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Francis Nenik: "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert"
Ein Held zweiter Klasse

Akribisch recherchiert und mit jeder Menge sprachlichem Übermut erzählt Francis Nenik in seinem Roman das irrwitzige Leben des lange vergessenen Antifaschisten, DDR-Wirtschaftsfunktionärs und Schriftstellers Hasso Grabner. Eine Groteske der Geschichte.

Von Nils Kahlefendt |
    Buchcover: Francis Nenik: "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert. Das irrwitzige Leben des Hasso Grabner"
    Hasso Grabner - vom DDR-Rundfunkintendanten zum Chef der Eisenhütten-Industrie (Buchcover: Verlag Volant & Quist, Foto: picture alliance / dpa / Zentralbild)
    Die doppelte Buchführung, bei der jeder Geschäftsvorgang zeitgleich in Soll und Haben erfasst wird, trat ihren Siegeszug in Europa 1494 mit einem Werk des Franziskanerpaters Luca Pacioli an. Dass sich die Technik der Finanzbuchhaltung auch literarisch fruchtbar machen lässt, bewies Francis Nenik mit seinem 2012 mit dem EDIT-Essaypreis ausgezeichneten Text "Vom Wunder der doppelten Biografieführung". Ein äquilibristisches Kabinettstück, in dem Nenik die Biografien zweier vergessener Dichter – des Tschechen Ivan Blatný und des Briten Nicholas Moore – auf weißen und schwarzen Buchseiten neben einander stellt. Rückblickend mutet der 2016 im Band "Doppelte Biografieführung" erschienene Essay wie eine Fingerübung für das umfangreichste Stück jenes Buchs an, damals lapidar betitelt mit "Geschichte als Groteske: Grabner". Bereits in den ersten Sätzen zeigt sich Neniks literarisches Verfahren: Er schlägt seine Funken aus der Kombination von detektivischer, geradezu versessener Archivarbeit und einer unstillbaren, artistischen Lust an der Sprache.
    "Der 21. Oktober 1911 ist nicht gerade ein weltgeschichtlicher Ausreißer. In Österreich heiratet der Erzherzog eine Prinzessin, und der örtliche Kaiser gibt einen lustigen Trinkspruch zum Besten. In Utica/USA entleeren ein riesiger Mississippi-Farmer und der schmächtige Angestellte eines Wanderzirkus den Inhalt ihrer Revolver in den Körper eines Löwen, der eine zwölfjährige Dompteuse im Maul hält, und in Leipzig wird ein Junge geboren, der auf den Namen Hasso hört und später angibt, von seinem Vater nicht das Geringste zu wissen."
    Peter Weiss, revisited
    Für Nenik ist Hasso Grabner, dieser "Held zweiter Klasse", der, auf den Bruchkanten der Ereignisse stehend, in die Abgründe des Jahrhunderts geblickt hat, eine Ideal-Besetzung: Wirkt er nicht wie eine Figur aus Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands", der bildungshungrige Jungkommunist mit der Nickelbrille, der nach der Machtergreifung der Nazis in den Untergrund geht, wie einst Karl May im Zuchthaus Waldheim einsitzt, das KZ Buchenwald und die Strafkompanie überlebt, und Anfang 1945 noch mit Nahkampfspange und Eisernem Kreuz dekoriert wird? Wer es gewohnt ist, die DDR nur vor dem Hintergrund ihres Verschwindens zu sehen, reibt sich die Augen ob der Euphorie des Neuanfangs nach dem Krieg: Im Frühjahr 1946 macht die SED Hasso Grabner, den gelernten Buchhändler und Hans-Dampf-in-allen-Gassen, in einer Riesenruine namens Dresden zum Intendanten des Mitteldeutschen Rundfunks:
    "Die ausgebombten Dresdner mit den kaputten Radios werden in den Sender eingeladen, die Empfangsprobleme von den hauseigenen Technikern gelöst und die derart Beglückten gebeten, ihre Rechnung (zwecks Erweiterung des Programmes um eine lokale Komponente) direkt live vor Ort zu bezahlen. ‚Frau Maria Paudler’, heißt es zum Beispiel, ‚sang vor dem Mikro für die Reparatur ihres Rundfunkgeräts.’"
    Geschichte, sprich!
    In Zeiten schlanker Etats wäre so etwas womöglich wieder gefragt; den Sowjets muss der Mann suspekt erscheinen: Nach genau 49 Tagen ist Grabners Karriere beim MDR vorbei. Wie gut, dass Industrie-Minister Fritz Selbmann einst mit Grabner in Waldheim einsaß – was der Raum-Zeit namens Geschichte höchstpersönlich Anlass für ein weiteres kleines Zauberkunststück bietet:
    "‚Du bist von jetzt an Fritzes rechte Hand’, sagt die Geschichte, ‚abgestellt für die Überwachung der Durchführung der SMAD-Befehle 124 und 126.’
    ‚Die Konfiszierung der Nazivermögen?’, fragt Hasso Grabner, ob der plötzlichen Versetzung noch ein wenig verwirrt.
    ‚Ganz recht, die Nazivermögen’, sagt die Geschichte, ‚Konfiszierung, Sequestrierung, Expropriierung.’
    ‚Expropriation’, verbessert Hasso Grabner, ‚ich hab in Waldheim schließlich nicht umsonst Lateinisch gelernt.’"
    Gastarbeiter für die "Pompa Negra"
    Einen Monat später ist auch das vorbei. Grabner, der noch nie ein Stahlwerk von innen gesehen hat, wird Chef der ostdeutschen Eisenhütten-Industrie. Doch einem Freigeist, der als Aufbauleiter des Kombinats "Schwarze Pumpe" schon mal italienische Gastarbeiter aus der Bundesrepublik in die "Pompa Negra" lotst, ist nicht zu trauen. Grabner wird zum Hilfsarbeiter degradiert und greift zur Feder. Parallel zum literarischen Werk wächst die Stasi-Opferakte "Karrierist". Obwohl das Gros seiner Bücher im Ostberliner Militärverlag erscheint – auch der Verlagsleiter war Waldheimer Zellenkumpel - stirbt er 1976 als ideologisch Geächteter. Hasso Grabner, der Chronist einer Groteske namens Geschichte, ist bis zuletzt immer genau dort, wo diese Groteske gemacht wird.
    "Aber dann und wann überkommt es ihn. Dann dürfen die Damen während der Arbeit zum Friseur, die Männer in den Westen und der geordnete Lauf der Dinge seinen eigenen Weg gehen, wobei es generell den Eindruck hat, als halte der Genosse Grabner Dienstwege für nichts anderes als Reisebeschreibungen von Sesselfurzern."
    "Es ist schwer, nicht einen Roman zu schreiben", notierte Siegfried Unseld einmal nach einer Reise zu seinem Autor Thomas Bernhard. Mit Sinn fürs scheinbar Abseitige, akribischer Recherche und einer gehörigen Portion sprachlichem Übermut gelingt Francis Nenik das Kunststück, aus dem Lebenslauf eines zu Unrecht Vergessenen eine Art Mikrogeschichte des irrwitzigen 20. Jahrhunderts selbst zu destillieren. Nicht wenig in Zeiten, da der Roman noch immer als künstlerischer Königsweg gilt, die komplexe Gegenwart dingfest zu machen.
    Francis Nenik: "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert. Das irrwitzige Leben des Hasso Grabner"
    Verlag Voland & Quist, Leipzig. 192 Seiten mit Audio-CD, eingelesen von Marcel Beyer, 19 Euro.