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Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht (Linke)
"Wir brauchen auch Russland, um Probleme zu lösen"

Europa müsse als Antwort auf die derzeitigen Handelskonflikte in aller Welt wieder seine Interessen in den Mittelpunkt stellen, sagte Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken, im Dlf. Dabei solle Europa geschlossen auftreten und "die Kooperation und nicht einen immer mehr eskalierenden Konflikt" suchen.

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Falk Steiner |
    Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken
    Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken (Imago / Sven Simon)
    Falk Steiner: Ja, guten Mittag, Frau Wagenknecht nach Saarbrücken hier aus Berlin.
    Sahra Wagenknecht: Guten Mittag, ja.
    Steiner: Ja, wir kommen gerade sozusagen jetzt in eine, sagen wir mal, sehr bunte Weltlage hinein. Vielleicht beginnen wir einfach mit ihr. Donald Trumps US-Regierung hat die erwarteten und von manchen befürchteten Strafzölle gegen die EU, Kanada und Mexiko verhängt. Wie sollte sich denn Deutschland, wie die EU aus Ihrer Sicht jetzt verhalten?
    Wagenknecht: Ja, das war ja relativ absehbar. Ich meine, Donald Trump macht einfach ganz knallhart Wirtschaftskrieg für die eigene Wirtschaft, für die eigenen Unternehmen. Und ich finde, darauf muss die EU souverän antworten. Das heißt, wenn solche Maßnahmen getätigt werden, auch die Sanktionen in Richtung Irangeschäft, dann muss das mit Gegenmaßnahmen beantwortet werden. Und was wir natürlich auch beachten müssen, wir müssen viel stärker auch in Deutschland berücksichtigen, dass wir unsere Binnennachfrage stärken. Also, wir müssen diese völlige Abhängigkeit vom Export überwinden. Die hat sich ja in den letzten Jahren extrem erhöht, dadurch dass wir eben eine schlechte Lohnentwicklung haben, die öffentlichen Investitionen sehr niedrig sind. Dadurch sind wir immer mehr vom Export abhängig. Und das sollten wir überwinden. Wir sollten auch eine starke Binnenwirtschaft aufbauen. Das macht uns einfach unabhängiger.
    "Das Unehrliche an der Diskussion"
    Steiner: Jetzt ist es so, dass Donald Trump nicht gerade der Mitgliedschaft in der Linkspartei verdächtig ist und doch deckt sich sein Agieren an manchen Stellen mit Positionen Ihrer Partei. "Wir brauchen einen gerechten Welthandel und eine neue gerechte Weltwirtschaftsordnung", hieß es im Wahlprogramm der Linken 2017. Da waren Sie ja Spitzenkandidatin. Donald Trump hat das etwas reduziert, gebe ich zu, auf einen Tweet mit zwei Worten: "fair trade". Der Fairness halber sei aber auch gesagt, dass das Linken-Programm danach noch forderte, dass dieser hohen ökologischen und sozialen Standards gerecht werden müsse. Aber stimmt denn für Sie nicht eigentlich die Grundrichtung? Weniger einfach Freihandel, wie er bislang war und vielleicht auch mal mit Zöllen gegensteuern, gerade im Interesse auch eben der arbeitenden Bevölkerung?
