Eigentlich sollte Renaud Farella jetzt im Klassenzimmer stehen: Farella unterrichtet Geschichte und Geografie an einer Mittelschule im 20. Pariser Arrondissement, einem Kleine-Leute-Viertel. Doch heute schwänzt der Lehrer.
"Ein Streik gleich nach Schuljahresbeginn – das ist keine einfache Entscheidung. Mir wäre es lieber, erst mal richtig Kontakt mit meinen Klassen aufnehmen zu können. Aber bei dem Aktionstag geht es um soviel, dass ich dem Streikaufruf folge."
Das Lehrpersonal an Mittelschulen solle in den 'pädagogischen Widerstand gehen', fordern wortwörtlich die Gewerkschaften betreffs der gerade in Kraft getretenen Reform. Die verleiht den Collèges mehr Autonomie: Sie sollen nun 20 Prozent des Unterrichts nach eigenem Gusto gestalten. Die Kritiker bemängeln: Das verstoße gegen das bislang sakrosankte Prinzip der Unterrichtsgleichheit im ganzen Land. Des Weiteren sollen die Mittelschulen nun Nachzügler mit 'persönlichen Nachhilfestunden' fördern. Nicht jeder Stundenplan lässt dafür Zeit, heißt es an den Schulen.
Vor allem aber führt die Reform interdisziplinäres Arbeiten ein. Module mit fachübergreifendem Unterricht. Eine kleine Revolution. Zwar gibt das Bildungsministerium Themenkomplexe vor. Aber keine Anleitung zur konkreten Umsetzung. Zähneknirschend kündigt Geschichtslehrer Farella an: Betreffs der Reform werde er eher Dienst nach Vorschrift leisten.
"Mit der Englisch-Lehrerin habe ich ein interdisziplinäres Unterrichts-Projekt ausgearbeitet – zu den Präsidentschafts-Wahlen, die in Frankreich und auch in den Vereinigten Staaten anstehen. Aber wir kommen nur abends dazu, uns betreffs der Inhalte abzustimmen, via E-Mail. Für die Umsetzung der Reform mangelt es im Lehrerkollegium einfach an Zuspruch."
Gewerkschaften fühlen sich von Reform überrannt
Dabei hat das Bildungsministerium 4.000 neue Posten geschaffen, als Hilfe für den neuen Alltag an den Mittelschulen. Hat im vergangenen Jahr 700.000 spezielle Fortbildungstage angeboten. Dennoch fühlen sich die Gewerkschaften von der Reform überrannt und fordern ein Moratorium. Vergeblich, stellt Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem klar. Dennoch zeigt sie Verständnis für die Sorgen des Lehrpersonals.
"Ob ich die Wut der Lehrer verstehen kann? Ja, weil ihnen seit dem Amtsantritt von Staatspräsident Francois Hollande viel abverlangt wird. Weil wir eine ehrgeizige politisch linke Bildungspolitik betreiben."
Dennoch hat das Bildungsministerium kräftig nachgebessert, seit vor über eineinhalb Jahren erste Reforminhalte bekannt wurden. Geplant war ursprünglich, sogenannte Zweisprachenklassen abzuschaffen, in denen gleichzeitig Englisch und Deutsch intensiv unterrichtet werden. Als Erstes gingen damals die Deutschlehrer auf die Barrikaden, dann über 160 Politiker von links bis rechts, besorgt um die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen. Auch Berlin intervenierte in Paris. Mit Erfolg:
Knapp drei Viertel der Zweisprachenklassen werden weiter bestehen. Allerdings nicht überall im Land. 514 neue Posten für Deutschlehrer ab der Grundschule hat das Bildungsministerium angekündigt. Laut dem Goethe-Institut in Paris sei die Nachfrage nach seinen entsprechenden Fortbildungskursen nun sehr groß, nach jahrelanger Flaute. Schon im letzten Jahr beschloss das Deutsch-Französische Jugendwerk, sein 'Deutsch-Mobil'-Angebot für den rollenden Sprach-Unterricht in Frankreich aufzustocken. Ob all diese Mühen lohnen, wird sich in einigen Wochen herausstellen – sobald Paris die aktuellen Zahlen zu deutschlernenden Schülern ermittelt hat.