Die Fotografinnen-Karriere von Evelyn Richter hat etwas Exemplarisches. Mitte der 1950er-Jahre studierte sie an der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, der einzigen Hochschule der DDR, die einen Studiengang in Fotografie anbot. 1956 vom Studium ausgeschlossen, weil sie sich bei ihren Lehrern über dessen ideologische Verengung beschwert hatte, schlug sie sich 23 Jahre lang mehr schlecht als recht als freie Fotografin durch, bis sie schließlich 1979 ihre erste Einzelausstellung bekam. Ein Jahr später, die Zeiten hatten sich geändert, erhielt sie dann doch einen Lehrauftrag für Fotografie an eben jener HGB, die sie als Studentin noch hinausgeworfen hatte.
Lebensalltag in der DDR
Ihr Hauptvergehen hatte darin bestanden, dass sie den Lebensalltag in der DDR im Stil jener sozialdokumentarischen Fotografie abbilden wollte, wie sie sich unmittelbar nach dem Krieg im Westen durchzusetzen begann. Berühmter Kristallisationspunkt für diese betont humane und figürliche Fotografie war Edward Steichens weltweite Wanderausstellung "The Family Of Man", die Richter 1955 in West-Berlin gesehen hatte und in der auch einige osteuropäische Fotografen vertreten waren. Richters Bilder aus den 1960er und 70er Jahren vom Alltag und von erschöpften Arbeiterinnen sind erkennbar von dieser neuen internationalen Sozialfotografie geprägt, die so gar nicht sozialistisch war – wie etwa jene charakteristische Aufnahme einer Arbeiterin an der Linotype der Druckerei des Neuen Deutschlands von 1961.
Björn Egging, Kurator des Dresdner Kupferstich-Kabinetts betont, "dass sie nicht parteilich argumentiert, dass sie eben nicht die Arbeit im Sozialismus verherrlicht, wie es eigentlich verordnet war; sondern dass sie zeigt, wie erdrückt eigentlich diese Frau von dieser Maschine ist, wie ermüdend solch eine Arbeit ist, und dass sie am Ende des Tages natürlich nach Hause geht, um dort auch noch Hausarbeit zu verrichten. Das zeigt natürlich auch eine Lebenswirklichkeit, die nicht immer im Sinne der Ideologie war."
Rebellische Kampfansage an den Staatssozialismus
Diese Fotografie war zugleich staatsfern und marktfern; sie widerstand sowohl der Zensur in der DDR als auch dem Belohnungssystem des westlichen Kunstmarktes. Die historische Ausnahmesituation des Staatssozialismus eröffnete Künstlerinnen wie Evelyn Richter eine unter viel Verzicht erkämpfte Sonderrolle, in der sie ihre Autonomie nicht durch formale Abstraktion oder das Erweitern des Kunstbegriffes behaupten mussten, sondern in dem sie das, was sie fotografierten in den Straßen und auf den Dörfern, einfach nicht veröffentlichten. "Für die Kiste", wie Richter es nannte, produzierte sie Langzeitprojekte wie die pointierten Aufnahmen von Besuchern im Museum, von Reisen etwa nach Moskau oder nach Rumänien, von Portraits bekannter Zeitgenossinnen wie Lilja Brik oder Louise Bourgeois oder des Geigers David Oistrach, dem sie lange hinterher reiste, um ihn gültig abzubilden – und eben ihre souverän komponierte, höchst teilnahmsvolle Alltagsfotografie der siebziger Jahre.
In Dresden wurde Richters Fotografie seit den 1980er Jahren vor allem durch den Kupferstich-Kabinett-Direktor Werner Schmidt gesammelt, der jahrzehntelang auch viele andere Untergrundkünstler unterstützte. Die Ausstellung mit 40 Arbeiten im Albertinum zu Richters 90. Geburtstag speist sich im Wesentlichen aus dieser kleinen, historisch einzigartigen Sammlung, die an die über 700 Arbeiten aus dem Evelyn-Richter-Archiv am Leipziger Museum der Bildenden Künste zwar nicht heranreicht. Dennoch bietet sie einen schönen Überblick, der bis in die Nachwendezeit reicht. Aus dem Leipziger Archiv kommt dabei ein frühes, ungewöhnliches Selbstportrait, das Richters Situation während ihres Leipziger Studiums und ihren weiteren Werdegang schlaglichtartig erhellt: Mit allerlei technischem Gerät als Maschinenmensch verkleidet, zitiert sie in den fünfziger Jahren noch einmal die internationale Avantgarde von Dadaismus, Konstruktivismus und Bauhaus - eine übermütige, rebellische Kampfansage im Bild gegen den Staatssozialismus jener Zeit.