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Frankreich
Durst nach Sinn

Frankreichs Jugend interessiert sich deutlich mehr für den christlichen Gott als noch vor einigen Jahren. Und das, obwohl es keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen gibt. Ist die neue Religiosität eine Form des Protests gegen den laizistischen Staat - oder gegen den Islam?

Von Suzanne Krause | 23.04.2018
    Junge Messdiener in der Kirche Notre Dame du Val in Bussy-Saint-Georges
    Neuerdings steigt in der jungen Generation in Frankreich das Interesse am katholischen Glauben (imago / UIG)
    In der Kirche Saint-Honoré d'Eylau im vornehmen 16. Arrondissement in Paris findet heute eine besondere Messe statt. Priester verschiedener katholischer Kongregationen sind am Altar versammelt, ihnen gegenüber sitzen viele junge Leute. Der Gottesdienst ist Höhepunkt der Tagung, die direkt nebenan stattfindet. Aus dem ganzen Land sind Jugendbeauftragte angereist, Priester und Laien, um zu überlegen, wie man junge Leute zur Kirche geleiten könne. Das Thema ist aktueller denn je, sagt Nathalie Becquart. Die Nonne ist bei der katholischen Bischofskonferenz zuständig für die Evangelisierung junger Leute.
    "Landesweit stellen wir heute fest: Die junge Generation, also die 15- bis 30-Jährigen, dürstet es ungemein nach Sinn, sie befinden sich auf spiritueller Suche in unserer Welt, die ziemlich komplex geworden ist, die viele Herausforderungen stellt und Fragen aufwirft. Darunter auch existenzielle", sagt Becquart.
    Spiritualität als Teil des Lebens
    Antworten suchen immer mehr junge Franzosen auch im religiösen Bereich, beobachtet Schwester Nathalie Becquart. Das Interesse an Gott und Spiritualität ist im Aufwind, sagt die Nonne. Deutlich wird das unter anderem in einer Erhebung, die die französische Bischofskonferenz gemeinsam mit der katholischen Tageszeitung La Croix kürzlich zum zweiten Mal durchführen ließ.
    "52 Prozent der Befragten gaben an, zu denken, die Existenz Gottes sei sicher oder wahrscheinlich. Bei der ersten Umfrage, vor zwei Jahren, waren es nur 46 Prozent."
    Das ist deutlich mehr als in Deutschland. Bei der letzten Shell-Jugendstudie 2015 erklärten nur 29 Prozent der Befragten, sie glaubten an einen persönlichen Gott.
    "Und bei beiden Umfragen bezeichneten sich rund 42 Prozent der befragten jungen Franzosen als katholisch", so Becquart. "Das will nun nicht unbedingt heißen, dass sie alle sonntags zur Messe gehen. Aber mehr und mehr junge Leute sagen heute, der spirituelle Bereich sei ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens."
    Wenig Kontakt mit der katholischen Lehre
    Beim diesjährigen Osterfest ließen sich knapp 4.800 erwachsene Franzosen taufen, ihre Zahl steigt jährlich. Die größte Gruppe stellen junge Erwachsene. Doch ihr Weg zum Glauben und zur Kirche ist keineswegs vorgezeichnet: In Frankreichs staatlichen Schulen ist Religionsunterricht verboten. Landauf, landab sind Kindstaufe und Kommunionunterricht sehr aus der Mode gekommen. In Kontakt mit der katholischen Lehre geraten Kinder heutzutage, wenn die Eltern sie wegen dem angeblich besseren Unterricht auf katholische Privatschulen schicken. Oder auch bei Freizeitangeboten der katholischen Pfadfinder. Jeder Weg zum Glauben ist letztendlich einmalig, zeigte die Tagung auf:
    "Ich heiße Emilie, bin 32 Jahre alt und gehöre der Diözese im südostfranzösischen Grenoble an. Meine Familie ist christlich, ich habe an einer Elite-Politikhochschule in Lyon studiert und ein Praktikum bei der katholischen Entwicklungshilfe-Organisation in Paris absolviert. Dabei Solidarität, Kooperation, die katholische Soziallehre zu entdecken, hat mich zutiefst geprägt."
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede vor der Bischofskonferenz in Frankreich am 9. April 2018
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede vor der Bischofskonferenz in Frankreich am 9. April 2018 (AFP PHOTO / POOL / ludovic MARIN)
    Der 23-jährige Corentin besucht das Priesterseminar und studiert gleichzeitig Jura. Letzteres ist ein Zugeständnis an seine Eltern, die nicht gläubig sind und die nicht damit gerechnet hatten, dass der Besuch der katholischen Privatschule beim Sohn den Wunsch erwecken könne, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen, sagt Corentin.
    Charles Callens hatte nach der Erstkommunion das Interesse an der Kirche verloren. Nicht aber an seiner Passion: Orgelspiel und liturgische Musik. Dann nahm er als Student an einer Pilgerreise nach Israel teil.
