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Frankfurter Buchmesse 2018
Die Schoah als künstlerische DNA

Eine Souffleuse, die ihre verschollenen jüdischen Angehörigen sucht und eine vom Theater besessene Regisseurin: Adriana Altaras erklärt, warum das Leben die besten Geschichten schreibt, und warum sie in ihrem künstlerischen Schaffen immer wieder auf die Schoah zu sprechen kommt.

Adriana Altaras im Gespräch mit Tanya Lieske |
    Adriana Altaras im Gespräch auf der DLF-Buchmessenbühne
    Schauspielerin, Theaterregisseurin und Autorin: Adriana Altaras im Gespräch auf der Messebühne des Dlf (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
    Seit ihrem Debüt "Titos Brille" aus dem Jahr 2011 ist Adriana Altaras eine Autorin, die in Deutschland viele Leser findet. In ihrem Romanwerk ist sie mit dem Klarnamen Adriana unterwegs und sie erklärt meist gleich am Anfang, dass sie Jüdin ist: "Ich bin jemand, der Privates und Öffentliches nicht trennt", erklärt Adriana Altaras. "Ich versuche, in Vorleistung zu gehen und hoffe, dass der Leser dann auch über sich nachdenkt."
    In den Erzählungen aus ihrem Leben spürt Adriana Altaras, die 1960 in Zagreb als Tochter jüdischer Partisanen geboren wurde, die unglaublichsten Geschichten auf. Wie die der jüdischen Souffleuse Sissele, die ihre seit der Schoah verschollen Angehörigen sucht, und die sich mit Adriana auf den Weg macht, um ihren Cousin zu finden."Die zweite und dritte Generation nach der Schoah braucht diese Geschichten, um sich ein bisschen zu trösten", sagte Adriana Altaras dazu beim Gespräch auf der Messebühne des Deutschlandfunks.
    Das Interview in voller Länge:
    Tanya Lieske: Adriana Altaras, wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, zu schreiben?
    Adriana Altaras: Ich wäre alleine gar nicht auf die Idee gekommen, aber Helge Malchow, der Kiepenheuer-Verleger, hat mir einen Brief geschrieben und hat gesagt, na, wie wäre es denn, wie wäre es denn, und immer wieder insistiert, und irgendwann habe ich es probiert und es hat funktioniert.
    Lieske: Ihr neuer Roman ist Ihr vierter, er heißt "Die jüdische Souffleuse". Ich möchte aber erst noch mal kurz bei den Anfängen bleiben, bei "Titus Brille" von 2011, ein Roman, der eine familiäre Spurensuche für Sie bedeutete. Sie sind 1960 in Zagreb geborgen, und Ihre Eltern waren jüdische Partisanen, die gegen Hitler gekämpft haben. Darüber hinaus waren die Eltern überzeugte Kommunisten, die später ins Fadenkreuz des Tito-Regimes gekommen sind. Das sind jetzt zwei richtig große Erzählstoffe, zwei richtig große Narrative, und normalerweise reicht eigentlich eines schon aus, um viel in Familien auszulösen. Was haben denn diese beiden großen Erzählungen mit Ihnen gemacht auf Ihrem Weg?
    Altaras: Ich bin natürlich selber keine Partisanin, aber es ist ja schon etwas, ob die Eltern Opfer waren in der Schoah oder ob sie die Chance hatten, Partisanen zu sein. Also ich glaube, dass dieser Widerstandsgeist, den die hatten, sich auf mich vererbt hat, und außerdem hat mich das interessiert, etwas über Kroatien zu erzählen, über die Partisanen, denn in Deutschland weiß man sehr, sehr wenig, dass es auch Juden gab, die sich gewehrt haben und nicht nur Opfer waren. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Bestandteil einer Geschichte.
    Lieske: Eine Erzählung, die beispielsweise auch dem verstorbenen Historiker Arno Lustiger sehr wichtig war.
    Altaras: Ein ganz toller Mann, den ich kannte, und das war ihm auch wichtig, und das ist ein Aspekt, den hervorzuheben ich nicht aufhören kann.
