Wenn am morgigen Sonntagabend die Tore der 71. Frankfurter Buchmesse schließen, hat die Literatur als Komplexitätsmedium auf eine Weise gewonnen, die man schlichtweg beeindruckend nennen muss - und damit sind nicht nur die zweistelligen Umsatzzuwächse in den Sachbuchbereichen Wissenschaft und Politik gemeint.
Mit diesen Zuwächsen fängt es lediglich an, weil augenscheinlich eine Sehnsucht besteht, die Komplexität unserer gegenwärtigen Herausforderungen zu durchdringen mithilfe sorgsam recherchierter, mehrhundertseitiger Analysen. Nach einem Bücherjahr, das kontaminiert war durch Effekte der Simplifikation, ist spätestens mit dieser Frankfurter Buchmesse eine neue Ernsthaftigkeit zutage getreten.
Debatte um Roman "Stella"
Wir erinnern uns: Alles hatte im Januar begonnen mit der Debatte um den erschreckend vereinfachenden, etliche Schattierungen ignorierenden Roman "Stella" von Takis Würger, der die Shoa auf einen vulgären Groschenromanplot zu reduzieren suchte – bis mit der Relektüre von Peter Wydens "Stella Goldschlag"-Biographie die Verkitschung des Schreckens zurückgedrängt werden konnte. Zuvor hatten Teile des Buchhandels versucht, mithilfe eines offenen Briefes die kritisch-feuilletonistische Auseinandersetzung zu desavouieren; ohne Erfolg.
Gleiches geschah vor wenigen Wochen, als über "Miroloi" von Karen Köhler diskutiert wurde und sich zwei Lager gegenüberstanden: Jene, die eine rein binäre Sicht auf religiös-maskuline Unterdrückung ablehnen, und die anderen, die der Ansicht sind, dass hier weibliches Sprechen desavouiert wird, ergo die Kritiker misogyn seien.
Interessanterweise, auch das zeigte diese Buchmesse, war Karen Köhler, die Autorin des Romans, zu einer differenzierten Auseinandersetzung bereit. Ihre auf dieser Messe mit entwaffnender Offenheit gezeigte Gesprächsbereitschaft ermöglichte Einsichten auf beiden Seiten der Debatte. Plötzlich entstand ein Diskurs, der das Argument der "alten weißen Männer" suspendierte zugunsten einer auch hier komplexeren Sicht auf die Literatur. Man kann diese Haltung Karen Köhlers nur als würdevoll bezeichnen.
Stanišić versus Handke
Zuletzt dann wurde weltweit, aber natürlich auch an nahezu allen Ständen und auf jeder Party in Frankfurt die Nobelpreisvergabe an Peter Handke diskutiert, und die Kritik durch Saša Stanišić, der am Montag dieser Woche den Deutschen Buchpreis erhielt für seinen Roman "Herkunft". Im Lauf der Woche wurde deutlich, dass aus dem Zusammenhang gerissene Werkzitate und knappe Tweets nicht weiterhelfen.
Um diese Debatte zu durchdringen, braucht es die langsame Lektüre der Werke sowohl von Handke als auch von Stanišić. Die schnell aus- und urteilenden Erstakteure, die allzu rasch einfache Thesen artikulierten, erfahren nun, wie ihre Wahrheiten dekonstruiert werden mithilfe akademischer Analysemethoden der Philologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft und Diskurstheorie.
Beobachtung statt vorschnelles Urteil
Petra Hartlieb von der Jury des Deutschen Buchpreises hatte vor der Messe noch stolz verkündet, dass sie Autoren mit allzu komplexer Schreibweise auf der Nominierungsliste verhindert hätte. Das war eine Bevormundung von Lesern und Autoren, die augenscheinlich klüger sind als jene, die für sie zu sprechen glauben.
Es gibt in den kommenden Wochen viel zu tun: Lasst uns wieder zuhören und das vorschnelle Urteil eintauschen gegen die Beobachtung. Die Welt ist komplex, wir werden sie nie vollständig durchdringen. Aber die Literatur wird helfen, diesen schmerzhaften Umstand irgendwie auszuhalten; wir müssen ihr und ihren Urhebern lediglich zuhören.