Nach den ersten Berichten in Frankreich meldeten sich schnell weitere Eltern, so dass es am Ende um 52 Fälle in den Jahren 2009 bis 2014 ging. Viele davon aus ländlichen Regionen, sodass Pesitizide in Verdacht gerieten. Oder war es doch nur Zufall? Reduktionsfehlbildungen der Arme und Beine treten bei rund fünf von 10.000 Neugeborenen auf. Das klingt nach wenig, aber statistisch wären für ganz Frankreich jedes Jahr 350 Fälle zu erwarten.
Nach einer genauen Analyse kommt eine internationale Kommission in einem ersten Zwischenbericht zu dem Schluss: Die ursprünglichen Fälle in Ain waren nicht ungewöhnlich. Anders eine kleine Häufung von Fällen an der Atlantikküste, alle in der Kleinstadt Guidel, erklärt Anke Rissmann: "Diese Initialen Häufungen waren verdächtig. Am Ende dann also drei Fälle in 18 Monaten in 2011 bis 2013."
Europaweit keine zeitliche Häufung
In späteren Jahren seien keine weiteren Fälle mehr dazugekommen, erklärt die Expertin Rissmann. Sie leitet das Fehlbildungsmonitoring in Sachsen-Anhalt, einer von zwei Stellen, die Fehlbildungen in Deutschland systematisch dokumentiert. Auf europäischer Ebene arbeiten die verschiedenen Register seit langem zusammen: "Da hat man sehr aufmerksam geguckt. Und wir konnten auch jetzt in der laufenden Datenzusammenstellung zeigen, dass die Daten für den Geburtsjahrgang 2018, die jetzt dazugekommen sind, europaweit keine zeitliche Häufung zeigen."
Das spricht gegen Ursachen wie ein neu eingeführtes Medikament oder ein neuartiges Pestizid. In Frankreich wurden die Familien nach allem befragt, was während der Anlage der Gliedmaßen in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft geschehen war. Medikamente, Aufenthalte auf Bauernhöfen, Ernährung.
Die Untersuchung sei sehr gründlich gewesen, sagt Anke Rissmann: "In diesem Bericht wird zusammengefasst, dass sie insgesamt nicht zu dem Hinweis gekommen sind, dass es eine gemeinsame Ursache dieser untersuchten Fälle gab."
Keine gemeinsamen Ursachen identifiziert
Generell gibt es eine Reihe denkbarer Ursachen für Fehlbildungen von Armen und Beinen bei Neugeborenen: Bestimmte Vorerkrankungen der Mutter, Strahlung, Bänder des Mutterkuchens, die sich um den Arm wickeln und ihn abschnüren. Das wissenschaftliche Komitee in Frankreich betont, dass es theoretisch eine Vielzahl weiterer Ursachen geben kann. Das zeigt die Auswertung von 20.000 wissenschaftlichen Artikeln. Bei drei Fällen wird es aber statistisch sehr schwer, hier jede Hypothese verlässlich zu klären.
Das gilt ähnlich auch für Gelsenkirchen. Dort wurden 2019 in einer Klinik drei Kinder mit einem fehlerhaften Handteller geboren, seitdem keine weiteren. Das Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen schreibt dazu in einer schriftlichen Stellungnahme:
"Die Perinatalstatistik wurde für das gesamte Jahr 2019 ausgewertet. Für die Fälle in Gelsenkirchen konnten keine gemeinsamen Merkmale oder möglichen Ursachen identifiziert werden."
Viel mehr Daten könnten vielleicht Klarheit bringen
Die Wissenschaft kommt hier an ihre Grenzen. Letztlich heißt es bei 50 bis 60 Prozent dieser Fälle: Ursache unbekannt, Schicksal. Für die Familien schwer hinzunehmen. Zusätzliche Klarheit könnten hier vielleicht mehr Daten bringen, viel mehr Daten. Nach der Geburt wird zwar die Gesundheit der Neugeborenen dokumentiert, doch für die Ursachenforschung ist eine umfangreiche Untersuchung jedes einzelnen Falls und eine Vergleichsbasis Voraussetzung.
In Deutschland geschieht das nur in Sachsen-Anhalt und in Mainz. Anke Rissmann würde sich bundesweite Studien wünschen: "Wir evaluieren auch die Versorgung, den Bedarf an zusätzlicher Betreuung, all diese Sachen. Und ich denke, dass da auch die betroffenen Familien, die ja vor ganz besonderen Herausforderungen stehen, dann davon profitieren, wenn wir unsere Arbeit gut machen."