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"Le Monde"-Journalist über Präsident Macron
"Nicht zufällig ist die extreme Rechte in Frankreich so stark wie nie"

Der französische Präsident Emmanuel Macron habe zahlreiche Versprechen nicht gehalten und sei kein verlässlicher politischer Partner gewesen, sagte Fabrice Lhomme, Journalist der Tageszeitung Le Monde, im Dlf. Macron habe zudem keine politische Vision, das nutze der extremen Rechten.

Fabrice Lhomme im Gespräch mit Christoph Heinemann  |
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Dezember 2021 bei einer Konferenz mit Kanzler Olaf Scholz in Brüssel
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fehle es an einer Vision und einem Kurs - "das ist gefährlich: nicht für Macron, sondern für das Land", so Jounalist Lhomme (picture alliance/dpa/Sputnik/Alexey Vitvitsky)
Vom 10. bis 24. April 2022 wählen die Franzosen einen neuen Präsidenten. Favorit ist der amtierende Präsident Emmanuel Macron, obwohl er von seiner Reformagenda wenig umsetzen konnte. Der französische Journalist Fabrice Lhomme ("Le Monde") sieht in Macron gar einen Verräter. Der Präsident habe sowohl politische Versprechen als auch persönliche Zusagen nicht gehalten, sagte Lhomme im Deutschlandfunk.
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Macrons Partei La République En Marche habe kein Profil und sei in der Zivilgesellschaft auch nicht verankert. Die fehlenden Visionen seien mitschuld am Rechtsruck im Land. "Die Menschen stehen heute ohne Kompass da. Und nicht zufällig ist die extreme Rechte gegenwärtig so stark wie nie zuvor in diesem Land", sagte Lhomme, der auch Ko-Autor des Bestsellers „Le traitre et le néant“ ("Der Verräter und das Nichts") ist.

Das Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Wieso sprechen Sie von Verräter?
Fabrice Lhomme: Als wir uns mit Emmanuel Macron befasst haben, ist uns aufgefallen, dass viele Gesprächspartner, und zum Teil auch solche, die ihm nahestehen, ihm vorwerfen, dass er seine Versprechen nicht gehalten hat. Sowohl was sein politisches Programm betrifft, aber auch persönliche Zusagen. Er war kein dauerhaft verlässlicher Freund.
Auf politischer Ebene, alle wissen dies, bezieht sich das auf Francois Hollande. Das war der Präsident, der ihm geholfen hat, eine wichtige politische Persönlichkeit zu werden. Und eben dieser Macron hat dafür gesorgt, dass Hollande nicht wieder kandidieren konnte. Und er hat dessen Platz eingenommen.
Heinemann: Einige sagen, dass zu dem Zeitpunkt, als sich Emmanuel Macron Richtung Elysée auf den Weg machte, Francois Hollande am Ende gewesen wäre. Hätte er kandidiert, hätten die Franzosen ihn nicht gewählt. Muss man nicht anerkennen, dass Macron angesichts einer Marine Le Pen die Republik gerettet hat?
Lhomme: Das würde ich nicht sagen, und zwar aus einem einfachen Grund: Welcher Kandidat oder welche Kandidatin einer republikanischen Partei auch immer gegen Marine Le Pen angetreten wäre, diese Person hätte gewonnen. Wäre es Francois Hollande, Francois Fillon oder jemand aus dem ökologischen Lager gewesen, hätte Marine Le Pen so gut wie sicher verloren. Ihre Grenzen traten in der Fernsehdebatte offen zu Tage. Damals war die extreme Rechte nicht in der Lage, mehr als 50 Prozent der Stimmen zu erlangen.

„Für Macron sind Parteien nicht wichtig“

Heinemann: Wie hat es Emmanuel Macron geschafft, dass seine Ideen in der öffentlichen Debatte Gewicht bekommen haben und seine Bewegung „En Marche“ in der französischen Gesellschaft zu verankern?
Lhomme: Das erste ist unbestreitbar Emmanuel Macrons Erfolg. Er ist sehr intelligent, das darf man nicht vergessen: extrem intelligent. Und er hatte eine klare Vorstellung davon, wo, vor allem politisch, Frankreich 2017 stand. Und es stimmt: Er hat es verstanden, ein scheinbar sehr modernes und avantgardistisches politisches Angebot zu machen. Er hat gespürt, dass die französische Gesellschaft zu dem Risiko bereit war, jemanden zu wählen, der nicht aus dem gewöhnlichen Parteien stammte und keine gewöhnlichen Positionen vertrat.

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Was die Partei betrifft: das ist ein Misserfolg, der ihn, so glaube ich, allerdings überhaupt nicht stört. Seine Partei hat es nicht geschafft, im Land und im Herzen der Franzosen verankert zu sein. Die Leute wissen immer noch nicht, wofür „La République En Marche“ eigentlich steht. Es gibt Leute aus dem bürgerlichen Lager und Linke. Es gibt keine Wirbelsäule. Es gibt keine charismatische Führungspersönlichkeit.
Für Emmanuel Macron ist das aber nachrangig. Für ihn ist wichtig, dass die Partei – in Anführungszeichen – nach seiner Pfeife tanzt. Dass sie in der Nationalversammlung für seine Gesetze stimmt. So gesehen war er erfolgreich. Man muss verstehen, dass für ihn die Parteien nicht wichtig sind. Daraus besteht die Revolution Macron: die Parteien sind nicht von großem Interesse.

