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Francis Fukuyama: Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik

In einer Woche wählt ein Teil der US-amerikanischen Bürger - mehr als die Hälfte geht dort erfahrungsgemäß schon gar nicht mehr zu den Wahlen - einen neuen oder den alten Präsidenten. Grund genug, uns heute mit Büchern zu befassen, die aus politischen Debatten in den USA entstanden sind. Zunächst möchte ich Ihnen die neuen Bücher zweier US-amerikanischer Professoren vorstellen, die auch bei uns in den vergangenen Jahren einige Beachtung gefunden haben: von Francis Fukuyama und Samuel P. Huntington ist die Rede. Der eine befasst sich jetzt mit dem Thema der Staatenbildung als Herausforderung internationaler Politik, der andere fragt: Wer sind wir? und sieht die 'amerikanische Identität’ durch Einwanderung bedroht. Außerdem stellen wir Ihnen eine kritische Bestandsaufnahme über die christlich-fundamentalistischen Bush-Unterstützer aus den USA vor. Und zum Schluss dann ein ganz anderes Thema: Es geht um die deutsche Wehrmacht und ihre vor den Militärgerichten verhandelten Sexualverbrechen im Zweiten Weltkrieg.

Von Hermann Theißen |
    Es ist gerade einmal zwölf Jahre her, dass Francis Fukuyama, Professor für Internationale politische Ökonomie in Washington, das Ende der Geschichte proklamierte. Mit dem Sieg des kapitalistischen Westens über den kommunistischen Erzfeind sah der Professor die Zeit globalen Heils am Horizont heraufziehen. Seither lässt sich aber leider auch aus Washington kaum noch übersehen, dass für den größeren Teil der Menschheit die Geschichte weitergehen wird, dass allerhand Übel es kaum zulassen, dass sich westliche Politiker, allen voran die der Führungsmacht USA, auf die faule Haut legen. Professor Fukuyama empfiehlt nun angesichts von anhaltender Armut, internationalem Terror, der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln, von Drogenhandel und Aids, das Augenmerk auf die Bildung stabiler Staaten vornehmlich in der so genannten. Dritten Welt zu legen. Eine Anschauung, die sich George W. Bush mit seiner erklärten Absicht, z.B. den ganzen Nahen Osten in eine wirtschaftliche prosperierende Zone mit demokratischer Verwaltung verwandeln zu wollen, offenbar schon vorbeugend zu Herzen genommen hat. Hermann Theißen hat Fukuyamas neues Buch: 'Staaten bauen’ für uns gelesen.

    In Afghanistan ist Anfang Oktober der nach einem "Vorschlag" der Besatzungsmächte inthronisierte Staatspräsident Hamid Karsai in eher weniger als mehr demokratischen Wahlen bestätigt worden. Das hat die Warlords bislang nicht davon abgehalten, Entscheidungen der Kabuler Zentralregierung zu ignorieren, in ihren Duodezfürstentümern nach Belieben Steuern und Abgaben zu erheben oder die Opiumproduktion zwecks Finanzierung ihrer Privatarmeen zu intensivieren. Auch im Kosovo ändern die jüngsten Parlamentswahlen nichts am ungeklärten Status dieses UN-Protektorats, und die politischen und wirtschaftlichen Eliten werden sich wohl auch weiterhin mehr vom Hass gegen die jeweils andere Ethnie oder gegen konkurrierende Clans versprechen als vom Aufbau demokratischer Strukturen oder von einer Kultur des Ausgleichs. Und wenn tatsächlich im Januar im Irak ein Urnengang stattfinden sollte, dann bedarf es schon der Blindheit und Taubheit der "drei Affen", daraus einen großen Schritt in Richtung Demokratie und Stabilität zu destillieren.