    Wagenknecht: Na, generell sind Zölle natürlich nicht etwas, was man prinzipiell ablehnen kann. Also, auch die EU erhebt ja relativ hohe Zölle. Das ist ja auch ein bisschen das Unehrliche an der Diskussion. Also, aktuell werden an den Außengrenzen der EU zum Beispiel auf Autos deutlich höhere Zölle erhoben, als sie die USA aktuell erheben. Fair-Handel, unter fairem Handel verstehe ich natürlich noch etwas anderes. Vor allem Länder, die schwach sind, also arme Länder, müssen die Möglichkeit haben, ihre Wirtschaft durch Zölle zu schützen. Das ist etwas, was wir allerdings ständig unterlaufen. Also, auch die EU macht ja eine Handelspolitik, die zum Beispiel afrikanische Länder zwingt, ihre Zölle abzubauen. Das Ergebnis ist immer gleich. Unsere Exportkonzerne erobern den Markt dort, weil die dortigen Anbieter natürlich überhaupt nicht konkurrenzfähig sind. Am Ende gibt es dort keine Arbeitsplätze mehr. Es werden die Bauern ruiniert. Es werden die Tomaten-Hersteller oder die Tomaten-Züchter ruiniert, weil dann natürlich unsere Tomatenkonserven viel billiger sind. Und das heißt, in den Ländern steigt die Armut. Und das ist tatsächlich eine völlig falsche Politik. Also, ja, es gibt auch Bereiche, wo Zölle sinnvoll sind und es gibt Bereiche, wo man auch, finde ich, schon darauf achten muss, dass man nicht sich völlig einer Dumping-Konkurrenz öffnet und auch bestimmte Industrien verteidigt. Aber das, was Trump macht, ist natürlich nicht gerade im Sinne sozusagen einer ausgewogenen Entwicklung, sondern das ist einfach knallhart, die Interessen der eigenen Wirtschaft zu vertreten. Natürlich könnte man sagen, auch Europa sollte jetzt an die Interessen der eigenen Wirtschaft denken. Allerdings im Verhältnis zur USA, das ist richtig, nicht im Verhältnis zu ärmeren Ländern, weil wenn wir ärmere Länder noch ärmer machen, dann haben wir eben am Ende auch Probleme mit erhöhter Migration. Dann bekommen wir eben keine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Und das sollte ja schon das Ziel sein.
    "Auf direkte und indirekte Art ärmer gemacht"
    Steiner: Wenn ich Sie richtig verstehe an der Stelle, gegenüber den USA entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen, halten Sie für durchaus akzeptabel, aber gegenüber anderen, da sollte man eigentlich wesentlich mehr, ja, Möglichkeiten belassen. Der sogenannte "globale Süden", der sollte sich dann auch entsprechend mit Zöllen behelfen können, ohne dass man entsprechende Gegenmaßnahmen, ja, einleitet von hier aus.
    Wagenknecht: Ja, das halte ich für sinnvoll. Also, gerade bei armen Ländern müssen wir doch endlich unsere Position überdenken. Diese Länder werden seit Jahren, seit Jahrzehnten auf direkte und indirekte Art ärmer gemacht. Sie werden auch bei Rohstoffen ausgeplündert. Das sind auch immer westliche Konzerne, die sich da goldene Nasen verdienen. Es werden in diese Länder Waffen geliefert, die Konflikte anheizen. Das ist eine völlig kranke und natürlich auch völlig verfehlte Politik. Hier muss man endlich etwas ändern. Aber im Verhältnis zu USA fände ich es absolut sinnvoll, dass Europa endlich seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellt. Und das hat ja auch noch mehr Implikationen. Also, ich habe ja die Sanktionen angesprochen gegenüber dem Iran. Auch das ist Wirtschaftskrieg. Auch da geht es letztlich um wirtschaftliche Interessen, weil diese Sanktionen natürlich vor allem auch europäische, nicht zuletzt deutsche Unternehmen treffen. Oder beispielsweise auch die Frage: Wie verhalten wir uns mit den Russland-Sanktionen? Auch das ist eine wirtschaftspolitische Frage, weil es natürlich hier auch um wirtschaftliche Interessen geht. Zum Beispiel …
    Steiner: Aber die Wirtschaftspolitik ist an der Stelle ja doch nur ein Ausdruck eben der Außenpolitik, wenn ich das richtig interpretiere, oder?
    Wagenknecht: Na, das ist die Frage. Also, zum Beispiel geht es den USA in jedem Falle darum ihr Fracking-Gas, was ökologisch verheerend hergestellt wird, was sehr viel teurer ist als russisches Gas, in den europäischen Markt zu drücken und das russische Gas zurückzudrängen. Das ist ja ein ganz klares Ziel. Also, das wird ja auch gar nicht bestritten. Da muss man natürlich schon überlegen: Haben wir ein Interesse daran?
    "Hier wird auch mit zweierlei Maßstäben agiert"
    Steiner: Und, haben wir?
