Fotos gibt es, aus denen wird man erst im Nachhinein klug. Jene aus dem Jahr 1983 etwa, als Zehntausende junge "Beurs" durch die Straßen der französischen Städte marschierten. "Beur" ist ein auf Grundlage von spielerischer Silbenverdrehung entstandener Begriff für Franzosen arabischer, insbesondere algerischer Herkunft.
Ganz normale Jugendliche zeigten sich da, kein Kopftuch, nirgends. Religiöse Symbole waren für diese jungen Menschen als Identitätszeichen undenkbar. Sie forderten nur eines: Gleichberechtigung.
Wie anders heute, da Kopftuch und an den frühzeitlichen Islam erinnernde Gewänder zum gewohnten Straßenbild gehören. Hätte es anders kommen können? Es ist jedenfalls denkbar, meint der Politologe und Soziologe Jacques Donzelot. In seinem Buch "Quand la ville se défait", einer Studie über die französischen, überwiegend von Migranten bewohnten Banlieues, also Vorstädte, zieht er ein ernüchterndes Fazit der französischen Integrationspolitik.
"Die jungen Migranten fühlten sich von der französischen Gesellschaft kaum aufgehoben. Dennoch wurden sie integriert - als Ausgeschlossene. Legitimiert wurde das mit der hohen Arbeitslosigkeit. Verschwiegen wurden hingegen die anderen Gründe, vor allem die Herkunft der Migranten. Eben das macht ihre Situation besonders schwierig."
Kulturelle Entfremdung im eigenen Land
In seinem Buch "L'insécurité culturelle", "Kulturelle Verunsicherung", geht der französische Politologe Laurent Bouvé den verschiedenen Gründen der distanzierten Haltung vieler Franzosen gegenüber den Migranten nach. Er findet viele: Arbeitslosigkeit, sich verbreitende Armut, geografische Ausgrenzung, wer kein Geld hat, muss aus den teuren Stadtzentren in die Vorstädte ziehen. Doch vor allem empfinden viele ethnische Franzosen ein Gefühl kultureller Entfremdung im eigenen Land.
"Die Welt oder den Nachbarn aufgrund seiner 'Kultur', seiner tatsächlichen oder vermeintlichen ethnischen oder religiösen Verschiedenheit als Belästigung oder gar als Bedrohung anzusehen oder zu empfinden, fördert die kulturelle Verunsicherung."
Wie viele multikulturelle Gesellschaften experimentiert auch Frankreich mit der sogenannten Identitätspolitik: der verstärkten Rücksichtnahme auf die kulturellen und oder religiösen Befindlichkeiten einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Diskutiert wird die Frage, inwieweit diese Gruppen ihren Überzeugungen öffentlich Ausdruck verleihen dürfen. Das prominenteste Beispiel im Hinblick auf die Muslime: die Vollverschleierung, die in Frankreich im öffentlichen Raum allerdings verboten ist. Doch so klug es sein mag, die Bekenntnisse einzelner Gruppen - nicht nur der Muslime, sondern auch ganz anderer Subkulturen, etwa die der Homosexuellen, zu berücksichtigen. So stellt sich die Frage, ob diese spezifischen Anliegen nicht neue Mauern errichten. Ob die Sichtbarkeit der Gruppen nicht zu stark werden könnte. So stark, dass der Zusammenhalt des Ganzen, also der Republik, gefährdet ist. Aus diesem Grund sieht Bouvé die Identitätspolitik durchaus kritisch.
"Fährt man mit einer solchen Politik fort, kann der öffentliche Raum sich sehr leicht in ein Nebeneinander unterschiedlicher Individualitäten und Minderheiten verwandeln. Diese definieren sich vor allem durch essentialisierte und radikalisierte kulturelle Identitäten. In ihm stehen Individuen und Minderheiten in einem permanenten Konflikt um Anerkennung.
Die Schule als Ort der Auseinandersetzung
Doch wo sollte die Auseinandersetzung beginnen? In der Schule, erklärt der Philosoph Alain Finkielkraut in seinem Buch "L'identité malheureuse". In ihm widmet er sich dem aus den Fugen geratenen französischen Identitätsgefühl. Die Schule, schreibt er, ist der zentrale Ort, an dem sich Identitäten bilden. Lange Zeit war das vor allem die republikanische Identität - die Gewissheit also, durch die Einrichtungen des Staates und die Verfassung miteinander verbunden zu sein. Vor allem aber, schreibt Finkielkraut, ist die Schule ein Ort der Freiheit: Hier lernen junge Menschen die Welt in ganz anderen Dimensionen kennen als jenen, die ihnen bislang vertraut waren. Das ermöglicht ihnen, auch die eigenen Ursprünge mit Distanz zu sehen - und sich von ihnen gegebenenfalls auch zu distanzieren.
"Im Klassenraum müssen die Schüler ihre Ursprungsgemeinschaft vergessen und an etwas anderes als ihre Identität denken können. Denn nur auf diese Weise lernen sie, selbstständig zu denken. Das Recht auf Differenz ist nur dann umfassend, wenn es auch das Recht auf Differenz von dieser Differenz beinhaltet. Andernfalls ist es eine Falle, ja sogar ein Weg in die Sklaverei."
Entschieden macht sich Finkielkraut für das Ideal der Republik stark. Republik kommt aus dem Lateinischen und heißt "Öffentliche Sache". Zu dieser Sache müssen alle Bürger Zugang haben. Jetzt ist es an der Zeit, den Zugang zu dieser Öffentlichen Sache auch allen zu gewähren. Das wird Zeit brauchen. Aber irgendwann ist es vielleicht nicht mehr nötig, dass manche Migranten sich andere Wege suchen, Wege, die ins Abseits führen: sie selbst und die Republik. Anfang Januar ist genau dies geschehen.