galerie-Besucher blättern im Buch nach, welche Worte die Künstler, mit welchem Bild gepaart haben.
"Wir wollten den Betrachtern Raum geben, etwas Geheimnisvolles zu erleben, Fragen zu stellen, ihre eigenen Gefühle den Worten und Bildern hinzuzufügen."
Wer hofft, durch das Buch Einblicke in das Privatleben von Keanu Reeves zu bekommen, wird enttäuscht. Doch wer bereit ist, sich einzulassen auf einen poetischen Tanz um Schatten und Licht, findet in dem Buch sicher zahllose Inspirationen.
"It all goes by so fast. ... Thank you, thank you, thank you!"
Das Buch kostet 48 Euro und kann über den Steidl Verlag in Göttingen bestellt werden.