Nawel steigt aus der S-Bahn. Viele Fahrgäste schauen der jungen Frau missbilligend hinterher. Das liegt an der Burka: Der Ganzkörperschleier lässt nur ihre braunen Augen frei. Und selbst die verdeckt sie auf der Straße noch mit einem dünnen schwarzen Tuch. Jetzt ist kein Millimeter Haut mehr zu sehen. Als schwarze Silhouette eilt Nawel durch die ruhigen Straßen der bürgerlichen Pariser Vorstadt Saint-Maur. Sie hat eine Vorladung bei der Polizei.
"Ich bin einbestellt, weil ich den Ganzkörperschleier trage. Die Polizei hat mich im Mai kontrolliert. Sie hat mir schon eine Geldstrafe und einen Kurs in Staatsbürgerkunde aufgebrummt. Ich weiß nicht, warum ich heute vorgeladen worden bin."
Nawel heißt eigentlich Caroline. Vor zwei Jahren ist sie zum Islam übergetreten und hat sich den arabischen Vornamen ausgesucht. Ihre Stimme verrät, wie jung sie ist: "Fast 17", sagt das Mädchen. Nawel telefoniert nervös, weil sie eine Gewissensfrage lösen muss: Soll sie den Schleier bei der Polizei heben oder nicht?
"Meine Rechtsanwältin sagt mir, ich soll den Gesichtsschleier abnehmen. Der Imam meiner Stadt auch. Aber ich will nicht."
Revolte gegen die Eltern
Die Soziologin Agnès de Féo forscht seit fünf Jahren über Frauen, die den Ganzkörperschleier tragen, und hat bereits 150 von ihnen befragt. Jetzt begleitet sie Nawel zur Polizeiwache. Die Wissenschaftlerin hat einen Unterschied festgestellt: Bevor das Burka-Verbot im April 2011 in Kraft trat, trugen den Ganzkörperschleier vor allem sehr gläubige und zurückhaltende Muslime. Frauen, die selten aus dem Haus gehen. Seitdem das Verbot in Kraft ist, habe sich das Profil der Trägerinnen erheblich gewandelt.
"Es handelt sich meistens um sehr junge Frauen. Viele sind konvertiert. Zuhause werden sie nicht religiös erzogen. Sie entdecken den Islam im Jugendalter und stürzen sich Hals über Kopf hinein. Das ist auch eine Revolte gegen die Eltern. Man hat den Eindruck, dass sie den Vollschleier nie wieder abnehmen werden. Es macht sie geradezu stolz, das Gesetz zu missachten, denn sie werten das als Beweis dafür, dass sie auf dem rechten Weg sind."
Nawel passt in dieses Bild: Ihre Eltern leben getrennt, beide lehnen ihre Entscheidung ab, der Vater ganz besonders – er ist Polizeibeamter. Aber Nawel hat wenig Kontakt zu ihren Eltern, meistens lebt sie bei der Großmutter. Anfangs, erzählt sie, trug sie nur ein langes islamisches Kleid, das Gesicht, Hals und Hände freilässt. Obwohl sie damit kein Gesetz verletzte, bekam sie Ärger mit ihren Lehrern – und brach die Schule kurzerhand ab. Jetzt lernt sie über Fernstudium. Erst das gesetzliche Burka-Verbot habe sie dazu gebracht, auch den Gesichtsschleier - Niqab genannt - zu tragen.
"Durch die Debatte über das Burka-Verbot habe ich mir überhaupt erst Gedanken gemacht. Vorher fand ich die Burka selbst schockierend. Aber dann habe ich mich informiert und das hat mir die Augen geöffnet. Jetzt weiß ich, dass sich unter dem Niqab ganz normale Frauen verbergen."
Viele Muslime lehnen Burka ab
Nawel betritt die Polizeiwache und schiebt jetzt den Gesichtsschleier doch nach oben, sodass ihr junges Gesicht zu sehen ist. Eine Polizistin führt sie in einen Nebenraum.
Für Agnès De Féo stecken viele junge Burka-Trägerinnen wie Nawel in einer Identitätskrise und wollen sich beweisen, ähnlich wie früher die jugendlichen Punks oder Skinheads. Bei ihren Forschungen hat sie erfahren, dass die voll verschleierten Frauen auch oft von anderen Muslimen abgelehnt werden.
"Häufig sind es moderne Frauen, die sich zum Beispiel scheiden lassen, sobald sie mit ihrem Mann Konflikte haben. Viele verlangen, dass der Mann im Haushalt anpackt, weil es der Prophet auch getan hat. Außerdem verweigern sie sich dem Blick der Männer. Sie wollen sich nicht wie ein Objekt begucken lassen, ganz nach dem Motto: Mein Körper gehört mir. Ihre Argumente sind erstaunlich feministisch."
Bei ihren Feldstudien in Frankreich ist Agnes De Féo bisher noch keiner Frau begegnet, die eine Burka trug, weil ihr Mann sie dazu gezwungen hatte. In Frankreich sei der Vollschleier mehr Ausdruck einer Revolte gegen die Gesellschaft als ein religiöses Zeichen, sagt sie.
Nawel verlässt die Polizeiwache, sie wirkt erschöpft. Die Beamtin, sagt sie, hat ihr die Leviten gelesen und zu einer Behandlung beim Psychologen geraten. Als Nächstes will sie die Eltern anhören. Das junge Mädchen zieht den Niqab wieder über ihr Gesicht.