    "Unterwegs hat sich mein Glaube von einem überlieferten in einen selbsterwählten verwandelt. Bei meiner Heimkehr habe ich um das heilige Sakrament der Firmung gebeten. Seither bin ich in der Kirche aktiv - als Orgelspieler und weil ich eine Arbeit bei der Bischofskonferenz angenommen habe."
    Charakteristisch für diese Generation sei: Ihre Begegnung mit Gott sei sehr persönlich und sie hätten gewissermassen von sich aus zu Christus gefunden, sagt Philippe Bordeyne. Laut dem Rektor des Katholischen Instituts Paris seien die jungen Katholiken heute viel pragmatischer, als seine Generation, die von 1968, es war.
    Er sagt: "Ich finde diese junge Generation hochinteressant: Sie eilt schnell voran, sie ist fragil und sie ist sehr offen für einen intergenerationellen Dialog. Wir waren viel misstrauischer den Älteren gegenüber. Die jungen Leute heute hingegen zeigen sich interessiert. Sie picken sich heraus, was ihnen gefällt. Sie sind sehr frei."
    Laizität wird als Ausgrenzung erlebt
    Diese junge Generation ermögliche einen anderen Blick auf das Frankreich sehr prägende laizistische System, sagt Philippe Bordeyne.
    "Die Laizität wird häufig erlebt als eine Ausgrenzung der Religionen, weil von denen eine Gefahr ausgehen könnte. In unserer Erhebung unter jungen Franzosen jedoch tritt eines sehr deutlich hervor: Die Tatsache, in einer Religion verankert zu sein, verhindert nicht den Dialog mit anderen. Im Gegenteil, dies wirkt stimulierend."
    Der Dialog mit anderen schließt explizit den mit Andersgläubigen ein. Das ist beruhigend. Denn in Frankreich ist der Islam heute die zweitwichtigste Religion. Auf zwei junge Franzosen, die sich zum Katholizismus bekennen, kommt nunmehr einer, der zu Allah betet. Charles Callens, der bei der Pilgerreise zu Gott fand, bezeichnet die Auseinandersetzung mit muslimischen Bräuchen als bereichernd.
    "Sich anzuschauen, wie die Muslime den Ramadan begehen, erlaubt, unsere eigene Fastenzeit-Praxis zu hinterfragen", sagt Callens. "Die Muslime fasten gemeinsam, das Fastenbrechen wird kollektiv gefeiert. Das stellt uns die Frage, was während der christlichen Fastenzeit machbar ist - und was nicht."
    "Wer sich als Jugendlicher nicht engagiert, ist ein junger Rentner"
    Die Kirche solle den Dialog mit anderen Religionen eröffnen, wünscht sich Chloé Barbain. Ein Wunsch, den die 23-Jährige mit jungen Katholiken rund um den Globus teilt. Das zeigte sich Ende März in Rom: Sechs Tage lang diskutierten im Vatikan 300 junge Menschen aus der ganzen Welt ihre Erwartungen an die Kirche. Nicht nur Christen hatte Papst Franziskus eingeladen, sondern ebenso Vertreter anderer Religionen und sogar Nicht-Gläubige. Ein Vorbereitungstreffen zur Bischofs-Synode im kommenden Oktober, dem Thema Jugend gewidmet. Am 12-Seiten-Papier, einer Art Forderungskatalog an die Synodenväter, hat auch Chloé Barbain mitgewirkt.
    Sie erzählt: "Ich poste selten etwas auf Facebook, aber nach der Vor-Synode habe ich geschrieben, dass ich Christin bin und mich nun voll und ganz zu meinem Glauben bekenne", sagt Barbain. "Weil die Kirche nicht nur mehr nur für verknöcherte Ideen steht, sondern jetzt auch für den Wandel, dafür, junge Leute aus der ganzen Welt zusammengebracht zu haben. Dafür, dass der Papst uns sein Ohr schenkt."
    Im Forderungskatalog eingeschrieben ist der Wunsch der jungen Generation, in der Kirche Verantwortung zu übernehmen. In Frankreich wird ihr dies schon eher leicht gemacht, sagt Schwester Nathalie Becquart. Bei Seelsorgeangeboten an der Universität zum Beispiel sind christliche Studierende überaus aktiv. Bei der Organisation der Weltjugendtage setzt die französische Bischofskonferenz auf junge Laien.
    "Als Slogan dient uns ein geflügeltes Wort von Papst Franziskus: 'Ein junger Mensch, der sich nicht engagiert, ist ein junger Rentner'", sagt Becquart.
    Das wachsende Interesse junger Franzosen an Gott und Glauben könnte durch Emmanuel Macron noch angefacht werden: Auf Einladung der Bischofskonferenz, eine absolute Premiere, hielt der Staatspräsident Anfang April eine wichtige Rede, die an der sakrosankten Trennung zwischen Kirche und Staat, Politik und Religion rührte: Darin rief Macron die Katholiken auf, sich verstärkt gesellschaftlich zu engagieren. Nicht nur als Bürger, sondern explizit auch als Christen.