    Wagenknecht: Ich finde nicht, weil natürlich sollte es nicht im Interesse der Bevölkerung sein, die Gaspreise noch weiter zu erhöhen, abgesehen davon, dass es auch in anderen Bereichen gerade deutsche Unternehmen natürlich sehr, sehr getroffen hat, dass diese Sanktionen einen wichtigen Markt abgeschnitten haben. Also, das ist ja, ich sage mal, für die USA relativ problemlos, weil die eigentlich mit Russland kaum Handel getrieben haben. Für europäische Unternehmen, gerade auch für deutsche Unternehmen ist es ein großes Problem. Und man muss ja auch sagen, natürlich war der Anschluss der Krim, stand im Widerspruch zum Völkerrecht. Das ist ein Fakt. Nur die Frage ist: Bringen die Sanktionen irgendetwas, um an der Situation etwas zu ändern? Das sehe ich nicht. Und das Zweite ist, ich meine, wie viele Völkerrechtsbrüche, und zwar wirklich blutige und brutale Völkerrechtsbrüche gibt es leider auch seitens westlicher Länder, auch seitens der USA, die ganzen Kriege, die geführt wurden, bis hin zu den letzten Luftschlägen in Syrien waren zutiefst völkerrechtswidrig. Die Aufkündigung eines Abkommens, wie jetzt gegenüber dem Iran, ist natürlich auch nicht im Einklang mit dem Völkerrecht, sondern ist ein Bruch internationaler Regeln. Also, wenn wir jedes Land sanktionieren wollen, das tatsächlich dem Völkerrecht nicht entspricht, dann müssten wir unsere Außenpolitik wirklich generell auf Sanktionspolitik umstellen. Das ist also nicht sinnvoll. Und insoweit finde ich, hier wird auch mit zweierlei Maßstäben agiert und das sollten wir in jedem Fall überdenken.
    Steiner: Lassen Sie uns noch mal ganz kurz an einem Punkt bleiben, den Sie gerade angesprochen haben – die Frage der Energieversorgung letzten Endes, auch für Deutschland, aber nicht nur für Deutschland. Man könnte Ihr Plädoyer jetzt so verstehen, dass es ein Plädoyer für Nord Stream 2 zum Beispiel ist. Denn das ist ja eigentlich sozusagen hier der Tauschhandel, der im Raume steht, dass man sagt, man verzichtet auf Nord Stream 2, baut dafür noch ein Flüssiggasterminal, was entsprechend dann die Versorgung für Europa mit – ja – sicherstellen kann. Da käme dann das Gas wahrscheinlich – wie Sie es gesagt haben – aus dem Fracking in den USA oder aber es käme eventuell auch aus Katar oder ähnlichen Regionen. Das wäre ja eine deutliche Diversifizierung. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass man sich von Russland vielleicht doch, beim Gas zumindest, doch zu sehr abhängig macht?
    Wagenknecht: Ja, aber das zeigt doch die ganze Unehrlichkeit der Diskussion. Also, zu sagen, wir kaufen Gas nicht mehr bei Putin, weil, der ist uns zu autokratisch. Wir kaufen es dann lieber in Katar, was also ein brutales Regime ist, ein islamistisches Regime. Das sollte ja wohl also irgendwie von den Maßstäben doch einmal hinterfragt werden. Und wie gesagt, das Fracking-Gas aus den USA ist auf jeden Fall sehr viel teurer. Und ich finde, wir sollten uns nicht mehr auf diese Art gegen Russland ausspielen lassen. Russland hat Rohstoffe. Europa hat Interesse an guten Beziehungen zu Russland. Das ist auch traditionell immer eine deutsche Außenpolitik gewesen, seit Willy Brandt, dass man darauf gesetzt hat, in guter Nachbarschaft mit Russland zu leben, damals sogar noch mit der Sowjetunion, wo es ja noch viel mehr ideologische Unterschiede und Gegensätze gab. Und ich finde, wir sollten zu dieser Politik zurückkehren. Dieser Konflikt auch, dieser Wirtschaftskrieg, aber eben auch eine zunehmende Militarisierung und Aufrüstung, auch das steht ja im Raum in all diesen Fragen, bringt uns nicht … wir brauchen auch Russland, um Probleme zu lösen. Ich meine, wir haben Russland aus der G8 ausgeschlossen. Jetzt ist das Problem, dass die USA dort eine Politik machen, die die anderen sechs nicht wollen. Das wäre ja vielleicht auch mal eine Konsequenz, Russland wieder in die G8 reinzuholen, um dort auch eine Gegenmacht, auch eine Gegenpolitik zu entfalten. Also, das ist ja eine Politik, wo wir uns den USA untergeordnet haben und die sollten wir überwinden.
