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Frankreich
Eine Muslimin klärt auf

Eine Frau mit Kopftuch in französischen Schulen - das widerspricht eigentlich dem Laizismus-Gebot. Aber bei Latifa Ibn Ziaten machen viele Schulen eine Ausnahme. Vor allem in sozial benachteiligten Vierteln empfangen sie die 55-jährige Muslimin mit offenen Armen, weil sie gegen die Radikalisierung von Einwandererkindern kämpft - indem sie ihre eigene, dramatische Geschichte erzählt.

Von Bettina Kaps | 15.12.2015
    Eine Frau mit Kopftuch steht vor einer Schulklasse und spricht.
    Latifa Ibn Ziaten will verhindern, dass sich noch mehr Jugendliche aus den Banlieues indoktrinieren lassen. (PASCAL PAVANI / AFP)
    Kurze Verschnaufpause, bevor es zu den Schülern geht. Latifa Ibn Ziaten sitzt am Tisch, umgeben von Lehrern, Erziehern, Sekretärinnen, Kantinenpersonal. Die Mienen sind besorgt. Die Berufsschule in Poissy ist ein Auffangbecken für viele Jugendliche aus den Hochhaussiedlungen in der Umgebung. Viele hätten schon in der Mittelstufe versagt oder aufgegeben, sagt die Direktorin Marie-Edith Elies.
    "Wir wissen alle, dass wir einige Schüler haben, bei denen es nur darum geht, sie nicht zu verlieren. Wir sagen uns ständig: Wenn wir sie halten können, ist ihr Kopf wenigstens nicht ganz frei für andere Dinge..."
    Andere Dinge - gemeint ist die Anziehungskraft von islamistischen Terrororganisationen. Latifa Ibn Ziaten stimmt zu: Wenn die Eltern scheitern, sagt sie, bleibe nur noch die Schule. In der Aula warten bereits 70 Berufsschüler. Ibn Ziaten steigt auf das Holzpodest vorne im Saal.
    "Ich bin die Mutter von Imad, dem Soldaten, der am 11. März 2012 von Mohamed Merah ermordet wurde."
    "Wenn man Ratten einsperrt, werden sie gefährlich"
    Rasch skizziert sie ihren Lebensweg: Mit 17 ist sie aus Marokko ausgewandert und zu ihrem Mann nach Rouen gezogen, in die Normandie. Damals konnte sie nicht lesen und schreiben, weil sie aus einer armen Familie stammt, die aber sehr reich an Werten gewesen sei: Respekt, Erziehung und Teilen wurden groß geschrieben, sagt Ibn Ziaten. Eine Geschichte, wie sie viele Jugendliche im Saal von ihren Eltern oder Großeltern kennen. Die 55-jährige Muslimin erzählt, dass sie sich enorm angestrengt habe, um sich in Frankreich einzugliedern. Und wie dankbar sie sei, dass Frankreich sie akzeptiert habe. Ihre fünf Kinder habe sie wie Franzosen erzogen. Imad, der Zweitälteste, ist zum Militär gegangen, als Fallschirmspringer.
    "Aber dann kam einer, der nicht geliebt wurde, den seine Familie zurückgestoßen hatte, der auf Abwegen war, Drogen, Gefängnis. Ein Monster, ein Terrorist, Mohamed Merah. Ich habe ihm vergeben - nicht die Tat - aber seiner Person vergebe ich, weil Mohamed Merah nicht gewusst hat, was Liebe ist."
    Im März 2012 hat Merah insgesamt drei Soldaten erschossen, danach ein Blutbad in einer jüdischen Schule angerichtet, bei dem drei Kinder und ein Rabbiner starben. Wenig später wurde der 23-jährige Franzose von Polizisten gestellt und erschossen. Er hatte sich als Unterstützer des Terrornetzwerks al-Qaida bezeichnet. Latifa Ibn Ziaten erzählt den Schülern, wie sie ganz allein in die Siedlung gefahren ist, wo der Täter aufgewachsen war. Um zu verstehen. Dort traf sie junge Leute.
    "Einer hat gesagt: Mohamed Merah ist ein Märtyrer, ein islamischer Held, er hat Frankreich in die Knie gezwungen. Ich war erschüttert. Als ich ihnen sagte, dass ich die Mutter von Imad bin, den Mohamed Merah ermordet hat, haben sie sich entschuldigt, und einer hat erklärt: Schauen Sie, wo wir leben, Madame. Wenn man Ratten einsperrt, werden sie gefährlich."
    "Ruft mich an, ich gebe euch meine Nummer"
    Nach diesem Erlebnis hat sie ihren "Verein für den Frieden" gegründet. Seither trägt Latifa Ibn Ziaten ihr Leid in Schulen, Gefängnisse, andere Vereine. Sie will verhindern, dass sich noch mehr Jugendliche aus den Banlieues indoktrinieren lassen. Die Berufsschüler im Saal sind mucksmäuschenstill.
    "Falls ihr Sorgen habt, ruft mich an, ich gebe euch meine Nummer. Wir können zusammen Lösungen suchen. Kapselt euch nicht ab. Habt Vertrauen, geht zu euren Lehrern, die müssen auch Vertrauen schaffen, müssen euch zuhören."
    Ein Mann im schwarzen Anorak lässt Latifa Ibn Ziaten nicht aus den Augen. Er ist Polizist. Das Innenministerium schickt einen Leibwächter, wann immer sie auf Vortragsreise geht. Denn Latifa Ibn Ziaten stört: Sie stört Muslime, die sich nicht belehren lassen wollen, und Franzosen, vor allem solche, die politisch weit rechts stehen.
    "Ich bin schon oft beschimpft worden: "Nehmen Sie den "Lappen" vom Kopf, gehen Sie nach Hause zurück. Von Ihnen lassen wir uns doch nichts über Toleranz und Laizismus erzählen..." Für manche Franzosen darf eine Frau mit muslimischem Kopftuch grundsätzlich nicht über die Republik sprechen."
    Die nächsten Schülerinnen und Schüler betreten lärmend den Raum. Latifa Ibn Ziaten steigt wieder auf das Holzpodest vorne im Saal.