    Lieske: Genau. Sie hatten das Glück, das nun direkt in Ihrer Familie nachzuverfolgen, und in diesem Roman "Titos Brille" steht dazu ein für mich sehr spannender Satz, nämlich: "Jede Familie hat gleichermaßen viele Geschichten wie Geheimnisse. Die Geschichten muss man sich unentwegt anhören, damit die Geheimnisse im Dunkeln bleiben." Was haben Sie damit gemeint?
    Altaras: Also erstmal ist das ja nicht nur ein jüdisches Problem, das mit den Geheimnissen. Also ich glaube, das ist in allen Familien so. Es gibt immer die Anekdoten, die immer erzählt werden, und wenn man dann bei denen bleibt, ist alles in Ordnung. Wenn man da aber tiefer reinbohrt, dann entwickeln sich die wahren Geschichten, also wer hat wirklich wen verletzt, wer war in wen verliebt, wer hat mit wem Kinder und so weiter und so weiter. Das war in dem Falle meiner Familie auch so.
    Lieske: Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass nach der Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien Ihre Eltern in Gießen ansässig geworden sind.
    Altaras: Ja, Weltstadt Gießen.
    Lieske: Weltstadt Gießen, genau, und dort sind noch gleich zwei neue und ebenfalls große Erzählungen dazugekommen, nämlich der Aufbau der jüdischen Gemeinde, und damit ist ausdrücklich auch gemeint die Versöhnung mit Deutschland und den Deutschen. Wenn Sie von Ihren Eltern sprechen, Frau Altaras, dann fällt oft das Wort Dibbuk. Was meinen Sie denn damit?
    Altaras: Dibbuk ist die Seele eines Toten, der in einen Lebenden schlüpft. Nach der alten Kabbala ist das so eine Sage, also die Mär des Dibbuks. Ich habe diesen Begriff benutzt, weil ich glaube, dass für viele Juden die Toten sehr wesentlich sind, weil wir viele Tote zu vermelden haben, die aber in den Familiensagen, Sagas, eine wichtige Rolle spielen, und man ist in Kontakt mit all den verstorbenen Vettern, Tanten, die man nicht kennengelernt hat, über die weiß man doch so viel. Ich habe meine verstorbenen Eltern gleich mit mir reden lassen als Dibbuks.
    Lieske: Auf "Titos Brille" folgte "Deutscher", ein Roman, in dem Sie ganz viel von Ihrer eigenen Familie jetzt erzählen, und in Ihrem dritten Roman kommt ein großer Freundeskreis zu Wort. Wir sind damit schon beim vierten Buch, "Die jüdische Souffleuse", ein Roman, in dem es ganz viel um Ihren ersten und eigentlich und Hauptberuf geht, nämlich um das Theater. In den meisten dieser Bücher, Frau Altaras, ist die Erzählerin mit Klarnamen Adriana unterwegs. Warum ist das so, warum ist Ihnen das wichtig?
    Altaras: Ich bin ja jemand, der Privates und Öffentliches nicht wirklich trennt, oder sagen wir mal, ich gehe von mir aus, ich spiele aber mit der Figur Adriana. Das bin zwar ich, aber es sind auch noch viele andere Figuren, die da drin sind, also mein Alter Ego würde man so das vielleicht benennen, und ich versuche in Vorleistung zu gehen. Also ich erzähle relativ viel, in der Hoffnung, dass dann der Leser auch von sich erzählt beziehungsweise über sich nachdenkt, und das funktioniert so ganz gut. Also wenn ich relativ offen die Karten ausbreite, denn breiten die Leser sie auch bei sich aus. Dann schauen die auch in ihr Inneres.
    Lieske: Sie denken an ein Gespräch mit dem Leser, mit der Leserin.
    Altaras: Ja, es ist ein bisschen wie ein Zwiegespräch mit dem Leser, ja.
