Der Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die Diktatur und die Freiheit. Das – sagt Francesco Rosi – seien die Erfahrungen, die ihn als Mensch und Künstler ausmachten. Auf der Leinwand wird er sich immer wieder daran abarbeiten. Wie wurde sein Land, zu dem was es ist? Welche Rolle spielt der Faschismus dabei? Und wie frei kann eine Gesellschaft sein, wenn sie von der Mafia kontrolliert wird? Wenn man Francesco Rosis Klassiker aus den sechziger und siebziger Jahren ansieht, stellen sich diese Fragen nach wie vor, auch an das heutige Italien.
Dekonstruktion eines sizilianischen Volkshelden
„Wer erschoss Salvatore G.?“, der Film, der Francesco Rosi 1961 bekannt macht, ist eine Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte seines Landes. Er handelt vom Leben und Tod des in Volksliedern verherrlichten sizilianischen Banditen Salvatore Giuliano.
Die ersten Bilder zeigen den offenbar von mehreren Schüssen getöteten Kriminellen in einem Hinterhof. Was folgt, ist eine filmische Ermittlung – und die Dekonstruktion eines Mythos. Den von Legenden umrankten, angeblichen sizilianischen Robin Hood der vierziger Jahre zeigt der Film als skrupellosen Opportunisten. Francesco Rosi nähert sich Giulianos Geschichte vom Rande her: Er folgt einem Verbündeten des Verbrechers und legt die Verbindungen Giulianos zu separatistischen Politikern frei, zur korrupten Polizei, zur Mafia.
Zutiefst geprägt vom Neorealismus
Francesco Rosi, geboren am 15. November 1922 in Neapel, wird durch seinen Vater, einen Amateurfotografen, in die Welt der Bilder und des Bildermachens eingeführt. Auf Wunsch der Eltern beginnt er zunächst ein Jurastudium. Im Zweiten Weltkrieg wird er eingezogen und ist als Soldat in der Toskana im Einsatz. Nach Kriegsende zieht es ihn zum Film. Er wird Regieassistent bei Luchino Visconti, einem der Mitbegründer des italienischen Neorealismus. Rosi übernimmt den auf die soziale Wirklichkeit gerichteten Blick dieser Filmbewegung und verbindet ihn mit seinem Interesse für Politthriller, Gangster- und Kriminalfilme.
„Meine Generation von Regisseuren ist mit dem Neorealismus aufgewachsen. Das hat mich tief geprägt, und im Grunde genommen bin ich immer ein Neorealist geblieben. Visconti, Rossellini, de Sica – ich fühle mich als deren Schüler und Nachfolger.“
Rosi interessiert das System hinter dem Individuum
„Lucky Luciano“ mit Gian Maria Volonté in der Rolle des gleichnamigen italo-amerikanischen Gangsterbosses, „Die Macht und ihr Preis“ mit Lino Ventura als Inspektor, der ein Mordkomplott gegen unliebsame Richter aufdeckt, „Der Fall Mattei“ über den mysteriösen Tod eines italienischen Energiemanagers – stets interessiert sich Rosi für das System hinter dem Individuum, für die Kräfte und Mächte, die den einzelnen bewegen.
1979 dreht Francesco Rosi „Christus kam nur bis Eboli“ – nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Carlo Levi. Noch einmal entdeckt er sein Land mit der Kamera neu: Gian Maria Volonté spielt einen Arzt und Oppositionellen, der 1935 von den Faschisten in ein abgelegenes süditalienisches Dorf verbannt wird. Wie ein Gespenst durchwandelt er den Ort, dessen Bewohner durch ihn hindurchzublicken scheinen. Doch langsam geschieht eine Annäherung zwischen dem Fremden und der in elenden Verhältnissen lebenden Dorfbevölkerung.
Filmische Utopie einer Gesellschaft ohne Klassenschranken
Ein zutiefst humanistischer Blick, karg-poetische Landschaftsbilder, ein archaisches Lied. Francesco Rosi, der 2015 mit 92 Jahren in Rom starb, inszenierte eine filmische Utopie. Jenseits der faschistischen Gewaltherrschaft zeigt er Menschen, die Bildungs- und Klassenschranken überwinden, und ihre gegenseitige Fremdheit. „Christus kam nur bis Eboli“ bleibt ein moderner Film, ein italienischer Film der Hoffnung.