    Die "drei Affen" aus dem Sprichwort sind immerhin so klug, nicht zu reden, die neuen Interventionisten und ihre Berater hingegen orchestrieren ihre Militärschläge mit Versprechungen, die jeweils und absehbar an der Realität scheitern. Den Krieg gegen den Irak etwa hatte die Bush-Administration mit der Vision verknüpft, an Euphrat und Tigris einen Musterstaat für den Nahen Osten zu etablieren. Vor diesem Hintergrund klingt es durchaus einsichtig, wenn Francis Fukuyama sein jüngstes Buch so einleitet:

    Ich behaupte, dass wir zwar eine Menge über den Aufbau von Staaten wissen, noch viel mehr aber nicht, und insbesondere nicht, wie man Entwicklungsländern zu tatkräftigen Institutionen verhilft. Wir wissen, wie man Ressourcen über internationale Grenzen hinweg transferiert, aber gut funktionierende öffentliche Einrichtungen arbeiten komplex und bedürfen einer gewissen Geisteshaltung, was sich ihrem Export widersetzt. Wir müssen dieser Aufgabe viel mehr Aufmerksamkeit widmen, gründlicher darüber nachdenken und sie eingehender erforschen.

    So weit, so gut. Skepsis erwächst allerdings aus der Tatsache, dass Fukuyama bislang eher als Meister pointierter Sprüche denn als gründlich denkender oder eingehend forschender Zeitgenosse aufgefallen ist. Als mit dem Sozialismus auch die Marxsche Verheißung von der klassenlosen Gesellschaft zu Grabe getragen wurde, mutierte der US-Amerikaner vom "kleinen Ökonomen" zum "großen Philosophen": Das glückliche Ende der Geschichte sei bereits erreicht, der Kampf der Ideologien abgeschlossen, verkündete der bis dahin ziemlich unbekannte Mitarbeiter des US-Außenministeriums und fügte seherisch hinzu, die Zukunft gehöre einzig und allein dem globalen Kapitalismus und liberal demokratischen Nationalstaaten. Alle anderen Gesellschaftsmodelle seien widerlegt, neue Entwürfe nicht denkbar. Fukuyama wurde ob dieser simplen Endzeitphilosophie verspottet, erhielt aber auch Beifall. Am lautesten applaudierten die Neoliberalen. Die Dogmatiker des "laisser faire" fanden in dem Geschichtsdeuter einen Mitstreiter, der ihre kalten ökonomischen Theorien und Therapien mit populärer Philosophie adelte. Der globale Kapitalismus, verhieß Fukuyama, entfalte seine das ganze Erdenrund mit Wachstum und Wohlstand beglückende Kraft aufs Schönste, wenn er weder durch Gesetze, Zölle noch durch staatliche Regulierung gestört werde. Regierungen dienen in dieser Logik dem Allgemeinwohl dann am besten, wenn sie den Märkten das Feld überlassen. Privatisierung, Deregulierung und Rückzug des Staates hieß die Zauberformel der neuen finalen Geschichtsutopie. Das war vor etwa fünfzehn Jahren. Heute will Fukuyama sich nicht mehr an sein Geschwätz von damals erinnern. Als hätte er mit der von Weltbank, IWF und US-Regierung zum Dogma erhobenen Politik der Entstaatlichung nie etwas zu tun gehabt, propagiert er heute den starken Staat.

    Die Vorstellung, dass Staaten zu bauen an der Spitze unserer Agenda steht und nicht etwa das Zurückfahren des Staates, mag manchen Menschen widersinnig vorkommen. Für die letzte Generation waren schließlich die Kritik an "zu viel Staat" und der Versuch, Aktivitäten aus dem staatlichen Sektor auf den freien Markt oder in die Zivilgesellschaft zu verlagern, die vorherrschenden Trends der Weltpolitik. Aber vor allem in Entwicklungsländern sind schwache, unfähige oder nicht vorhandene Regierungen Ursache schwerwiegender Missstände.

    Mal abgesehen davon, dass die weitsichtigeren Vertreter der von Fukuyama so apostrophierten "letzten Generation" vor ungebremstem Privatisierungs- und Deregulierungswahn gewarnt haben, hängt er mit seiner Erkenntnis auch den eigenen Glaubensbrüdern hinterher. Milton Friedman, der Papst der Neoliberalen, hatte bereits 2001 einen seiner vielen Irrtümer gestanden. Noch ein Jahr zuvor, erklärte er damals in einem Interview, hätte er den postsozialistischen Ländern dreierlei geraten:

    Privatisieren, privatisieren, privatisieren! Aber ich hatte Unrecht. Es hat sich gezeigt, dass Rechtsstaatlichkeit wahrscheinlich wichtiger ist als Privatisierung.