    Lieske: Meistens schieben Sie auch ziemlich schnell hinterher, ich bin Jüdin. Warum ist Ihnen das wichtig, es noch mal explizit zu sagen und es früh zu sagen?
    Altaras: Ich glaube, dass der Begriff Jüdischkeit, Judentum in Deutschland immer noch voller Scham und Schuld und weiß nicht was besetzt ist. Ich denke, wenn man das auf den ersten zwei Seiten mal erledigt hat, kann man in Ruhe das Buch lesen.
    Lieske: Frau Altaras, in "Die jüdische Souffleuse" verbinden sich zwei Themen, von denen man meinen sollte, dass sie gar nicht so viel miteinander zu tun haben, nämlich die Schoah, also das größte Entsetzen, und die Kunst, alles, was schön ist, das Erzählen und das Theater. Bevor wir weiter in das Buch einsteigen, gebe ich Ihnen jetzt erst mal das Wort. Sie lesen Ihren Prolog aus "Die jüdische Souffleuse".
    Altaras: Gerne. "Ich will mich nicht beklagen, aber wo immer ich mich gerade aufhalte, fangen die Menschen an, mir ihre Geschichten zu erzählen. Es spielt keine Rolle, ob es regnet, ich mit vollen Einkaufstüten versuche, mein geparktes Auto zu erreichen oder wie eine Irre renne, um das Flugzeug zu erwischen. Sie stellen sich mir fröhlich in den Weg, beginnen zu erzählen. Irgendwo habe ich mal gesagt, ich sei eine Chronistin unserer Zeit oder ich wäre gerne eine oder irgendwas Ähnliches. Das hat sich herumgesprochen, jetzt bekomme ich Geschichten, ob ich will oder nicht. Ich habe gelesen, im New Yorker Büro meines Idols Isaac Bashevis Singer seien täglich junge und alte Frauen oder Männer hereinspaziert und hätten Ungeheuerliches auf Jiddisch berichtet, denn die meisten waren kürzlich aus dem Städtl ausgewandert wie er. Ein Mann hatte sich auf der langen Überfahrt verliebt, aber ein Dibbuk hatte ihm die Braut gestohlen. Eine Frau hatte ihre Handtasche verloren, dann ihren Hut, ihre Schuhe, ihren Mantel und schließlich sich selbst. Ich las die Berichte dieser gebeutelten Menschenkinder, die oft, aber nicht zwangsläufig unglücklich endeten, und fragte mich, ist Bashevis ein genialer Erfinder oder haben ihm alle, wirklich alle ihre Lebensgeschichten erzählt? Inzwischen glaube ich, alles ist wahr. Er hat nur die Namen geändert wegen der drohenden Klagen und der Anwälte, die es damals schon im Überfluss in New York gab. Ansonsten hat er bloß aufgeschrieben, was man ihm erzählte, und je ehrlicher er war desto absurder klangen seine Erzählungen. Womit wir an einem heiklen Punkt wären, denn bei mir läuft das so: Wenn ich mich beim Schreiben bis ins kleinste Detail an die Wahrheit halte, nicht einen Funken hinzudichte, sind meine Leser überzeugt, ich würde fantasieren. Wenn ich etwas hinzuerfinde, zucken sie nicht mit der Wimper und halten es für die reine Wahrheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich das, was ich schreibe, soeben passiert ist oder ob es sich um Geschichten aus der vergangenen Welt handelt, ob meine Protagonistinnen in einem ICE, in der Kantine des Opernhauses oder als Überlebende der Schoah um Mitternacht neben mir in einer Talkrunde sitzen. Je ehrlicher ich ihre Berichte wiedergebe desto weniger glaubt mir jemand. Sobald ich das eine oder andere oder sogar alles erfinde, sind meine Leser überzeugt, so, nur so könne die Wahrheit sein. Deshalb habe ich beschlossen, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Opern zu inszenieren ist zum Beispiel sehr ehrenwert. Ich muss allerdings eine letzte Ausnahme machen. Mein Freund Robbie hat mich darum gebeten, er lebt in Israel und hat schon so ziemlich alles erlebt, aber etwas wie diese Geschichte noch nie. Ihm zuliebe mache ich eine aller-, allerletzte Ausnahme."
