"Marine Le Pen, Tochter des Teufels". Der Titel ist reißerisch, zumal der Ausdruck "fille du diable" für die Front-National-Chefin in Frankreich nicht geläufig ist. Der Untertitel "Vom Aufstieg einer gefährlichen Frau und dem Rechtsruck in Europa" trifft es besser. Die Autorin erläutert ihre Absicht.
"Man musste sich zu Anfang überlegen: Wie will man an diese Person überhaupt heran gehen? Wie steht man zu ihr? Und selbst wenn der Titel das Wort 'Teufel' in sich hat, wollte ich sie nicht dämonisieren, sondern erst einmal verstehen und verständlich machen, warum es so weit kommen konnte."
Tanja Kuchenbecker beschreibt, wie Marine Le Pen die Partei modernisiert hat und dabei "zur neuen Galionsfigur der Rechten geworden" ist.
"Zur Frontfrau einer Bewegung, die alles, was in Europa in einem halben Jahrhundert an liberaler Rechtsstaatlichkeit und verlässlicher Friedensordnung geschaffen wurde, infrage stellt und rückgängig machen will."
Der Anschlag auf den Vater brachte Marine Le Pen zur Politik
Marines Weg ist ohne ihren Vater, den Antisemiten und ehemaligen Fremdenlegionär Jean-Marie Le Pen, nicht denkbar, schreibt die Autorin. Die Politikerin sagt selbst, dass ein Anschlag auf ihren Vater sie zur Politik gebracht habe: Sie war erst acht Jahre alt, als in ihrem Elternhaus eine Bombe explodierte und großen Sachschaden verursachte. Das Attentat wurde nie aufgeklärt, aber es gilt als sicher, dass es gar nicht dem Politiker, sondern dem Millionenerben Le Pen galt, den ein Parteigenosse mit seiner Hinterlassenschaft zum reichen Mann gemacht hatte. Ein Privatdetektiv sagte später aus, er habe für Le Pen ermittelt und herausgefunden, dass es ein Racheakt gewesen sei. Indem sie den Anschlag politisch auslegt, trägt Marine Le Pen zur Legendenbildung bei, schreibt Kuchenbecker.
Als Marine 16 Jahre alt war, verließ die Mutter die Familie. Das zweite Trauma in ihrem Leben.
"Für seine Tochter Marine wurde der Vater nun zu einer Identifikationsfigur. Sie wurde sein größter Fan. Egal, was über ihn geschrieben wurde – seine Aufrufe zum Hass und die rechtsradikalen Gruppen, die in Kontakt mit seiner Partei standen, seine Kontakte zu ehemaligen SS-Mitgliedern, seine Äußerungen über Gaskammern – Marine Le Pen blickte lange über alles hinweg. Sie verteidigte ihn oft vehement."
Umso radikaler war der Bruch im August 2015: Der alte Patriarch hörte nicht auf, der Tochter, inzwischen Parteichefin, mit seinen antisemitischen Ausfällen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sie schloss ihn aus der Partei aus. Tanja Kuchenbecker stellt die interessante Frage, ob dieser Vatermord nicht mehr "Show als Realität" ist. Immerhin finanziert der alte Le Pen heute – über seinen Verein namens Cotelec - die Präsidentschaftskandidatur von Marine Le Pen.
"Es ist die Rede von sechs Millionen Cotelec-Euro, die vom Vater abgesegnet zu sein scheinen."
Was den Front National so erfolgreich macht
Das Buch erklärt ausführlich, wie der wirtschaftliche Abstieg und die Reformunwilligkeit Frankreichs den Vormarsch des Front National beflügeln. Manchmal liest es sich dabei wie eine regelrechte Länder-Kunde: Die Autorin skizziert das verkrustete Schul- und Ausbildungssystem, die Elitenbildung, das Frauenbild, die Bedeutung der Familie, die Einwanderungsgeschichte, die Entstehung von sozialen Ghettos in den Vorstädten, die Einstellung der Franzosen zur Europäischen Union etc. etc. Dabei erklärt Kuchenbecker jeweils, wie es dem Front National gelingt, aus ungelösten Problemen Kapital zu schlagen und sich immer mehr in Frankreich einzunisten.
