Archiv

Film-Premiere 1983 in Ost-Berlin
"Der Aufenthalt" - als "antipolnisches Machwerk" gescholten

1980 drehte der Regisseur Frank Beyer in der DDR seinen Film „Der Aufenthalt“ über einen deutschen Kriegsgefangenen in Polen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Einwände aus Warschau verhinderten eine Teilnahme des Films bei der Berlinale.

Von Katja Nicodemus |
Das Kino International
Das Kino International in Berlin (Archivfoto aus dem Jahr 1992). Hier feierte Frank Beyers „Der Aufenthalt“ 1983 Premiere (picture-alliance / ZB / Hubert Link)
Ein Bahnhof in Warschau kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Eine Polin erblickt eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener. Sie läuft los, zeigt auf einen von ihnen, alarmiert einen Bewacher. So beginnt der Film „Der Aufenthalt“, 1983 entstanden nach dem gleichnamigen Roman des DDR-Schriftstellers Hermann Kant.

Wir verstehen nicht, was die Frau sagt, aber wir sehen, dass ihre Worte einen jungen deutschen Soldaten ins Gefängnis bringen: „Jacke aus, Hose aus!“

Die erste Filmrolle für Theaterschauspieler Sylvester Groth

Der Deutsche wird beschuldigt, als Mitglied der SS eine Frau erschossen zu haben. Seinen Unschuldsbeteuerungen wird von den Soldaten, die ihn verhören, kein Glauben geschenkt. Der Kriegsgefangene - die erste Filmrolle des jungen Theaterschauspielers Sylvester Groth - wird gefragt:
„Nochmal von vorne. Wer bist du? Wann warst du in Lublin?“ / „Ich war nicht in Lublin.“

DDR-Film-Renegat Frank Beyer

In der Entstehungsgeschichte des Films fließen subversive DDR-Künstlerbiografien zusammen: „Der Aufenthalt“ ist nach längerer Zeit wieder eine Kinoarbeit des Regisseurs Frank Beyer. 1966 drehte er den wegen seiner kritischen Haltung zur DDR verbotenen Film „Spur der Steine“, zehn Jahre später fiel er wegen seines Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung in Ungnade bei der SED.

Hermann Kant verarbeitet seine Erlebnisse als junger Soldat

Das Drehbuch zu „Der Aufenthalt“ schreibt Wolfgang Kohlhaase. Auch er hat bereits DDR-Kinogeschichte geschrieben, mit Filmen wie „Berlin Ecke Schönhauser“, „Ich war neunzehn“ oder auch „Solo Sunny“. Kohlhaase erinnert sich an einen Besuch in Warschau, bei dem ihm der Schriftsteller Hermann Kant seine Erlebnisse als junger Soldat erzählt, die dieser zu dem Roman „Der Aufenthalt“ verarbeitet.
„Wir gingen zwei Tage spazieren, hatten irgendwelche Dinge zu erledigen, die mit dem Schriftstellerverband zu tun hatten, und plötzlich zeigte er mir ein Gefängnis und sagte: ‚Da war ich drin, zwei Jahre‘. Und erzählte mir diese unglaubliche Geschichte und hat dann einige Jahre später diesen Roman geschrieben.“
Wolfgang Kohlhaase verdichtet Hermann Kants Roman zu einem schlanken, nüchternen Drehbuch. Es konzentriert sich auf den Gefängnisaufenthalt des jungen Soldaten, der in einer Gruppenzelle auf andere deutsche Kriegsgefangene trifft. Selbst in der Haft versuchen die Deutschen, die militärische Hierarchie aufrechtzuerhalten:
„Auch Sie sind Soldat und haben die erforderliche Disziplin einer Notgemeinschaft zu wahren.“

Keiner der Männer hat ein Schuldbewusstsein

In der Zelle befinden sich hochrangige SS-Mitglieder; Wehrmachtsangehörige, die mit sogenannten Gas-LKW Tausende Menschen ermordeten; ein Soldat, der in Auschwitz eingesetzt war; ein Kommandeur, der den Befehl zur Erschießung von zivilen Geiseln erteilte. Keiner der Männer hat Schuldbewusstsein, alle beziehen sich auf Befehle, Zwangssituationen. Sylvester Groths Soldat beginnt, sich von seinen Mithäftlingen zu isolieren. Und er hinterfragt ihre Ausflüchte: „Und dürfen Geiseln erschossen werden?“
„Ja, denn wenn man nicht bereit ist, sie zu erschießen, dann darf man sie gar nicht erst nehmen.“ / „Auch wenn sie selbst nichts getan haben?“

Frank Beyer kratzt am antifaschistischen Mythos der DDR

Es wird klar, dass der junge Deutsche kein SS-Mann, sondern Opfer einer Verwechslung ist. Doch der Soldat begreift, dass die Frage nach seiner individuellen Schuld oder Unschuld in den Hintergrund tritt angesichts der Kollektivschuld der Deutschen. Damit kratzt Frank Beyers Film am antifaschistischen Mythos der DDR. Dennoch bekommt „Der Aufenthalt“ die offizielle Erlaubnis, am Wettbewerb der Berlinale teilzunehmen. Zuvor, am 20. Januar 1983, findet die Ostberliner Premiere im Kino International statt. Zu einer Vorabsichtung, so Wolfgang Kohlhaase, wird der polnische Botschafter eingeladen.
„Der Botschafter kam aber nicht selbst, sondern schickte seinen Militärattaché, und der Militärattaché hatte nach zwanzig Minuten alles gesehen, was er brauchte, um diesen Film für ein antipolnisches Machwerk zu halten.“

Ein legendärer Schlusssatz

Das angebliche „Machwerk“ über einen zu Unrecht inhaftierten und schikanierten jungen deutschen Soldaten wurde aus der Berlinale zurückgezogen. Zunächst durfte der Film nur in der DDR laufen – wo ihn mehr als 600.000 Menschen sahen. Dass „Der Aufenthalt“ zu einem großen Film wurde, liegt auch an dem Schlusssatz, den der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase dem Roman hinzufügte. Bei der Entlassung des Deutschen kommt er aus dem Mund eines jungen polnischen Soldaten:„Sie werden nicht erwarten, dass wir uns entschuldigen.“