    Lieske: Adriana Altaras mit dem Prolog aus Ihrem neuen Roman "Die jüdische Souffleuse". Sie wundern sich, dass die Menschen mit ihren Geschichten zu Ihnen kommen, Frau Altaras. Haben Sie dafür gar keine Erklärung?
    Altaras: Doch, das hat ja auch damit zu tun, dass ich von mir so erzähle und sie ja auch einlade, mir ihre Geschichten zu erzählen, und mich interessieren die wirklich. Also ich finde, es gibt kaum etwas Überraschenderes als die Lebensgeschichten der einzelnen Menschen.
    Lieske: Ihr neues Buch spielt am Theater. Das Theater ist ganz wichtig, also auch Ihr Leben in der Jetztzeit ist ganz wichtig. Vielleicht darf man dazusagen, dass Sie freie Regisseurin sind, dass Sie immer mal wieder angerufen werden, dann sechs Wochen in einer Stadt verbringen, die Sie vorher so noch nicht kannten. Dazu steht der etwas ernüchternde Satz in diesem Buch: "Immer lande ich in Städten, in denen es aussieht, als wären die Alliierten erst am Vormittag abgezogen." Wirkt die deutsche Provinz so auf Sie?
    Altaras: Waren Sie schon mal unterwegs?
    Lieske: Ja, in der gleichen??? Stadt.
    Altaras: Dann wissen Sie, was ich meine. Na ja, es ist einfach so, dass sehr viele Bomben in sehr vielen deutschen Städten gefallen sind, unter anderem Osnabrück, Braunschweig, Hannover, Kassel. Die sehen alle letzten Endes irgendwie ein bisschen ähnlich. Da ist dieser Bahnhof, neuer Bahnhof, dann ist da die Fußgängerzone mit der Galeria Kaufhof oder dem abgewickelten Karstadt, dann kommt das Theater, wenn man Glück hat, noch die Pizzeria daneben. Also so sehen deutsche Städte aus, und die sind manchmal auch recht groß. Also Hannover ist ja nicht eine kleine Stadt, und trotzdem, so sehen sie aus.
    Lieske: Sie geben tragikomische, kurzweilige Einblicke dann in Ihr Leben am Theater, jede Menge Anekdoten. Zum Beispiel ist die Rede vom Frust von Musikern, die unsichtbar im Orchestergraben sitzen, man erlebt sprachlose Souffleusen, man erlebt wahnsinnige Kostümbildnerinnen. Das alles macht den Eindruck, als bräuchte es jede Menge Durchhaltevermögen, aber auch Humor, um durch eine solche sechswöchige Zeit zu kommen.
    Altaras: Ja, also Humor braucht man ja generell, auch hier auf der Buchmesse hilft es sehr. Aber ich glaube, was man noch braucht, ist eine große Liebe zum Theater, und die teile ich. Das Buch habe ich ja auch meinen Kollegen und Kolleginnen gewidmet und Sissele natürlich, aber wir alle lieben unseren Beruf, so, dass wir eigentlich glauben, das ist das wahre Leben.
    Lieske: Sissele, das ist der Name, der jetzt bereits gefallen ist. Ihr ist dieses Buch gewidmet, sie ist die Souffleuse. Susanne, Sissele, hat nun ein Anliegen an Adriana, und das hat zu tun mit ihrer Herkunft. Ihr Vater, Fischel Heimberg, gehörte vom April 1943 bis Januar 1945 zum Sonderkommando in Auschwitz. Es gibt in diesem Roman ein Originaldokument, in dem abgedruckt wird, was dieser Vater tun musste, was er erlebt hat, und bei mir war sofort beim Lesen das Entsetzen wieder da. Frau Altaras, Sie lassen dieses Dokument stehen, Sie arbeiten es nicht ein in den Fluss der Erzählung. Warum haben Sie sich so entschieden?
