"Wir sind alle Kinder von Einwanderern", skandieren sie. "Warum so viel Verachtung, warum so wenig Unterstützung", steht fragend auf einem ihrer Plakate. Etwa 300 Demonstranten protestieren gegen den Front National, vor allem gegen die Haltung der Partei zu Flüchtlingen und Einwanderern. Unter den Demonstranten: Philippe Boglin, grau-meliertes Haar, Rucksack und Treckingsandalen, seinen kleinen Sohn hat er sich vor die Brust geschnallt.
"Ich komme immer zur Gegendemo, wenn sich der Front National hier in Marseille in Szene setzt. Ihre Ideen sind nicht vereinbar mit den Werten Frankreichs. Und noch weniger mit einer Stadt wie Marseille, die schon immer ein Ort der Einwanderung war. Die Leute vom Front National sind nicht schockiert, wenn man am Strand einen ertrunkenen Dreijährigen aufsammelt. Mich schockiert das, ich habe geweint, als ich das Foto gesehen habe."
Das Bild des toten Aylan aus Syrien, angeschwemmt an einem türkischen Strand. Während er sich an das Foto erinnert, streichelt Philippe Boglin seinem schlafenden Sohn über den blonden Wuschelkopf - er ist in etwa so alt wie Aylan.
"Ich habe gehört, dass über die Hälfte der Franzosen dagegen ist, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Ich verstehe das nicht. Es gibt in Frankreich Arbeit, die hier niemand machen möchte. Es gibt Dörfer, die völlig unbewohnt sind. Ich bin mir sicher, dass sich die Flüchtlinge gerne dort niederlassen würden, wenn wir ihnen die Möglichkeit dazu geben würden."
Gegendemonstranten sehen Deutschland als gutes Beispiel
Boglin findet: Frankreich sollte sich ein Beispiel an Deutschland nehmen, das deutlich mehr Flüchtlinge willkommen heißt.
"Ich bewundere das, was zurzeit in Deutschland passiert. Und auch Angela Merkel, die ich nie für besonders fortschrittlich gehalten habe. Aber was die Flüchtlinge betrifft, da hat sie viel Mitgefühl gezeigt."
Bewunderung für die deutsche Flüchtlingspolitik: Davon ist ein paar hundert Meter weiter, auf dem Parteitreffen des Front National, nichts zu spüren.
"Angela Merkel diktiert uns ihre Flüchtlingspolitik, genau wie sie uns ihre Europa- und Wirtschaftspolitik diktiert. Deutschland braucht billige Sklaven, um die deutsche Industrie zu beliefern. Und da Deutschland sie braucht, wird ganz Europa gebeten, sie aufzunehmen. Und zwar mit den berühmten verbindlichen Quoten."
Florian Philippot, der stellvertretende Vorsitzende des Front National, ist ein guter Redner. Wortwitz, Ironie, all das beherrscht er, das Publikum ist begeistert. Flüchtlinge nach verbindlichen Quoten auf die EU-Staaten verteilen, so wie es Merkel und Frankreichs Präsident Hollande jetzt gemeinsam fordern? Philippot nennt das "Unfug":
"Ich bin nicht gegen Quoten, solange die Quote für Frankreich bei null liegt. Das ist die einzige Quote, die wir akzeptieren können."
Unterstützung für Asylbewerber streichen, die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raumes abschaffen, Grenzkontrollen wieder einführen - alles altbekannte Forderungen des Front National. Auch rund um den Stand der Jugendorganisation des FN, im Eingangsbereich der großen Kongresshalle, sind sich alle einig: Frankreich könne nicht das Elend der gesamten Welt aufnehmen.
"Sie sehen ja die vielen jungen Franzosen, die keine Arbeit finden, selbst wenn sie gut ausgebildet sind. Wie sollen die ganzen Flüchtlinge jetzt auch noch hier arbeiten, wenn wir schon keine Arbeit finden?"
Front National will keine Flüchtlinge in Frankreich
Fragt Michael Hartzheim aus dem Elsass und benutzt die gleichen Argumente und Vokabeln wie seine Parteichefin Marine Le Pen. Hartzheim selbst ist nicht arbeitslos, verdient sein Geld als Krankenpfleger. Dennoch: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt landesweit bei fast 25 Prozent, in manchen Vorstädten bei über 40 Prozent. Da kann auch das Foto des toten Aylan nichts ändern, an der Meinung des Parteinachwuchses.
"Ich fand dieses Foto schrecklich, genau wie alle anderen. Aber was ich auch schrecklich finde, ist, wie unsere Regierung das Foto instrumentalisiert hat, damit die Franzosen das Inakzeptable akzeptieren, nämlich dass weiter Flüchtlinge ins Land kommen, obwohl Frankreich dieser Einwanderungswelle nicht gewachsen ist."
Sagt die 25-jährige Véronique Fornilli, stellvertretende Vorsitzende des jungen Front National. Und ihr Parteifreund Hartzheim bekräftigt: Syrien sei Syrien und Frankreich sei Frankreich.
"Was ihnen passiert ist traurig, wirklich traurig. Aber ich finde, die Syrer müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Genau wie wir, genau wie alle anderen auch."