    "Wir müssen die Dinge kritisieren, die wir zu kritisieren haben"
    Steiner: Jetzt ist es aber doch so, dass man durchaus mit Fug und Recht Russland und seine Haltung natürlich kritisieren kann und auch natürlich sehr scharf verurteilen kann für eben Beteiligung im Osten der Ukraine, für eben den Einmarsch auf der Krim. Wenn man sich das anschaut, wie weit kann da die Freundschaft zu Russland – jetzt nicht zu Putin unbedingt –, wie weit kann die gehen?
    Wagenknecht: Wir müssen die Dinge kritisieren, die wir zu kritisieren haben. Das ist auch überhaupt nicht strittig. Dennoch sage ich, wir brauchen ein stabiles Verhältnis, weil Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland machbar ist. Und ich meine, wir kritisieren ja hoffe ich auch – und ich finde sogar, viel vehementer sollten wir das tun – die US Außenpolitik. Man muss sich ja mal ansehen, was die angerichtet hat. Also, der gesamte Nahe Osten ist durch Kriege verwüstet worden. Der Irak, Libyen, in Afghanistan haben wir uns sogar selber mit beteiligt. Das hat ja alles in diesen Ländern nicht zu Frieden geführt. In Syrien …
    Steiner: Und viele davon waren jetzt nicht ganz ohne Beteiligung der russischen Seite. Also, die Gesamtkonstellation ist ja schon ziemlich komplex, oder?
    Wagenknecht: Die Gesamtkonstellation ist so, dass wir diese Konflikte ohne Russland nicht lösen können, aber weder der Irakkrieg noch der Krieg in Libyen ist ja von Russland ausgegangen. Das sind Kriege, die die USA begonnen hat, auch die Aufrüstung der islamistischen Opposition in Syrien. Ich meine, niemand verherrlicht oder niemand sagt, dass das dort keine Diktaturen waren. Natürlich war Saddam Hussein ein Diktator. In Libyen gab es eine Diktatur. Assad ist ein Diktator. Und trotzdem müssen wir uns doch ansehen: Was ist die Alternative? Was ist im Irak rausgekommen? Was ist in Libyen rausgekommen?
    Steiner: Und, was ist die Alternative?
    Wagenknecht: Ja, offensichtlich, wenn man diese säkularen Regime stürzt, mit militärischen Mitteln, was, wie gesagt, auch mit dem Völkerrecht überhaupt nicht vereinbar ist, sind es in erster Linie islamistische Kräfte, die sich gestärkt fühlen und die gestärkt werden. Also, Libyen ist ja heute überhaupt kein Staat mehr. Da herrschen islamistische War Lords. Und jetzt haben wir das Problem, wie man mit einem solchen zerfallenen Land in Verhandlungen tritt, um zum Beispiel das Problem von Flucht und Migration zu beheben. Das funktioniert natürlich nicht. Der Irakkrieg ist die Ausgangsbasis dafür gewesen, dass der Islamische Staat entstanden ist. In Syrien ist er zwar jetzt zurückgedrängt, aber zunächst mal durch die ganze Destabilisierung natürlich auch sehr stark geworden. Und all diese Kriege befeuern natürlich den islamistischen Terrorismus, den wir ja inzwischen auch in Europa haben. Das heißt, das sind alles Entwicklungen, die überhaupt nicht in unserem Interesse sind. Und deswegen wünsche ich mir, dass wir aufhören, hier den USA hinterherzulaufen. Auch in der Frage der Rüstung, um das noch mal ganz deutlich zu sagen. Denn da gibt es ja ganz klare Anforderungen von Trump. Wir sollen also unsere Rüstungsausgaben noch weiter erhöhen, was ja völlig irrsinnig ist. Und hier wünsche ich mir, dass Europa ganz klar sagt: Nein, das ist nicht in unserem Interesse. Wir wollen eine stabile Welt. Wir wollen eine friedliche Welt. Und dafür arbeiten wir auch mit Russland zusammen. Dafür suchen wir die Kooperation und nicht einen immer mehr eskalierenden Konflikt.