    Altaras: Also ich finde, zu so einem Dokument gibt es nicht viel zu sagen. Also Sonderkommando muss man vielleicht erklären. Gemeint sind die Leute, die unten in den Gaskammern gearbeitet haben, die Leichen auseinandergezerrt haben, wenn sie aus der Gaskammer kamen, in die Öfen getan haben, die Zähne auseinandergebrochen, und das beschreibt der Fischel Heimberg, und das beschreibt auch einen Offizier, weil die haben geguckt, ob die Leute nicht gelogen haben, ob es nicht doch Nazis waren und so, ein Offizier der amerikanischen Armee. Ich finde, dazu gibt es nicht viel zu sagen. Das kann man nur einfach so stehen lassen und lesen.
    Lieske: In diesem Moment prallen quasi zwei innere Bewegungen Ihres Romans aufeinander: Da ist das durchaus Heitere, Leichte, Erfreuliche und eben das Entsetzen. Wie geht es Ihnen beim Schreiben, wenn Sie auf so eine Nahtstelle treffen?
    Altaras: Also ich bin so. Das hat was mit mir zu tun. Ich mache die blödesten Witze, wenn es wirklich eine Katastrophe gerade gibt. Also das ist wie so ein Reflex. Je dramatischer eine Situation ist, desto mehr kommt der Witz am Horizont auf mich zugaloppiert, und das ist mein Umgang mit der Tragödie der Schoah, dass ich sie versuche mir anzuschauen, ich sie umkreise immer wieder, auch versuche, irgendwas zu begreifen und auf der anderen Seite auch eine heitere Note da reinbringe, sonst würde ich es wahrscheinlich selber gar nicht verkraften, und ich vermute mal, die Leserinnen und Leser auch.
    Lieske: Sie gehen noch einen Schritt weiter. Es gibt einen Befund, den ich in der Form noch nie gelesen oder gehört habe, der mich sehr überrascht hat. Sie sagen, die Schoah gibt Ihnen auf eine bestimmte Art Halt, wörtlich: "Es ist meine künstlerische DNA." Die Schoah als Glutkern Ihres Schaffens, wie erklärt sich das?
    Altaras: Ich weiß, das kann auch falsch verstanden werden, dass man so sagt, es gibt die Schoah, und weil ich sowas Schlimmes habe im Gepäck, kann ich tolle Literatur schreiben. Das meine ich nicht.
    Lieske: Das ist nicht gemeint, das versteht man.
    Altaras: Nein, gemeint ist, dass ich immer wieder mich diesem Thema aussetze und mich das immer wieder beschäftigt. Ich kann es einfach nicht ad acta legen. Was aber Sissele kann, ist, sie kann es gut aushalten, und mit ihr zusammen kann ich es auch besser aushalten. Also das heißt, ich spiele auch mit dem Umgang mit einem Thema, was nicht lösbar ist, aber das Angucken finde ich, und das irgendwie versuchen auszuhalten, ist ja schon eine Art, damit umzugehen so ein bisschen.
    Lieske: Wir wollen jetzt nicht alles spoilern, aber ich möchte doch noch so viel erzählen, dass Sissele auf der Suche ist nach Angehörigen. Sie glaubt, dass sie noch Angehörige hat, und sie bittet Adriana, ihr dabei zu helfen. Die beiden steigen in ein Auto, fahren eine lange Strecke durch Deutschland.
    Altaras: An mehreren KZs vorbei, was man so macht bei jüdischen Roadmovies.
    Lieske: An mehreren KZs vorbei, sie halten auch an, genau so. Zunächst sieht es so aus, als wäre die Suche erfolglos, und trotzdem kommt es zu einem guten Ende. Ohne das Schicksal oder ohne Meister Zufall wäre dieses Ende gar nicht denkbar gewesen. An was glauben Sie mehr, Frau Altaras, Schicksal oder Zufall?
