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Francesco Tristano
Musikalischer Revolutionär ohne Parolen

Dass die musikalischen Genregrenzen in Auflösung begriffen sind, glaubt Francesco Tristano ganz fest. Schließlich hat sich der Klassikpianist, Jazz- und Technomusiker selbst zwischen allen Schubladen und Stühlen seinen ganz eigenen Platz geschaffen. Nun hat Tristano zusammen mit der Klassikpianisten Alice Sara Ott ein neues Album veröffentlicht. Der Titel: "Scandale"

Von Marco Müller |
    Wer ihn live hören will, sollte schon genau aufpassen, wo und mit wem er spielt: Denn der gleiche Francesco Tristano, der heute in Köln mit dem Jazz –Trio: "Khalife, Tristano, Schumacher" auftritt, hat sich gestern in einem Konzertsaal in Köthen noch so angehört:
    (Hörbeispiel in der Audio-Datei)
    Oder am Tag davor als DJ mit Sampler in einem Club seines Wohnorts Barcelona so:
    (Hörbeispiel in der Audio-Datei)
    Morgen in Sardinien spielt er Technostücke – allerdings in einem Konzertsaal. Wie das zusammenpasst? Ganz einfach, meint der 33-Jährige:
    "Musik ist eigentlich, so wie ich denke, ein Kontinuum und alles ist miteinander verbunden. Diese Trennungen in Musikgenres empfinde ich als trivial und schlussendlich unwichtig. Das war jetzt vielleicht so, dass man im 20. Jahrhundert die Sachen getrennt hat und im 21. Jahrhundert eine Symbiose davon machen kann."
    Egal ob HipHop oder Electro: Für Tristano sind Genres Erfindungen der Musikindustrie und bereits Geschichte. Die Grenzen fallen – und wenn man einen Club-Klassiker von 1987 wie "Strings" von Techno-Urgestein Derrick May aus Detroit und Tristanos Klassikversion davon hört, kann man sich tatsächlich fragen, welcher Track besser grooved.
    "Warum kann elektronische Musik sich nicht inspirieren von Johann und Sebastian Bach und umgedreht? Ich habe selbst eigentlich nie die Vorstellung gehabt, dass man dem Publikum etwas servieren soll, was sie schon kennen oder vielleicht sogar schon verdaut haben. Das Publikum will auf jeden Fall etwas Neues hören."
    Neue Musik und Barrockklänge in Symbiose gebracht
    Während seines Klassik-Studiums zog das Klavier-Wunderkind aus Luxemburg in New York durch die Clubs. 2007 brachte Tristano dann mit Techno-Legende Carl Craig in Paris die erste Philharmonie zum Ausflippen. Gemeinsam mit Dub-Produzent Moritz von Oswald lässt er seitdem zum Beispiel Neue Musik und Barockklänge ineinander fließen, oder er spielt mit seiner Band "Aufgang" etwas, dass man vorsichtig als Feel-Good- Electric Jazz bezeichnen könnte. Immer neue Kollaborationen befeuern Tristanos Lust an Musik, die er gern live und improvisierend auf das Publikum überträgt.
    "Das Schönste ist eben diese Freiheit – die Freiheit der Bühne. Wir starten immer von Null – Soundcheck ist Basis – und dann ist "frei". Und wenn man sich dann selbst überrascht, schafft man es auch , das Publikum zu überraschen."
    Auch sein neues Werk "Scandale" ist eine Kollaboration mit einer Konzertpartnerin: Der Klassikpianisten Alice Sara Ott. In "A soft shell groove" beweisen beide, dass vier Hände auf den Tasten, Saiten und dem Holz zweier Flügel so viel Rhythmus erzeugen, dass Percussioninstrumente überflüssig sind. "Scandale" ist den musikalischen Skandalen vor 100 Jahren gewidmet, wo zum Beispiel Stravinskys Werk "Sacre du Printemps" unter den permanenten Buhrufen des Publikums den Rhythmus über die Melodie erhob.
    Francesco Tristano:
    "Musik hat die Fähigkeit, sich upzudaten, das heißt, wenn man ein Jahrhundert später die Partituren mal rausholt, ist es unmöglich, das Gleiche zu produzieren . Wir haben eine andere Gesellschaft, eine andere Welt. Mit Alice war es uns eben wichtig, uns mit dieser Erneuerungskraft der Musik zu beschäftigen."
    Alece Sara Otts und Francescos Tristanos Interpretation von "Sacre du printemps" lässt den Skandal von damals eine rhythmische Zeitreise ins 21. Jahrhundert machen – und öffnet so nicht nur die Ohren junger Hörer, sondern stellt so auch die Frage, warum heute nichts mehr ein Skandal ist. Tristano selbst ist allerdings ein musikalischer Revolutionär, der keine Skandale braucht, um neue Grenzen zu öffnen.