"Marine Le Pen ist wie ein Chamäleon, das sich flexibel der Umgebung anpasst, um nicht enttarnt zu werden. Auf die Angst der Franzosen vor neuen Wirtschaftskrisen antwortet sie mit einem Plädoyer für Wirtschaftsprotektionismus und starken Sozialstaat, als Antwort auf den globalen Machtverlust beschwört sie die Grande Nation, als Reaktion auf 'kulturelle Überfremdung' fordert sie Ausweisung, Abgrenzung und eine starke Familienpolitik."
Tanja Kuchenbecker wirft den etablierten Parteien vor, sich nicht entschieden genug mit den Gründen für den Erfolg des Front National auseinanderzusetzen.
"Was ich daran wichtig fand: dass sie immer mehr Wählerschichten erobert, die sie vorher nicht hatte. Also nicht mehr nur die armen Wähler, sondern auch immer mehr zur Mittelschicht hin geht."
Besonders aufschlussreich ist eine Passage, in der die Autorin Vertraute und Strategen der Parteichefin vorstellt. Dabei zeigt sich, wie breit die Partei inzwischen aufgestellt ist:
"Zu ihren Beratern gehören Junge wie Alte, verheiratete katholische Familienväter wie Geschiedene, Aufsteiger wie Protagonisten etablierter Schichten, Rassisten wie sanfte Kommunikatoren, viele gut ausgebildete Juristen und auch Schwule und Juden mit ausländischen Wurzeln."
Als Korrespondentin für verschiedene Tageszeitungen hat Tanja Kuchenbecker Marine Le Pen über viele Jahre hinweg aus der Nähe beobachtet und persönlich erlebt. Schade, dass sie das nicht öfter deutlich macht. Insgesamt liefert das Buch so viel detailliertes Hintergrundwissen, dass der Fokus auf Marine Le Pen streckenweise verloren geht.
Manchmal fehlt der Fokus auf Le Pen
Das letzte Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklung aller rechtsextremen Parteien in Europa. Da ist es zwar interessant zu erfahren, wie sich die aufstrebenden Rechtsradikalen gegenseitig stützen und voran bringen, welche Beziehungen der Front National zur "Alternative für Deutschland" unterhält. Aber wenn dann im Abschnitt über "Ungarns faschistisches Erbe" die ungarische Geschichte bis ins 9. Jahrhundert skizziert und die unzähligen Volksgruppen im Land aufgezählt werden, führt das doch weit vom Thema Marine Le Pen ab.
Tanja Kuchenbecker hat ein sachliches, zugleich engagiertes Buch geschrieben. Sie legt Marine Le Pens Absichten offen und durchleuchtet ihre Strategien. Denn unabhängig vom Wahlausgang im Mai bleiben sie und ihre Partei eine Bedrohung für Frankreich und ganz Europa, so die Einschätzung der Autorin.
"Wenn Marine Le Pen in die Stichwahl kommt, hat sie gezeigt, was sie zeigen wollte, dass sie an die Macht kann und will, wie viele Wähler sie zusammen bekommt, und das wäre schon ein Erfolg für sie. Selbst wenn sie nicht Präsidentin wird. Denn man muss sagen: Damals 2002, ihr Vater Le Pen hatte 18 Prozent gegen Chirac gekriegt. Bei ihr glaubt man, dass es bis zu 40 Prozent werden könnten."
Tanja Kuchenbecker: "Marine Le Pen - Tochter des Teufels. Vom Aufstieg einer gefährlichen Frau und dem Rechtsruck in Europa"
Herder Verlag, 224 Seiten, 22,99 Euro.
Herder Verlag, 224 Seiten, 22,99 Euro.