    "Entscheidungsebene verlagern"
    Steiner: Sie hören das Interview der Woche live im Deutschlandfunk. Zu Gast Sahra Wagenknecht. Sie ist die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag. Frau Wagenknecht, Sie haben es gerade mit dem Bereich der militärischen Zusammenarbeit schon ein Stück weit angesprochen – respektive nicht nur der militärischen, sondern auch der politischen. Es gibt Vorschläge, dass eben Deutschland und Frankreich speziell im militärischen Bereich wesentlich enger zusammenarbeiten sollen. Ist es nicht eigentlich nur folgerichtig und konsequent, das so anzugehen? Nationale Armeen sind doch etwas aus der Vergangenheit, oder?
    Wagenknecht: Also, wir haben ja ein Grundgesetz. Und das Grundgesetz besagt sehr klar, dass die Bundeswehr einen Auftrag hat, nämlich Deutschland zu verteidigen und nicht eine Interventionstruppe werden darf, die international Kriege führt. Und ich finde, solange wir dieses Grundgesetz ernst nehmen – und das erwarte ich von einer Regierung – so lange muss es sich verbieten, dass wir uns an internationalen Interventionstruppen beteiligen, zumal es am Ende auch nur darauf hinausläuft, den Parlamentsvorbehalt, also eben die Macht des Bundestages darüber zu entscheiden, wo unsere Soldaten eingesetzt werden und wo nicht, immer weiter auszuhöhlen. Das ist ja auch der eigentliche Hintergrund. Kriege sind in der Regel nicht populär, also versucht man dort, mit gemeinschaftlichen Truppen, EU-Truppen oder auch einer solchen Kooperation mit Frankreich eben die Entscheidungsebene zu verlagern. Ich halte das für gefährlich. Und ich finde, das Letzte, was diese Welt braucht, sind noch mehr Interventionstruppen. Wir sollten die Bundeswehr so ausrüsten, dass sie als Verteidigungsarmee einsatzfähig ist und auch einsatzfähig wäre, sollte es einen solchen Fall einmal geben. Aber wir brauchen keine Ausrüstung der Bundeswehr für internationale Kriegseinsätze.
    Steiner: Frau Wagenknecht, Sie haben es gerade schon wieder implizit ausgesprochen, aber auf mich scheint es immer so, dass die Linke sich wahnsinnig schwertut mit eben dieser EU, mit diesem Europa. Jetzt sind im kommenden Jahr Europawahlen. Was ist aus Ihrer Sicht denn notwendig, um dann ein positives Europa wirklich zu schaffen, eines, das Sie selber auch aus gutem, ja, mit gutem Willen und mit vollem Herzen unterstützen können?
    Wagenknecht: Ja, die Krise der EU wird ja nicht von uns herbeigeredet. Die ist ja vorhanden. Und man muss sich ja nur Wahlergebnisse, wie die in Italien beispielsweise, ansehen, um zu begreifen, dass es so wie jetzt nicht weitergehen kann. Wir haben in der EU eine wachsende Spaltung. Die Ungleichheit zwischen den Ländern wird größer, in den Ländern wächst sie auch. Wir haben nach wie vor eine junge Generation in vielen Ländern, die überhaupt keine Chancen hat. Also, das ist ja auch in Italien ein Problem, dass gerade bei den ganz Jungen …
    "In Italien stand keine starke Linke zur Auswahl"
    Steiner: Und trotzdem wählen die dann nicht die linken Parteien, sondern die wählen andere Parteien. Die wählen die 5 Stelle. Die wählen die Lega. Also, das sind ja Parteien, mit denen Sie eigentlich noch viel weniger anfangen können als, sagen wir mal, mit klassischen christkonservativen Parteien.