    Altaras: Ob ich an das Schicksal … Schicksal und Zufall. Oh, fifty-fifty. Nein, schon … Ja, aber Schicksal und Zufall ist doch dasselbe. Für mich ist das dasselbe. Also es ist auf jeden Fall wahr, dieses Ende. Das kann ich nur sagen, und weil es so unglaublich ist, musste ich es aufschreiben, und ich wollte der Sissele dieses Geschenk machen, dass ich es aufschreibe, weil ich denke, die zweite und dritte Generation nach der Schoah, die wir alle sind, nicht nur die Juden, brauchen diese Geschichten, um sich ein bisschen zu trösten.
    Lieske: Es ist wirklich eine tröstliche, eine trostreiche Geschichte. Versöhnung spielte in Ihrem Elternhaus eine große Rolle, Frau Altaras, und die Zeit ist fortgeschritten. Sie werden immer wieder auch gebeten, zu öffentlichen Anlässen zu sprechen, wenn es um das deutsch-jüdische Gedenken geht, und Sie haben sich in diesem Zusammenhang schon mehrfach ausgesprochen für eine Erneuerung der Erinnerungskultur. Was meinen Sie, in welche Richtung könnte es gehen?
    Altaras: Na ja, ich glaube, dass man möglichst viel den Jugendlichen übergeben muss, in die Hände geben muss, dass vieles selber machen, auf ihre Art und Weise, dass zum Beispiel der Holocaust-Gedenktag von einer Schulklasse ausgerichtet wird, dass sie selber nach Auschwitz fahren oder nach Theresienstadt oder ihre eigenen Geschichten erzählen dazu. Man kann ja ihnen helfen, aber ich glaube, wenn man den Jugendlichen immer sagt, du musst gedenken, du musst trauern, das war so schlimm, so funktioniert das nicht. Ich glaube, das braucht eine freiwillige Annäherung, eine begleitete, aber doch freiwillige Annäherung an das Thema.
    Lieske: Das ist die Ebene der Jugendlichen, aber es gibt natürlich auch in der deutschen Öffentlichkeit im Bundestag eine durchaus ritualisierte, etwas formelhafte Form des Gedenkens. Was stört Sie daran oder wie ließe sich das erneuern?
    Altaras: Na ja, Rituale sind ja schön, aber wenn sie so sind, dass alle sagen, oh Gott, jetzt habe ich schon wieder … um elf Uhr habe ich die Gedenkveranstaltung, dann funktioniert es ja nicht. Also dann sagt man sich, mein Gott, schon wieder diese Juden. Also dann geht es ja genau in das Gegenteil über, und die Frage ist einfach, wie kann man das machen, dass es für uns alle lebbarer ist, obwohl es so schrecklich ist. Also das, glaube ich, kann man. Man muss da nur Formen finden.
    Lieske: Was wünschen Sie den Lesern, den Leserinnen Ihres Romans?
    Altaras: Dass sie Spaß haben und sich amüsieren beim Lesen. Also ich glaube, das ist das Wichtigste, im Theater und beim Lesen, dass man sich mit dem Herzen amüsiert.
    Lieske: Vielen Dank, Adriana Altaras!
    Altaras: Danke Ihnen! Danke schön!
    Lieske: "Die jüdische Souffleuse" ist, genauso wie all die anderen Romane, über die wir gesprochen haben, "Deutscher", "Titos Brille", im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen.
    Altaras: Danke schön!
    Die Autorin ist mit Klarnamen unterwegs: Adriana Altaras erzählt Geschichten aus ihrem eigenen Leben
    Die Autorin ist mit Klarnamen unterwegs: Adriana Altaras erzählt Geschichten aus ihrem eigenen Leben (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag)
    Adriana Altaras: "Die jüdische Souffleuse"
    Kiepenheuer & Witsch, Köln. 208 Seiten, 20 Euro.
    Adriana Altaras: "Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie"
    Kiepenheuer & Witsch, Köln. 272 Seiten, 24 Euro.
    Adriana Altaras: "Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus"
    Kiepenheuer & Witsch. Köln, 256 Seiten, 20 Euro.