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Fotos von Boris Mikhailov
Gestrandete des osteuropäischen Kapitalismus

Mit erotisch-clownesken Fotos von Obdachlosen in der Nachwendezeit ist der Ukrainer Boris Mikhailov weltbekannt geworden. In Selbstporträts zieht er die heroisch-verkitschte Arbeiterfigur der realsozialistischen Propaganda ins Lächerliche. Zum 80. Geburtstag widmet ihm C/O Berlin eine Ausstellung.

Von Carsten Probst |
Der Fotograf Boris Mikhailov vor seinen Bildern
Der Fotograf Boris Mikhailov (Veronika Lukasova/ imago stock&people)
"Ich bin nicht ich" - das ist der Titel einer Serie von Selbstporträts Boris Mikhailovs von Anfang der 1990er-Jahre, und damit scheint zugleich auch schon das Kernthema seiner Arbeit umrissen zu sein. In diesen Selbstporträts nimmt der nackte Mikhailov vor einem dunklen Bildhintergrund auf slapstickhafte Weise verschiedene Heldenposen ein - Gegenbilder zur heroisch-verkitschten Arbeiterfigur in der realsozialistischen Propaganda. Mikhailov performt mit Schwert und Dildo und in lächerlichen Körperhaltungen; seine Nacktheit wirkt alles andere als stählern, sondern überaus angreifbar. Unverkennbar sind hier die Bezüge zu den ironisch-melancholischen Körperinszenierungen der Untergrundkunst in den vormals sozialistischen Staaten.
Die großformatigen C-Prints sind in Schwarz-Weiß gehalten, seine folgenden Serien hingegen alle in Farbe. Bei weitem nicht alle ehemaligen Untergrundkünstler sind nach dem Fall der Sowjetunion zu Weltruhm gelangt. In Mikhailovs Fall aber hängt dies untrennbar mit dem Werk zusammen, das er seither in Farbe geschaffen hat.
Vom Verfall gezeichnete Körper
Denn dieses Werk ist mehr nur anti-heroisch auf die Zeit der Sowjetunion gerichtet. Es beschert dem Publikum in aller Welt eine Grenzerfahrung. Hin- und hergerissen zwischen Anwandlungen von Mitleid, Voyeurismus und Scham blickt man auf nackte, alte, versehrte Körper - von Aussatz bedeckt oder vom Verfall gezeichnet. In scheinbarer Schamlosigkeit bieten sich diese Körper offenkundig freiwillig in zufälligen oder gekünstelten Posen dar, stellen Szenen aus der Kunstgeschichte nach, hier eine Pietá, dort eine Kreuzabnahme, alte Meister aus der postsowjetischen Gosse, so scheint es. Mikhailovs Figuren, so stand schnell fest, waren die Gestrandeten des neuen osteuropäischen Kapitalismus. Er selbst wurde ausgerechnet von westlichen Sittenwächtern als Zyniker bezeichnet, weil er seine Modelle für ihre Aktionen auch noch bezahlte.
"Case History", "Fallstudie" heißt diese Serie, die zwischen 1997 und 99 insgesamt fast 500 Aufnahmen versammelt; mehr als die Hälfte sind bei C/O Berlin an einer langen Wand zu sehen. Dadurch erschließt sich gut die Systematik in den inszenierten Aufnahmen, die Ordnung von bekleideten und unbekleideten Figuren, Körperhaltungen, Bewegungen, die dem Chaos der menschlichen Zustände eine ironische Struktur geben. Denkt man nun an das Ordnungsprinzip von etwa Gerhard Richters "Altas" mit seinen noch viel zahlreicheren, privaten Aufnahmen, dann zeigt sich: Boris Mikhailovs Fotografie ist nicht privat. Sie ist, wie er es in seinem gestammelten Englisch zwischen seinen schwarzen-weißen Selbstporträts und den farbigen Fotos von "Case History" beschreibt, auch für ihn eine historische Grenzerfahrung.
Schwarz-weißes Leben in der Sowjetunion
"Das ist eine wichtige Serie, ja, es geht immer irgendwie um die Sowjetunion. Aber zugleich ist es eine Grenze, die meine schwarz-weiße Sicht auf die Welt geheilt hat. Mein Leben in der Sowjetunion war schwarz-weiß, und dies hier ist dagegen wie ein Farbfilm. Ohne den Film hätte es womöglich die sexuelle Revolution nicht gegeben. Schönheit und Offenheit für Gefühle war doch genau das, was gebraucht wurde. Und das war vielleicht auch die Art von Erfahrung, die die alte Sowjetunion schließlich zu Fall gebracht hat."
Körperlichkeit war Mikhailovs Thema von Anfang an seit seinen frühen Aktaufnahmen in den 1970er-Jahren. Die anti-heroischen Selbstporträts in der Serie "Ich bin nicht ich" reagieren auf die Besetzung des Körpers durch die totale Kontrolle in der Diktatur. Die Figuren in "Case History" hingegen, die ihre schründigen Körper so bereitwillig entblößen, mit Nacktheit und ihrem Elend spielen – sie sind keine Elenden, sondern Befreite. Sie mögen arm, krank und obdachlos sein, aber sie sind frei. Boris Mikhailov ist kein dokumentarischer, kein Sozialfotograf. Auf allen diesen Bilder, so sagt er, bin ich selbst.