    Wagenknecht: Ja, das ist natürlich eine Reaktion. Also, in Italien stand ja gar keine – wenn man jetzt mal so will – Linke, starke Linke irgendwie zur Auswahl. Natürlich wählen die Menschen vor allem dann auch aus Wut und aus Protest die Parteien, die ihnen verdeutlichen, dass sie einen anderen Kurs wollen. Und gerade 5 Stelle und auch die Lega Nord haben natürlich einen sehr starken auch Anti-EU-Wahlkampf gemacht. Und sie haben damit eben auch ein sehr starkes Ergebnis erzielt. Und deswegen meine ich ja, müssen wir darüber nachdenken, die EU, so, wie sie jetzt ist, ist sie ein Projekt der großen Unternehmen, die sehr vorteilhafte Bedingungen durch sie bekommen. Sie bekommen einen Binnenmarkt. Sie bekommen Regeln, die darauf hinauslaufen, dass privatisiert werden muss, dass die Arbeitsmärkte dereguliert werden, dass die sozialen Sicherungssysteme abgebaut werden. Daran ist ja die EU durchaus beteiligt. Also, es sind ja, wenn man sich anguckt, auch im EU-Recht natürlich Bedingungen verankert, die nicht auf starke Sozialstaaten, nicht auf gute Daseinsvorsorgen öffentlicher Hand ausgerichtet sind, sondern auf das Gegenteil. Und solange die EU so agiert, solange auch die Menschen das Gefühl haben, ihre Länder werden quasi entmachtet, weil sie inzwischen von Brüssel oder gar von Berlin aus regiert werden, solange werden sie sich auch dagegen empören. Wir als Linke haben kein Interesse daran, dass die Europäische Idee zerstört wird, dass der Nationalismus stärker wird. Im Gegenteil. Aber ich bin überzeugt – und wir sind überzeugt –, dass die EU aktuell, so, wie sie ist, ein Hauptgrund dafür ist, dass Nationalisten stärker werden. Deswegen braucht es ein einiges Europa, das aber eben auch die Souveränität der Länder akzeptiert, das auch die Identität in diesen Ländern akzeptiert, das nicht Demokratie aushöhlt und das vor allem auch nicht ein Instrument zur Durchsetzung neoliberaler Politik ist.
    "Die strittige Frage ist: Wie stehen wir zu Arbeitsmigration?"
    Steiner: Frau Wagenknecht, lassen Sie uns diesen Punkt einfach noch mal kurz aufgreifen. Mit Blick auf die Uhr. Solange haben wir nicht mehr für dieses Interview, aber es ist ein Punkt, um den es ganz zentral geht, nämlich die Frage des Realismus. Sie haben in den vergangenen Monaten immer wieder betont – und das im Zusammenhang mit einer ganz konkreten Frage – ja, dass unrealistische Utopien eben nicht Sinn und Zweck einer Linken sein können, insbesondere in Bezug auf die Frage der Flüchtlinge und der Offenhaltung von Grenzen, respektive der Frage, ob man alle aufnehmen könne oder nur viele oder wen auch immer. Sie haben sich immer wieder klar davon distanziert, dass man Grenzen schließen sollte. Sie haben immer klar gesagt: "Nein, das ist sehr weit von mir weg, von meinen Gedanken, aber wir brauchen ein realistisches Angebot." Jetzt ist es so, in wenigen Tagen wird es einen Parteitag der Linken in Leipzig geben, am kommenden Wochenende. Da wird es dann konkret. Und da wird es um Beschlussempfehlungen gehen, die eben aus dem Parteivorstand als Leitantrag an diesen Parteitag herangetragen wurden. Werden Sie dort diese Beschlussempfehlungen des Vorstandes – ja – mittragen?