„Die Menschen stehen heute ohne Kompass da“

Heinemann: Inwiefern verkörpert Macron das Nichts?
Lhomme: Also, das Nichts: Eine politische Bewegung bietet normalerweise Ideen. Macron hat auch das ein bisschen revolutioniert, indem er gesagt hat: nein, es gibt keine vorformulierte Idee. Man muss sich vielmehr anpassen und pragmatisch handeln. Das ist neu, die Franzosen sind daran nicht gewöhnt. Wir sind ein sehr politisches Volk. Kurzfristig kann das funktionieren. Aber langfristig muss man schon eine Vision und einen Kurs vorgeben. Das fehlt deutlich, und das ist gefährlich: nicht für Macron, sondern für das Land.
Die Menschen stehen heute ohne Kompass da. Und nicht zufällig ist die extreme Rechte gegenwärtig so stark wie nie zuvor in diesem Land. Wenn man für den ersten Wahlgang alle Stimmen für die extreme Rechte zusammenzählt, ergibt das mehr als ein Drittel der Stimmen. Das gab es noch nie. Und das ist sehr beunruhigend.

„Keine Ideologie, stattdessen: alles und sein Gegenteil“

Heinemann: Sie haben geschrieben: in Macrons Welt steht das Marketing vor der Ideologie und ersetzt diese. Was meinen Sie damit?
Lhomme: Macrons Leute stehen dazu, dass sie über keine Ideologie verfügen. Sie sind nicht eher rechts oder links. Sie stehen für das, was man „gleichzeitig“ nennt: Was gelegentlich bedeutet: alles und sein Gegenteil. Ich bin für die Jäger und für die Umweltschützer. Ich bin für Migranten und gegen eine zu starke Zuwanderung. Alles funktioniert so. Die Partei „La République En Marche“ läßt sich ideologisch nicht zuordnen.
Andererseit haben sie vor allem 2016 und 2017 verstärkt an dem Marketing gearbeitet. Natürlich gehört Marketing zur Politik, sie sind nicht die einzigen, die das tun. Sie haben diese Themen hervorgehoben: der disruptive Mensch, der junge, der moderne Mensch, der diejenigen wegjagt, die für die alte Welt stehen, weil er die neue Welt vertritt. Das ist politisches Marketing. Und wenn man sich auf der einen Seite diesen in Macrons Umfeld sehr entwickelten Marketing-Aspekt anschaut und andererseits die Stimmigkeit der politischen Ideen untersucht, ergibt sich ein enormes Missverhältnis.
Heinemann: Besteht ein Zusammenhang zwischen der Privatisierungspolitik des ehemaligen stellvertretenden Generalsekretärs des Elysée und späteren Wirtschaftsministers Macron und der Finanzierung seines Präsidentschaftswahlkampfes?
Lhomme: Ja, es besteht ein Zusammenhang. Da geht es um die Leute, die vom Verkauf strategischer französischer Unternehmen ins Ausland profitiert haben, vor allem die Vermittler, die Provisionen erhalten haben. Mit einigen hat Macron bereits in der Rothschild-Bank zusammengearbeitet, und sie haben seinen Präsidentschaftswahlkampf finanziert. Diese Operationen sind offenbar legal durchgeführt worden. Aber natürlich führt das zu Fragen, wir Journalisten sind dafür da. Wurden diese Unternehmen wirklich aus guten Gründen verkauft? Wollte man Leuten einen Gefallen tun oder dem Land dienen? Zur Zeit laufen mehrere juristische Ermittlungen. Ein Abgeordneter der Konservativen, Olivier Marleix, spricht von einer Straftat der Veruntreuung und einem Korruptions-Pakt.

„Wer ist dieser Mann und was hat er vor“?

Heinemann: Rechnen Sie damit, dass diese Enthüllungen im Präsidentschaftswahlkampf 2022 eine wichtige Rolle spielen werden?
Lhomme: Das weiß ich nicht. Wenn man Informationen, vor allem ein Buch veröffentlicht, weiß man nie genau, inwiefern das die öffentliche Meinung beeinflussen wird. Unser Buch ist ein Bestseller. Wir haben fast 100.000 Exemplare verkauft, was für ein politisches Buch eher selten ist. Unser Buch interessiert deshalb so sehr, weil es Macron in einem neuen Licht erscheinen lässt und Antwort gibt auf die Frage, die sich die meisten unserer Landsleute stellen: wer ist dieser Mann, wofür steht seine politische Bewegung, was hat er vor? Das ist alles überhaupt nicht klar. 
Heinemann: Warum hat der Präsident Ihre vielen Anfragen zu Interviews abgelehnt?
Lhomme: Aus einem einfachen Grund, den man respektieren muss: Ich glaube, dass er davon ausgeht, dass er dabei nichts zu gewinnen hat, wenn er Journalisten wir Gerard Davet oder mich trifft. Seine gesamte Kommunikations-Strategie ist das umgekehrte Modell von Francois Hollande während dessen Amtszeit. Vor allem was er mit Gérard Davet und mir gemacht hatte:
Er hat uns häufig getroffen, vertraut und uns sehr deutliche Aussagen geliefert. Als Emmanuel Macron in den Elysée einzog, hat er gesagt: "Wir sehen, was Francois Hollande gemacht hat. Wir tun genau das Gegenteil. Wir müssen die Journalisten so fern wie möglich halten". Er misstraut den Medien sehr. Und in dieser Hinsicht, so hat es Pierre Moscovici gesagt, hat dies auch einen populistischen Aspekt: Wenn er sagt: "Vorsicht im Umgang mit Medien, die sind gefährlich, man muss ihnen misstrauen"- man sollte aufpassen, wenn man so etwas sagt, denn nachher endet man bei Donald Trump oder Bolsonaro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.