    Rechtsstaatlichkeit oder gar die Legitimität staatlichen Handelns stehen allerdings nicht im Mittelpunkt von Fukuyamas Überlegungen. Er präsentiert eine Hierarchie staatlicher Aufgaben und orientiert sich dabei an Vorgaben der Weltbank. Verteidigung, Recht und Ordnung sowie Eigentumsschutz stehen ganz oben, Sozialpolitik rangiert unter ferner liefen, eine Garantie von Partizipationsrechten sucht man vergeblich. Max Webers Staatstheorie verkürzt Fukuyama in Wild-West-Manier:

    Der Kern der Staatlichkeit ist die Fähigkeit zur Vollstreckung, jemanden in einer Uniform und mit einer Waffe loszuschicken, damit er Leute dazu bringt, die Gesetze einzuhalten.

    Kein Wunder, dass einer, der so denkt, die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Strukturen und Organisationen oder gar die Bereitstellung von politischen Beteiligungsmöglichkeiten beim Projekt "Staaten bilden" gar nicht erst in den Blick bekommt. Fukuyama diskutiert stattdessen mit großem Aufwand und geringem Ertrag die Vor- und Nachteile von Föderalismus und Zentralismus, konstatiert die marginale Praxistauglichkeit organisationstheoretischer Modelle, stößt auf die banale Erkenntnis, dass dem Transfer von kulturellen Werten enge Grenzen gesetzt sind und gelangt schließlich zu dem Ergebnis:

    Das Feld der öffentlichen Verwaltung ist eher eine Kunst, denn eine Wissenschaft.

    Und Kunst wird schließlich nach anderen und weniger strengen, vor allem nicht unbedingt rational nachprüfbaren Kriterien beurteilt als Wissenschaft oder Politik. Darauf scheint es dem "Staatenbilder" vor allem anzukommen: den militärischen Interventionismus von rationalen oder gar legalen Begründungszusammenhängen zu befreien. In praktische Politik umsetzbare Hinweise darauf, wie denn das schwierige Geschäft von "nation" oder "state-building" zu bewerkstelligen sei, sucht man in seinem Buch vergeblich. Fukuyama hat das Konzept von der "manifest destiny" internalisiert, ist also von der amerikanischen Sendung für die Welt überzeugt, was ihn zu erstaunlichen Fehlurteilen verleitet, etwa wenn er feststellt, ein Großteil der übrigen Welt sei ausgerechnet auf das amerikanische Rechtssystem neidisch. Folgenschwerer ist allerdings, dass er aus dieser Sendung und aus der Unzulänglichkeit normierter Interventionsordnungen ein an keinerlei Regeln gebundenes Recht der einzig verbliebenen Großmacht zum Krieg glaubt ableiten zu können. Damit liegt er auf der Linie von US-Präsident Bush, und wie dessen Beraterstab mokiert er sich über die Europäer, die immer noch glaubten, auch die internationale Politik müsse sich an "Gesetze, Normen und internationale Vereinbarungen" halten. Mit Phrasen, wie Fukuyama sie in seinem Buch präsentiert, kann man schlichte Gemüter erfreuen, die keinen Zweifel daran haben, dass die US-amerikanische Welt die beste aller Welten sei, einen Hinweis darauf, wie man beim schwierigen Projekt "state building" die desaströsen Fehler der aktuellen Versuche vermeiden könnte, findet man in diesem Buch nicht. Mit Beratern wie Fukuyama oder Hardlinern vom Kaliber eines Robert Kagan, den ersterer zustimmend zitiert, ist nun mal kein Staat zu machen.

    Hermann Theißen war das über 'Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik’ von Francis Fukuyama. Das Buch, übersetzt von Hartmut Schickert, ist im Propyläen Verlag erschienen, hat 191 Seiten und kostet 20 Euro.