    Wagenknecht: Na, das Interessante ist ja, dass der Leitantrag sich um die eigentlich strittige Frage drückt. Das heißt, die ist ausgeklammert. Was allerdings auch sinnvoll ist, weil man eben Dinge, die in der Diskussion stehen, auch nicht per Mehrheitsbeschluss auf einem Parteitag entscheiden kann. Aber deswegen kann man auch nicht am Ende sagen, jetzt ist es entschieden worden. Die strittige Frage ist: Wie stehen wir zu Arbeitsmigration? In der Linken ist überhaupt nicht strittig, wie wir zum Asylrecht für Verfolgte stehen. Das verteidigen wir. Und deswegen sage ich auch, offene Grenzen für Menschen, die verfolgt werden, die zum Beispiel aus der Türkei fliehen, weil Erdogan sie mit jahrelangen Haftstrafen bedroht, selbstverständlich brauchen wir die. Das stellt niemand infrage. Selbstverständlich müssen wir Menschen helfen, die vor Krieg fliehen. Und da ist lediglich die Frage, ob man nicht viel wirksamer hilft, wenn man vor Ort hilft, weil die meisten Flüchtlinge, zum Beispiel auch die aus Syrien geflohen sind, sind ja in den Nachbarländern. Die sind ja nicht in Europa. Und es hätte auch keinen Sinn, sie jetzt alle nach Europa zu holen. Das wäre ja vollkommen verfehlt, weil man mit den gleichen Mitteln vor Ort viel besser helfen kann. Aber das sind nicht die zentralen Streitpunkte. Die zentralen Streitpunkte sind: Wie verhalten wir uns zu Migration, die eben nicht durch Verfolgung und Krieg verursacht ist, sondern die aus dem berechtigten Wunsch heraus resultiert, sich ein besseres Leben zu suchen? Das ist nachvollziehbar. Aber solche Migration hat eben Wirkungen. Also, wenn zum Beispiel in Deutschland immer mehr Menschen ankommen, heißt das, der Lohndruck im Niedriglohnsektor wird noch höher. Und natürlich muss man auch über Fragen nachdenken: Für wie viele Menschen kann man Wohnungen bereitstellen? Wir haben in Deutschland einen massiven Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Jetzt schon. Das haben nicht die Flüchtlinge verursacht, sondern die falsche Politik. Aber natürlich, je mehr Zuwanderung es gibt, desto schwieriger wird es für Menschen, die nicht sehr reich sind, in Deutschland noch eine bezahlbare Wohnung oder gar eine Sozialwohnung zu finden. Das sind ja alles reale Fragen. Und deswegen meine ich, bei der Arbeitsmigration muss es klare Regeln geben, auch deshalb, weil es nicht sinnvoll ist, den armen Ländern ihre Mittelschicht abzuwerben und dann diese Länder noch ärmer zu machen. Das ist ja auch eine Folge, die in der Migrationsforschung ganz klar thematisiert wird. Diese Arbeitsmigration hat nicht nur in den entwickelten Ländern, wo sie ankommt, das Problem, dass dort die Löhne gedrückt werden, sondern sie macht auch die Länder ärmer, aus denen diese Menschen kommen, weil es eben nicht die Allerärmsten sind, die fliehen, sondern man muss ja schon eine gewisse Infrastruktur haben, ein gewisses Geld, um sich eine Flucht überhaupt leisten zu können. Und das ist der eigentlich strittige Punkt. Der ist allerdings im Leitantrag nicht angesprochen. Ich finde …
    Steiner: Und wie wichtig wäre es Ihnen, dass man den klärt?
    Wagenknecht: Ich finde, darüber müssen wir diskutieren. Das tun andere Parteien übrigens auch. Also, nicht nur die Linke streitet über dieses Problem. Das tut die SPD, das tut …
    Die Stimme der Benachteiligten
    Steiner: Das liegt auf der Hand, aber, Frau Wagenknecht, werden Sie jetzt dann einen entsprechenden Antrag stellen, dass man diese Frage dort auf diesem Parteitag klärt?
    Wagenknecht: Nein, weil ich nicht glaube, dass man solche Fragen im Diskussionsprozess jetzt durch einen Mehrheitsentscheid klären kann, weil es sowieso nicht so sein wird, dass die einen, die eine bestimmte Position haben, deshalb ihre Position aufgeben oder umgekehrt, wenn das eine knappe Entscheidung ist. Es wäre ja sowieso eine knappe Entscheidung. Ich finde, wir müssen diese Diskussion führen. Ich habe da meine Position immer sehr deutlich gesagt. Wir als Linke müssen natürlich immer auch die Stimme der Benachteiligten sein. Wir müssen die Stimme derer sein, die in Deutschland unter den ganzen Reformen der Agenda 2010 sowieso schon leiden, die viel Wohlstand verloren haben. Man muss ja sehen, 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben heute weniger Einkommen als Ende der 90er Jahre. Und das sind Menschen, die natürlich auch vielfach in den Niedriglohnsektor abgedrängt sind, die das Problem von steigenden Mieten haben, von bezahlbarem Wohnraum und die angewiesen sind auf eine gute öffentliche Infrastruktur. Und da können wir nicht einfach sagen, es ist uns egal, wenn da noch mehr Konkurrenz entsteht, wenn dort noch mehr Leistungen überfordert werden. Es geht ja auch um Schulen. Es geht um Kitaplätze. Also, da kann man ja nicht einfach so arrogant sagen, das interessiert uns alles nicht, was da passiert.
    Steiner: Aber, Frau Wagenknecht, das sind alles Dinge, die Sie ja auch noch mal ansprechen wollen im Rahmen Ihrer Sammlungsbewegung. Uns läuft gerade ein bisschen die Zeit davon, auch wenn das sicherlich alles noch ganz spannend ist. Aber Ihre Sammlungsbewegung die soll jetzt im September starten, haben Sie gesagt, nach der Fußball-WM – nicht zuletzt, vielleicht auch mit einem kleinen Augenzwinkern. Zuletzt gab es einiges Hin und Her, um an die Öffentlichkeit geratene Zwischenstände. Geben Sie uns doch mal einen Hinweis. Wer außer Ihnen und Rudolf Dreßler wird denn jetzt tatsächlich bei Ihrer Sammlungsbewegung – wie auch immer sie heißt – denn dabei sein?
    Wagenknecht: Also, ich freue mich sehr, dass wir tatsächlich ganz, ganz interessante Leute, auch aus der aktiven SPD, haben. Wir haben Schriftsteller, wir haben Wissenschaftler. Und wir werden eine ganz bunte Mischung haben, denn es geht ja eben auch darum, ganz viele Menschen wenden sich von der etablierten Politik ab. Sie fühlen sich in ihren Interessen nicht mehr vertreten, gerade auch von der Regierung.
    Steiner: Und ist dann so eine Bewegung wirklich die richtige Antwort? Oder müsste man das dann nicht durch die Parteien entsprechend abdecken? Das, was dort nicht vertreten ist. Die AfD hat das ja durchaus, sagen wir mal, erfolgreich – wenn man auf die Wahlzahlen guckt, auf die Stimmzahlen guckt –, durchaus erfolgreich geschafft, das anzusprechen.
    Wagenknecht: Also, ich finde, wir brauchen eine parteiübergreifende Bewegung, die natürlich das Ziel hat, in den Parteien zu wirken. Also, am Ende wünsche ich mir natürlich, dass die SPD irgendwann sich mal durchringt zu einer Erneuerung, wie sie zum Beispiel die britische Labour Party vorgemacht hat. Natürlich wünsche ich mir auch, dass die Linke die Positionen verlässt, wo sie sich isoliert von den Abgehängten und von denen, denen es in dieser Gesellschaft nicht gut geht. Wir müssen auch als Linke darüber nachdenken: Warum kommen so wenige zu uns, die von der SPD enttäuscht sind? Also, natürlich ist das Ziel, auch Parteien zu verändern. Aber ich finde den Ansatz, gerade deshalb jetzt nicht die x-te Partei zu gründen … ich meine, es gibt genügend, auch Kleinparteien in Deutschland. Das ist nicht der Sinn der Sache, sondern es geht darum zusammenzuführen. Es gibt in der SPD ganz viele Leute, die unzufrieden sind – das merke ich ja jetzt auch an den Reaktionen, die wir haben – die sich eine andere Politik wünschen. Und natürlich auch in der Linken wünschen wir uns ja, dass wir auch stärker werden, weil am Ende muss es darum gehen: Wie bekommen wir wieder Mehrheiten für eine andere, nämlich eine sozialere Politik in Deutschland? Wenn man die …
    Steiner: Frau Wagenknecht, jetzt kommt der Parteitag relativ bald. Werden Sie dort die wiederantretenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wählen? Einfach nur ja oder nein – uns läuft die Zeit davon.
    Wagenknecht: Also, ich finde, die Aufgabe von Parteivorsitzenden ist zusammenzuführen und nicht zu polarisieren. Und es ist natürlich ein Problem und es hilft der Linken nicht, wenn es ständige Angriffe der Parteivorsitzenden auf die Fraktionsspitze gibt. Das würde ich mir wünschen, dass das aufhört.
    Steiner: Vielen Dank, Frau Wagenknecht. Das war das Interview der Woche mit Sahra Wagenknecht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.